Rebecca Daphne Du Maurier Das Buch Maxim de Winter lernt in Monte Carlo nach dem Tod seiner Frau Rebecca ein bescheidenes junges Mädchen von natürlichem Charme kennen. Die beiden heiraten, und sieben Wochen später trifft die neue Mrs. de Winter an der Seite ihres Mannes auf Manderley, dem alten englischen Herrensitz, ein. Die Größe des Anwesens, die Zimmerfluchten, die Förmlichkeit der Dienstboten verwirren sie. Alles in diesem Haus trägt noch den Stempel Rebeccas, ihrer Vorgängerin, die -wie es scheint - in einer nahe gelegenen Bucht an der Küste bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen ist. Während Maxim den Erinnerungen an seine erste Frau aus dem Wege geht und ihre früheren Räume verschlossen hält, treibt Mrs. Danver, die Haushälterin, geradezu einen Kult mit diesen Erinnerungen und begegnet der neuen Herrin mit kaum verhohlener Verachtung. Aus einigen Gesprächen, flüchtigen Eindrücken und merkwürdigen Begegnungen formt sich in der jungen Mrs. de Winter allmählich das Bild Rebeccas: schön, eigenwillig und intelligent. Von den Schattenseiten Rebeccas, die eine blutige Tragödie heraufbeschworen haben, erfährt sie erst, als ihre Ehe mit Maxim einer kaum erträglichen Belastungsprobe unterworfen wird. Mit höhnischer Wut scheint die Rache der Toten das Glück der Lebenden zerstören zu wollen, gespenstisch entsteigt die Wahrheit den sturmgepeitschten Fluten der Bucht vor Manderley, bis schließlich das stolze Herrenhaus nichts anderes mehr ist als ein verblassendes Traumbild im Leben zweier geprüfter, aber geretteter Menschen. Die Autorin Daphne Du Maurier wurde 1907 in London geboren. Nach dem Besuch einiger Privatschulen in Paris begann sie zu schreiben und schaffte mit «Rebecca», ihrem wohl bekanntesten Buch - 1940 von Alfred Hitchcock verfilmt - den Durchbruch zur anerkannten Autorin anspruchsvoller Unterhaltungsliteratur. Daphne Du Maurier starb 1989 in Cornwall und zählt bis heute zu den großen Roman-Schriftstellerinnen der Nachkriegszeit. Englischer Charme, Sinn für spannungsreiche Handlung und geschickte Charakterzeichnung machen den Reiz ihrer Romane aus. Weitere Werke von Daphne Du Maurier: Plötzlich an jenem Abend, Meine Cousine Rachel, Nächstes Jahr um diese Zeit, Gasthaus Ja-maica, Die Bucht des Franzosen, Die Vögel. Titel des Originals: «Rebecca» erschienen bei Gollancz, London Einzig berechtigte Übersetzung aus dem Englischen von Karin von Schab Neubearbeitete Ausgabe 1993 Ungekürzte Buchgemeinschafts-Lizenzausgabe der Bertelsmann Club GmbH, Gütersloh der Buchgemeinschaft Donauland Kremayr & Scheriau, Wien des Deutschen Bücherbundes, Stuttgart und der angeschlossenen Buchgemeinschaften Copyright © 1940 by Daphne Du Maurier 1 Gestern Nacht träumte ich, ich sei wieder in Manderley. Ich sah mich am eisernen Tor der Einfahrt stehen, und ich konnte zuerst nicht hineingelangen, denn der Weg war mir versperrt. Schloß und Kette hingen am Tor. Ich rief im Traum nach dem Pförtner und erhielt keine Antwort, und als ich dann durch die rostigen Gitterstäbe spähte, sah ich, daß das Pförtnerhäuschen unbewohnt war. Kein Rauch stieg aus dem Kamin, und die kleinen But-zenfenster starrten verlassen. Dann aber besaß ich plötzlich wie alle Träumer übernatürliche Kräfte, und wie ein körperloses Wesen durchschritt ich das Hindernis. Vor mir wand sich die Auffahrt, wand und schlängelte sich wie von altersher, aber als ich weiterging, merkte ich, daß sich etwas verändert hatte; der Weg war nicht mehr der, den wir gekannt hatten; er war schmal und ungepflegt. Zunächst verwirrte mich das, und ich verstand es nicht. Und erst als ich mit dem Kopf einem tief herabschwingenden Ast ausweichen mußte, wurde mir klar, was geschehen war. Die Natur war wieder zu ihrem Recht gekommen; ohne Hast, in ihrer leisen, heimlichen Art hatte sie nach und nach mit langen klammernden Fingern auf den Weg übergegriffen. Der Wald, der auch früher schon eine drohende Gefahr gewesen war, hatte schließlich doch den Sieg behalten. Regellos, in finsterer Dichte drangen seine Bäume immer näher zur Weggrenze vor. Buchen neigten ihre grauweißen nackten Stämme gegeneinander, ihre Zweige in seltsamer Umarmung verschlungen, und bauten ein Gewölbe über meinem Haupt wie der Bogengang einer Kirche. Die Anfahrt war ein schmales Band, ein dünner Faden im Vergleich zu früher, der Kiesbelag verschwunden, unter Gras und Moos erstickt. Die Bäume streckten niedrige Zweige aus, die den Schritt hemmten; ihre knotigen Wurzeln ragten wie Totenkrallen hervor. Hier und dort erkannte ich in diesem Urwald Büsche: Hortensien, deren blaue Köpfe eine Berühmtheit gewesen waren. Keine Hand hatte sie beschnitten, sie waren verwildert und ragten jetzt blütenlos zu Riesengröße empor, schwarz, häßlich wie das namenlose Unkraut neben ihnen. Weiter, immer weiter, bald nach Osten, bald nach Westen, wand sich der kümmerliche Pfad, der einst unsere Auffahrt gewesen war. Manchmal dachte ich, jetzt sei er ganz verschwunden, aber er tauchte wieder auf, hinter einem gestürzten Baum vielleicht oder mühsam den Rand eines morastigen Grabens erkletternd, den die Winterregen ausgewaschen hatten. Ich hatte nicht gedacht, daß der Weg so lang sei. Die Meilen mußten sich vervielfacht haben, genau wie die Bäume es getan hatten, und dieser Pfad führte zu einem Labyrinth, in eine erstickte Wildnis, aber nicht zum Haus. Ich stand plötzlich davor; das hemmungslos nach allen Seiten wachsende Dickicht hatte die Sicht versperrt, und ich stand da, das Herz pochte mir in der Brust, und ich fühlte den Schmerz aufquellender Tränen in meinen Augen. Da war Manderley, unser Manderley, schweigend, verschwiegen, wie es immer gewesen war; das graue Gestein schimmerte im Schein meines Traummondes, die hohen zweiteiligen Fenster spiegelten das Rasengrün, die Terrasse wider. Die Zeit konnte das vollkommene Ebenmaß jener Mauern nicht zerstören und nicht die Harmonie der Lage - ein Kleinod in einer offenen Hand. Die Terrasse fiel zu den Rasenflächen ab, und die Rasenflächen zogen sich zum Meer hin, und als ich mich umwandte, erkannte ich die silbrige Weite, gelassen unter dem Mond wie ein See, den Wind und Sturm nicht berühren. Keine Wellen würden dieses Traummeer je beunruhigen, keine Wolkenwand vom Westen vermochte die Klarheit dieses blassen Himmels zu verfinstern. Ich wandte mich wieder zum Haus, und mochte es selbst auch unversehrt, unangetastet stehen, als hätten wir es gestern verlassen, ich sah, daß auch der Garten dem Gesetz des Urwalds gehorsam gewesen war. Von Dornensträuchern durchwachsen und verwirrt, ragten die Rhododendronbüsche hoch und hielten unnatürliche Hochzeit mit der Masse namenlosen Gestrüpps, das sich um ihre Wurzeln klammerte. Ein Fliederbaum hatte sich mit einer Blutbuche vereint, und um sie noch enger aneinander zu fesseln, hatte der boshafte Efeu, von jeher ein Feind der Anmut, seine Fangarme um das Paar geschlungen, um es nie wieder freizugeben. Der Efeu beherrschte diesen verlorenen Garten; die langen Ranken krochen über den Rasen vor, und bald würden sie auch vom Haus Besitz ergreifen. Nesseln wuchsen überall, der Vortrupp der feindlichen Scharen. Sie überschwemmten die Terrasse, sie lümmelten sich auf den Wegen herum, gemein und ohne Haltung lehnten sie sich sogar gegen die Fenster des Hauses. Sie taugten aber nicht viel zum Wachtdienst, denn an vielen Stellen durchbrach die Rhabarberstaude bereits ihre Reihen, und mit zertretenen Köpfen und kraftlosen Stengeln lagen sie am Boden, wo Kaninchen sich einen Pfad gebahnt hatten. Ich verließ die Anfahrt und stieg auf die Terrasse; mir boten die Nesseln in meinem Traum kein Hindernis, ich schritt verzaubert, und nichts hielt mich auf. Das Mondlicht kann der Einbildung merkwürdige Streiche spielen, auch der Einbildung eines Träumers. Wie ich da still, mit verhaltenem Atem stand, hätte ich schwören können, das Haus sei nicht bloß eine leere Schale, sondern belebt und beseelt, wie es früher gelebt hatte. Die Fenster waren hell erleuchtet, die Vorhänge bauschten sich leise im Nachtwind, und dort, in der Bibliothek, stand gewiß noch die Tür halb offen, die wir zu schließen vergessen hatten, und mein Taschentuch lag auf dem Tisch neben der Vase mit den Herbstrosen. Alles in dem Zimmer mußte noch beredt von unserer Anwesenheit sprechen: der kleine Bücherstoß aus der Bibliothek, als gelesen abgezeichnet, um wieder zurückgestellt zu werden; und die alten Nummern der Times; Aschenbecher mit zerdrückten Zigarettenstummeln; die zerknüllten Kissen in den Stühlen, die noch den Abdruck unserer Köpfe trugen; die verkohlte Glut unseres Holzfeuers, die schwelend den Morgen erwartete; und Jasper, unser lieber Jasper, mit seinen ausdrucksvollen Augen und seinen schweren hängenden Lefzen, lag bestimmt noch vor dem Kamin ausgestreckt und würde mit dem Schwanz auf den Boden trommeln wie stets, wenn er die Schritte seines Herrn vernahm. Eine Wolke war ungesehen heraufgekommen und bedeckte den Mond für einen Augenblick. Mit ihm verlöschten die Fenster; das Traumbild war verflogen, und um die starrenden Mauern raunte nicht länger die Stimme der Vergangenheit. Das Haus war ein Grabmal unserer Hoffnungen, und unsere Leiden lagen in den Ruinen begraben. Es gab keine Wiederauferstehung. Wenn ich bei Tag an Manderley dächte, würden die Gedanken nicht bitter sein. Ich würde so daran zurückdenken, wie es hätte sein können, wäre ich ohne Furcht dort gewesen. Ich würde mich an den sommerlichen Rosengarten erinnern, an den Vogelsang in der Morgenfrühe; wie wir den Tee unter dem Kastanienbaum tranken und das Flüstern der See von unten über die Rasenflächen zu uns heraufdrang. Ich würde mich an den blühenden Flieder erinnern und an unser glückliches Tal. Diese Dinge waren dauernd, sie konnten nicht vergehen; diese Erinnerungen taten nicht weh. Alles klärte sich in mir auf, während die Wolke das Gesicht des Mondes verhüllte, denn wie die meisten Schläfer wußte ich, daß ich träumte. In Wirklichkeit lag ich viele hundert Meilen weit weg in einem fremden Land, und in Kürze würde ich in dem kleinen kahlen Hotelzimmer erwachen, das gerade durch seine Nüchternheit so beruhigend wirkte. Ich würde aufseufzen, mich strecken und auf die Seite drehen; und beim Öffnen der Augen würde mich die blendende Sonne verwirren, dieser harte hohe Himmel, dem sanften Mondschein meines Traums so gar nicht ähnlich. Der Tag würde vor uns beiden liegen, lang ohne Zweifel und ereignislos, aber von einer Stille, einer vollkommenen Ruhe erfüllt, die wir früher nicht gekannt hatten. Wir würden nicht von Manderley sprechen; ich würde meinen Traum für mich behalten. Denn Manderley war nicht mehr unser. Manderley bestand nicht mehr. 2 Wir können nie wieder zurück, das steht fest. Die Vergangenheit ist uns noch zu nah. Alles, was wir zu vergessen versuchten und hinter uns lassen wollten, würde wieder aufgerührt, und jenes Gefühl von Furcht, von heimlicher Unruhe, das schließlich in blinde, unsinnige Panik ausartete - und sich nun Gott sei Dank gelegt hat -, könnte auf unvorhergesehene Weise zum ständigen Begleiter unseres Lebens werden, wie es das fast schon einmal geworden war. Er ist bewundernswert geduldig und beklagt sich nie, selbst dann nicht, wenn die Erinnerungen ihn heimsuchen ... was, glaube ich, viel öfter geschieht, als er mich wissen lassen möchte. Ich merke es sofort daran, wie abwesend und wie verwirrt er plötzlich aussieht; jeder Ausdruck schwindet aus seinem geliebten Gesicht, als ob eine unsichtbare Hand ihn fortwische, und statt dessen formt sich eine Maske, ein steinernes Antlitz, starr und kalt, immer noch schön, aber leblos. Er raucht dann eine Zigarette nach der anderen, ohne daran zu denken, sie auszudrücken, und die glühenden Stummel liegen auf dem Boden wie rosig schimmernde Blütenblättchen. Hastig und eifrig spricht er über die belanglosesten Dinge, greift nach jedem beliebigen Thema wie nach einem schmerzlindernden Mittel. Ich glaube, es gibt eine Theorie, daß Männer und Frauen geläutert und gekräftigt aus Leid hervorgehen und daß wir, um in dieser oder einer anderen Welt voranzukommen, durchs Feuer gehen müssen. Das haben wir getan, und kein Schritt ist uns geschenkt worden, so widersinnig es auch klingen mag. Wir haben beide die Furcht und die Einsamkeit gekannt und die tiefste Verzweiflung. Ich vermute, daß im Leben jedes Menschen früher oder später ein Augenblick der Prüfung kommt. Wir alle haben unseren besonderen Teufel, von dem wir geritten werden und der uns quält, und müssen uns eines Tages zum Kampf stellen. Wir haben den unseren besiegt, oder jedenfalls bilden wir uns das ein. Wir werden nicht mehr vom Teufel geritten. Wir haben unsere Krise überwunden, natürlich nicht unversehrt. Seine Vorahnung kommenden Unheils bestand von Anfang an zu Recht; und wie eine pathetische Schauspielerin in einem mittelmäßigen Stück konnte ich sagen, daß wir für unsere Freiheit gezahlt haben. Aber mein Leben war reich genug an Melodrama, und ich würde bereitwillig meine fünf Sinne hergeben, wenn ich uns dafür die Fortdauer unseres gegenwärtigen Friedens und unserer Geborgenheit sichern könnte. Glück ist kein Besitz, der seinen Preis hat, es ist eine geistige Eigenschaft, ein Gemütszustand. Gewiß, wir haben unsere Augenblicke der Niedergeschlagenheit; aber es gibt auch andere Augenblicke, in denen die Zeit nicht von der Uhr gemessen wird, sondern in die Ewigkeit führt, und ich sehe ihn lächeln und weiß, wir gehören zusammen und sind uns einig; in unseren Gedanken und Meinungen gibt es keinen Gegensatz, der eine Schranke zwischen uns aufrichten könnte. Wir haben keine Geheimnisse mehr voreinander; wir erleben alles gemeinsam. Zugegeben, unser kleines Hotel ist langweilig und das Essen fade, und jeder neue Tag, der heraufdämmert, unterscheidet sich kaum vom vergangenen, und doch möchten wir es gar nicht anders haben. In einem der großen Hotels würden wir zu viele Bekannte von ihm treffen. Wir wissen beide die Einfachheit zu schätzen, und wenn wir uns auch manchmal langweilen - nun, Langeweile ist ein gutes Mittel gegen Furcht. Wir leben mehr oder weniger nach einem festen Tagesprogramm, und ich - ich habe im Vorlesen geradezu ein Talent entwickelt. Ich habe ihn nur ungeduldig werden sehen, wenn der Briefträger einmal ausblieb, denn dann mußten wir bis zum nächsten Tag auf unsere Post aus England warten. Wir haben es mit dem Radio versucht, aber der Lärm ist so aufreizend, und wir ziehen es vor, unsere Spannung auf eine Geduldsprobe zu stellen; das Ergebnis eines Kricketspiels, das bereits vor mehreren Tagen stattfand, bedeutet uns sehr viel. Wie viele Länderspiele, Boxkämpfe und sogar Billardmeisterschaften haben uns schon vor Langeweile bewahrt! Die Schlußkämpfe im Schulsport, Hunderennen und die merkwürdigen Wettbewerbe abgelegener Provinzstädtchen - sie alle sind Wasser auf unsere Mühle. Zuweilen geraten mir alte Exemplare einer Jagd- und Pferdesportzeitschrift in die Hände, und ich fühle mich von dieser gleichgültigen kleinen Insel in die Wirklichkeit des englischen Frühlings versetzt. Ich lese von fischreichen Gewässern, von Köderfliegen, von jungen Rotfüchsen auf grünen Wiesen, von Krähen, die über den Wäldern kreisen, wie sie es in Manderley zu tun pflegten. Aus den zerlesenen und abgegriffenen Seiten steigt der Duft feuchter Erde zu mir auf, der säuerliche Geruch des Torfmoors und der Dunst des nassen Mooses, auf dem hier und dort die weißen Flecken von Reiherschmutz aufleuchten. Einmal geriet ich an einen Artikel über Waldtauben, und als ich ihn vorlas, kam es mir vor, als sei ich wieder in den tiefen Wäldern von Manderley, und die Tauben flatterten über meinen Kopf hinweg. Ich hörte ihr sanftes behagliches Gurren, und nichts vermochte ihren Frieden zu stö-ren, bis Jasper auf der Suche nach mir durch das Unterholz gelaufen kam, mit seiner feuchten Nase auf dem Boden schnüffelnd. Dann flatterten die Tauben erschreckt aus ihrem Versteck auf, und mit wildem, heftigem Flügelschlag flogen sie von uns weg, hoch über die Baumwipfel, außer Seh- und Hörweite. Als sie fort waren, senkte sich neues Schweigen über den Platz, und ich - unruhig, ohne zu wissen, warum - stellte nun fest, daß die Sonne nicht mehr auf den rauschenden Blättern lag, daß die Zweige dunkler und die Schatten länger geworden waren; und zu Hause gab es frische Himbeeren zum Tee. Da erhob ich mich von meinem Farnkrautlager, schüttelte den leichten Staub des vorjährigen Laubes von meinem Rock, pfiff Jasper und machte mich auf den Weg nach Hause; und während ich ausschritt, verachtete ich mich wegen meiner eiligen Gangart und dem hastigen Blick zurück. Merkwürdig, daß ein Artikel über Waldtauben die Vergangenheit so lebhaft wachrufen und mich zum Stottern bringen konnte, als ich vorlas. Es war der verlorene graue Ausdruck in seinem Gesicht, der mich unvermittelt abbrechen und die Seiten umwenden ließ, bis ich einen Bericht über ein Kricketspiel fand, sehr sachlich und nüchtern -Middlesex war am Schlag und sammelte unendlich langweilige Läufe. Wie dankbar ich jenen sturen weißen Spielern war, denn innerhalb von wenigen Minuten hatte sein Gesicht wieder ein ruhiges Aussehen gewonnen, die Farbe war zurückgekehrt, und in gesundem Ärger verspottete er die Werfer von Surrey. Der Rückzug in die Vergangenheit war uns erspart geblieben, und ich hatte wieder etwas gelernt; ja, lies nur die Nachrichten aus England vor, Sport, Politik und das ganze gesellschaftliche Getue, aber behalte in Zukunft die Dinge, die weh tun könnten, für dich! Ich kann ihnen ja heimlich frönen. Farben, Düfte und Geräusche, der Regen und der Anprall des Wassers, sogar die Herbstnebel und der Geruch des Seewindes, der die Flut anzeigt - das alles sind Erinnerungen an Manderley, die sich nicht verleugnen lassen. Manche Menschen haben die Angewohnheit, im Kursbuch zu lesen. Sie denken sich unzählige Reisen aus, kreuz und quer durchs Land, einzig um des Vergnügens willen, die unmöglichsten Zugverbindungen herzustellen. Mein Steckenpferd ist weniger ermüdend, wenn auch vielleicht ebenso sonderbar. Ich bin eine unerschöpfliche Informationsquelle über das englische Landleben. Ich kenne die Namen aller Besitzer sämtlicher britischer Hochmoore, jawohl, und auch die ihrer Pächter. Ich weiß, wie viele Schnee- und wie viele Rebhühner erlegt werden, wieviel Wild zur Strecke gebracht wird. Ich weiß, wo Forellen auf Fliegen gehen und wo der Lachs springt. Ich bin bei jedem Stelldichein zur Fuchsjagd und folge jeder Hatz. Selbst die Namen der Züchter von Jagdhunden sind mir vertraut. Der Stand des Getreides, der Preis von Schlachtvieh, die rätselhaften Krankheiten der Schweine - ich interessiere mich für alles. Ein kümmerlicher Zeitvertreib vielleicht und nicht gerade ein sehr kluger, aber ich atme die Luft Englands, während ich davon lese, und kann diesen glänzenden Himmel hier mit größerer Gelassenheit betrachten. Die struppigen Weingärten und die bröckligen Steine werden zu unwesentlichen Dingen, denn wenn ich will, kann ich meiner Einbildungskraft die Zügel schießen lassen und gelben Fingerhut und die zarten Pechnelken von einem feuchten Wiesenrain pflücken. Armselige Spielereien der Phantasie, tröstend und lindernd! Sie sind der Feind von Bitterkeit und Heimweh und versüßen dieses Exil, zu dem wir uns selbst verurteilt haben. Ihnen verdanke ich es, daß ich meine Nachmittage genießen kann und erfrischt und lächelnd ins Hotel zurückkehre, um die kleine Zeremonie unseres Nachmittags-Tees über mich ergehen zu lassen. Das Gedeck ändert sich nie. Zwei Scheiben Brot mit Butter für jeden und chinesischer Tee. Wir müssen schon recht stumpfsinnig wirken, so an einer Sitte festzuhalten, nur weil wir es von England her gewöhnt sind. Hier, auf diesem schmucklosen Balkon, weiß und unpersönlich in der ewigen Sonne, denke ich an die Teestunde um halb fünf in Manderley, wenn der Tisch vor den Kamin in der Bibliothek gerückt wurde. Pünktlich auf die Minute öffnete sich die Tür, und das sich stets gleichbleibende Schauspiel des Tischdeckens begann mit Silbertablett, Wasserkessel und weißem Leinentuch, während Jasper mit seinen hängenden Spanielohren dem Kuchen gegenüber Gleichgültigkeit heuchelte. Dieses reich bestellte Tischleindeckdich wurde immer wieder vor uns ausgebreitet, und doch aßen wir so wenig. Das buttertriefende Gebäck - ich sehe es noch genau vor mir. Kleine knusprige, dreieckige Toastscheibchen und ofenheiße, hauchdünne Plätzchen. Sandwiches mit dem verschiedenartigsten Belag, schmackhaft und wirklich köstlich, und der ganz besonders gute Honigkuchen. Sandtorte, die im Mund zerging, und ihr so viel schwererer Begleiter, der von Rosinen und Zitronat nur so strotzte. Es war genug zum Essen da, um eine hungernde Familie eine Woche lang am Leben zu halten. Ich habe nie erfahren, was mit all dem Überfluß geschah, und habe mir über diese Verschwendung manchmal Gedanken gemacht. Aber ich wagte Mrs. Danvers nicht zu fragen, was sie eigentlich damit anfing. Sie hätte mich nur geringschätzig angesehen und ihr überlegenes, eiskaltes Lächeln gelächelt, und ich kann mir vorstellen, wie sie mir geantwortet hätte: «Als Mrs. de Winter noch lebte, hat es niemals irgendwelche Klagen gegeben.» Mrs. Danvers - ich möchte wohl wissen, was sie jetzt tut. Sie und Favell. Ich glaube, es war der Ausdruck in ihrem Gesicht, der zum erstenmal ein Gefühl von Unbehagen in mir erzeugte. Instinktiv dachte ich: «Sie vergleicht mich mit Rebecca»; und scharf wie ein Schwert fiel der Schatten zwischen uns ... Nun, jetzt ist es überstanden, erledigt und abgetan. Ich leide keine Folterqualen mehr, und beide sind wir jetzt frei. Selbst mein treuer Jasper hat Einlaß in die glücklichen Jagdgründe gefunden, und Manderley lebt nicht mehr. Wie eine leere Schale liegt es mitten in dem Waldesdickicht, genauso, wie ich es in meinem Traum gesehen habe. Eine Heimstätte für das Unkraut, eine Zuflucht für die Vögel. Bisweilen kommt vielleicht ein Landstreicher dort vorüber, um Schutz vor einem plötzlichen Regenschauer zu suchen, und wenn er beherzt ist, mag er auch ungestraft in diese Wildnis eindringen. Ein furchtsamer Bursche aber, etwa ein lichtscheuer Wilddieb - der hält sich dem Wald von Manderley besser fern. Er könnte das Sommerhäuschen in der Bucht entdecken, und er würde sich unter dem eingesunkenen Dach nicht wohl fühlen bei dem unablässigen Getrommel des leichten Regens. Es könnte immer noch ein Hauch von dem alten Leid darüber liegen . Auch jene Biegung des Anfahrtswegs, wo die Bäume sich nun auf dem Kies breitmachen, ist kein Aufenthaltsort, jedenfalls nicht nach Sonnenuntergang. Wenn die Blätter rauschen, klingt das so ähnlich wie die leisen Bewegungen einer Frau im Abendkleid, und wenn sie plötzlich erzittern und abfallen und den Boden entlang fortgeweht werden, könnte man es für das Tapp-Tapp hastiger weiblicher Schritte halten und die Blattspur auf dem Kies für den Abdruck eines hochhackigen Seidenschuhes. Wenn derartige Erinnerungen mich überkommen wollen, dann wende ich mich erleichtert der Aussicht von unserem Balkon zu. Diesen harten Glanz trüben keine Schatten; die steinigen Weingärten funkeln in der Sonne, und die Glyzinien sind weiß vor Staub. Eines Tages werde ich das alles vielleicht mit Wohlgefallen betrachten. Im Augenblick flößt es mir - wenn auch keine Liebe - so doch wenigstens Selbstvertrauen ein. Und Selbstvertrauen ist eine Eigenschaft, die ich sehr schätze, obwohl ich sie erst ziemlich spät im Leben erworben habe. Ich glaube, es ist seine Abhängigkeit von mir, die mich endlich mutig gemacht hat. Jedenfalls habe ich meine Unsicherheit, meine Schüchternheit und meine Scheu Fremden gegenüber verloren. Ich unterscheide mich sehr von jenem Ich, das zum erstenmal nach Manderley fuhr, eifrig und hoffnungsfroh, gehemmt durch sein verzweifelt linkisches Wesen und von dem glühenden Wunsch erfüllt, zu gefallen. Natürlich war es mein Mangel an Haltung, der auf Leute wie Mrs. Danvers einen so unvorteilhaften Eindruck machte. Wie muß ich wohl nach Rebecca gewirkt haben? Ich kann mich heute noch deutlich sehen: mit straffem, kurz geschnittenem Haar und dem jungen Gesicht ohne Make-up, mit einem schlecht sitzenden Mantel und selbst verfertigten Rock und Pullover bekleidet, zockelte ich hinter Mrs. Van Hopper her. Wie stets ging sie mir voraus zum Mittagessen, mit ihrem gedrungenen Körper unsicher auf den allzu hohen Absätzen schwankend, in einer kokett be-rüschten Bluse, deren Jugendlichkeit ihrem üppigen Busen und wackelnden Hintergestell schmeicheln sollte, ihren von einer riesigen Feder durchbohrten neuen Hut schief auf dem Kopf, so daß die breite Fläche ihrer Stirn nackt wie das Knie eines Schuljungen hervorleuchtete. Die eine Hand trug eine ungeheuer große Tasche, in der Reisepässe, Notizbücher und Bridgeblocks Platz fanden, und die andere spielte mit dem unvermeidlichen Lorgnon. So schritt sie auf ihren gewohnten Tisch neben dem Fenster in der Ecke des Speisesaals zu und musterte, das Lorgnon vor ihre Schweinsäuglein hebend, rechts und links den Schauplatz, um schließlich auszurufen: «Nicht eine einzige bekannte Persönlichkeit; ich werde der Direktion sagen, daß sie meine Rechnung heruntersetzen müssen. Was glauben die denn, weshalb ich herkomme? Um mir die Hotelpagen anzusehen?» Und dann rief sie den Kellner mit einer Stimme, so scharf und abgehackt, daß sie die Luft wie eine Säge durchschnitt. Wie sehr unterscheidet sich doch das kleine Restaurant, in dem wir jetzt zu essen pflegen, von dem geräumigen, prunkvoll eingerichteten und festlich geschmückten Speisesaal des Hotels Cöte d'Azur in Monte Carlo; und wie anders ist mein gegenwärtiger Gefährte, der mit seinen sicheren, schön geformten Händen so methodisch und ruhig eine Mandarine schält und dann und wann von dieser Beschäftigung aufsieht, um mir zuzulächeln; wie anders im Vergleich zu Mrs. Van Hopper, die mit ihren dicken, beringten Händen nach einer gehäuften Schüssel Ravioli griff, während ihr Blick mißtrauisch von ihrem Teller zu meinem wanderte aus lauter Besorgnis, ich könnte die bessere Wahl getroffen haben. Das hätte sie nicht zu beunruhigen brauchen, denn der Kellner hatte mit der unheimlichen Schnelligkeit der Leute seines Berufes bereits seit langem meine untergeordnete Stellung erkannt und mir eine Platte mit Schinken und Zunge vorgesetzt, die irgend jemand vor einer halben Stunde zum Büffet zurückgeschickt hatte, weil das Fleisch schlecht geschnitten war. Sonderbar, diese Mißgunst von Bediensteten und ihre offensichtliche Ungeduld! Ich entsann mich, wie ich einmal mit Mrs. Van Hopper in einem Landhaus zu Gast war und wie das Stubenmädchen dort niemals mein zaghaftes Klingeln beachtete, mir nie meine Schuhe heraufbrachte und den morgendlichen Tee einfach vor meine Zimmertür stellte. Im Cöte d'Azur war es dasselbe, wenn auch nicht ganz so arg, und manchmal verwandelte sich die vorsätzliche Gleichgültigkeit in plumpe Vertraulichkeit, was mir beispielsweise den Einkauf von Briefmarken beim Portier zu einer Strafe machte, der ich mich entzog. Wie jung und unerfahren muß ich damals gewirkt haben, und wie sehr fühlte ich mich auch so! Ich war zu zart besaitet, zu unreif; so viele Worte empfand ich als Dornen und Nadelstiche, die in Wirklichkeit nur leichthin geäußert worden waren. Ich erinnere mich jener Platte mit Schinken und Zunge noch genau. Sie sahen so trocken und unappetitlich aus, diese unförmigen Stücke vom Anschnitt und vom Rest, aber ich hatte nicht den Mut, sie zurückzuweisen. Wir aßen schweigend, denn Mrs. Van Hopper liebte es, sich ganz aufs Essen zu konzentrieren, und die Art und Weise, wie ihr Sauce über das Kinn lief, verriet mir, daß die Ravioli ausgezeichnet schmeckten. Dieser Anblick war nicht geeignet, mir großen Appetit auf meine kalte Platte zu machen, und als ich fortsah, bemerkte ich, daß der Tisch neben uns, an dem drei Tage lang niemand gesessen hatte, wieder besetzt werden sollte. Der Empfangschef führte den Neuankömmling mit den besonders tiefen Verbeugungen, die er nur angeseheneren Gästen zukommen ließ, zu seinem Platz. Mrs. Van Hopper legte ihre Gabel hin und griff nach dem Lorgnon. Ich errötete für sie, während sie so starrte, aber der Fremde warf, ohne zu ahnen, welches Interesse er erregt hatte, einen prüfenden Blick auf die Speisekarte. Dann klappte Mrs. Van Hopper ihr Lorgnon mit einem Knips zusammen und beugte sich über den Tisch zu mir; ihre kleinen Augen leuchteten vor Erregung, und ihre Stimme war eine Nuance zu laut. «Das ist Max de Winter», sagte sie, «der Besitzer von Manderley. Sie haben doch gewiß davon gehört. Er sieht elend aus, finden Sie nicht? Man erzählt sich, daß er über den Tod seiner Frau nicht hinwegkommen kann .» 3 Ich möchte wohl wissen, wie mein Leben heute aussehen würde, wäre Mrs. Van Hopper nicht so ein Snob gewesen. Komisch, daß meine Zukunft von dieser Eigenschaft abhängen sollte. Ihre Neugier war eine Krankheit, fast eine Manie. Anfangs war ich entsetzt und peinlich berührt; ich fühlte mich wie ein Prügelknabe, der die Leiden seines Herrn auf sich nehmen muß, als ich beobachtete, wie die Leute hinter ihrem Rücken lachten, schleunigst das Zimmer verließen, wenn sie es betrat, oder gar oben im Korridor hinter der Tür, die zu der Treppe für das Personal führte, verschwanden. Seit vielen Jahren kam sie nun schon in das Hotel Cöte d'Azur, und abgesehen vom Bridge bestand ihr hauptsächlichster Zeitvertreib, für den sie in Monte Carlo bereits berüchtigt war, darin, vornehme Reisende als ihre Freunde auszugeben, selbst wenn sie sie nur einmal von weitem in der Post gesehen hatte. Irgendwie brachte sie es fertig, sich bekannt zu machen, und bevor ihr Opfer noch die Gefahr witterte, hatte sie es bereits mit einer Einladung in ihr Appartement überfallen. Ihre Angriffsmethode war so unverfroren und plötzlich, daß sich den Betroffenen nur selten eine Gelegenheit bot, die Flucht zu ergreifen. Im Cöte d'Azur belegte sie ein gewisses Sofa im Gesellschaftszimmer, das sich zwischen der Empfangshalle und dem Durchgang zum Speisesaal befand, mit Beschlag und trank dort regelmäßig nach den Mahlzeiten mittags und abends ihren Kaffee. Jeder, der von dem einen Raum in den anderen ging, mußte an ihr vorbei. Bisweilen benutzte sie mich als Köder für ihre Beute, und widerwillig und unglücklich mußte ich quer durch das Zimmer gehen mit dem mündlichen Auftrag, ein Buch oder eine Zeitung zu entleihen, die Adresse irgendeines Ladens zu erfragen oder Grüße von einem soeben entdeckten gemeinsamen Freund auszurichten. Es schien, daß sie zu ihrem Wohlbefinden Berühmtheiten benötigte, wie Kranke ihre Süppchen, die man ihnen einlöffelt; und obwohl Titel von ihr bevorzugt wurden, tat jedes Gesicht, das sie einmal in einer mondänen Zeitschrift abgebildet gesehen hatte, denselben Dienst. Und ebenso Namen, denen man in der Skandalecke begegnet: Schriftsteller, Schauspieler und Künstler aller Art, selbst zweitrangige, wenn sie ihre Namen nur gedruckt gelesen hatte. Ich sehe sie noch genau vor mir, als ob es erst gestern gewesen wäre, wie sie an jenem unvergeßlichen Nachmittag - wie viele Jahre das jetzt her ist, tut ja nichts zur Sache - auf ihrem Lieblingssofa im Gesellschaftszimmer saß und sich einen neuen Angriffsplan zurechtlegte. Ihren nervösen, hastigen Bewegungen und der Art, wie sie mit dem Lorgnon gegen ihre Zähne klopfte, konnte ich entnehmen, daß sie verschiedene Möglichkeiten erwog. Und als sie nichts von der Süßspeise nahm und Käse und Obst überstürzt hinunterschlang, wußte ich, daß sie die Mahlzeit vor dem Neuankömmling beenden wollte, um sich rechtzeitig auf ihrem Sofa einzurichten, an dem er ja vorübergehen mußte. Plötzlich wandte sie sich mit einem Funkeln in ihren kleinen Augen mir zu. «Laufen Sie rasch nach oben und holen Sie mir den Brief von meinem Neffen. Sie wissen schon: den er von seiner Hochzeitsreise schrieb, mit dem Foto. Bringen Sie ihn mir sofort herunter.» Ich ersah daraus, daß sie ihre Strategie fertig ausgearbeitet hatte und daß der Neffe zur Vermittlung der Bekanntschaft herhalten sollte. Nicht zum erstenmal widerstrebte mir die Rolle, die ich bei der Farce, die sie in Szene setzte, spielen mußte. Wie die Gehilfin eines Jongleurs hatte ich die Requisiten zuzureichen und dann schweigend und aufmerksam auf mein Stichwort zu warten. Dieser Fremde würde ihre Zudringlichkeit nicht begrüßen, dessen war ich sicher. Nach dem Wenigen, das ich während des Essens über ihn gehört hatte - ein Durcheinander von Gerüchten und Klatsch, vor zehn Monaten aus den Tageszeitungen zusammengesucht und ihrem Gedächtnis zur späteren Verwendung einverleibt -, konnte ich mir trotz meiner Jugend und Unerfahrenheit vorstellen, daß er sich über diesen plötzlichen Einbruch in seine Einsamkeit ärgern würde. Warum er in Monte Carlo ausgerechnet auf das Hotel Cöte d'Azur verfallen war, ging uns nichts an; seine Angelegenheiten waren seine eigene Sache, und jeder andere außer Mrs. Van Hopper hätte das auch eingesehen. Takt war eine ihr unbekannte Eigenschaft und Feingefühl ebenso, und da der Gesellschaftsklatsch ihr Lebenselixier war, mußte dieser Fremde ihrer Neugier geopfert werden. Ich fand den Brief in einem Fach ihres Schreibtisches, aber ich zögerte einen Augenblick, bevor ich wieder hinunterging. Ich bildete mir törichterweise ein, daß ich ihm in seiner Zurückgezogenheit dadurch noch ein paar freie Minuten verschaffte. Ich wünschte mir den Mut, auf dem Umweg über die Angestelltentreppe in den Speisesaal zu gehen und ihn dort vor dem Hinterhalt zu warnen. Mein Begriff von Wohlerzogenheit erwies sich jedoch als zu stark, auch wußte ich nicht, wie ich mich hätte ausdrücken sollen. Es blieb mir wohl nichts anderes übrig, als auf meinem gewohnten Platz neben Mrs. Van Hopper zu sitzen, während sie wie eine dicke, selbstgefällige Spinne den Fremden in ihr zähes Netz von Langeweile einspann. Ich war länger fortgewesen, als ich annahm, denn als ich in das Gesellschaftszimmer zurückkehrte, sah ich, daß er den Speisesaal bereits verlassen und daß sie, voller Angst, sich die Beute entgehen lassen zu müssen, ihn kaltblütig gestellt hatte, ohne auf den Brief zu warten. Er saß schon neben ihr auf dem Sofa. Ich ging quer durch das Zimmer auf sie zu und reichte ihr stumm den Brief. Er erhob sich sofort, während Mrs. Van Hopper, mit den heißen Wangen des Triumphes, eine flüchtige Handbewegung in meine Richtung machte und meinen Namen murmelte. «Mr. de Winter wird seinen Kaffee mit uns einnehmen. Sagen Sie dem Kellner, er soll noch eine Tasse bringen», sagte sie in einem Ton, der ihn über meine Stellung aufklären sollte. Damit wollte sie ihm zu verstehen geben, was für ein junges, unbedeutendes Ding ich sei und daß gar keine Notwendigkeit bestehe, mich in die Unterhaltung einzubeziehen. Wenn sie Eindruck machen wollte, sprach sie immer in diesem Ton, und seitdem ich einmal zu unserer beider größten Verlegenheit für ihre Tochter gehalten worden war, stellte sie mich aus einer Art Notwehr stets auf diese Weise vor. Diese unpersönliche Kürze deutete an, daß man mich ruhig übergehen durfte; Frauen pflegten mich nur mit einem Kopfnicken zu bedenken, das zugleich als Begrüßung und Verabschiedung diente, während Männer mit offensichtlicher Erleichterung zur Kenntnis nahmen, daß sie sich, ohne die Gesetze der Höflichkeit zu verletzen, in dem bequemsten Sessel breitmachen durften. Es war daher eine Überraschung für mich, daß dieser Fremde stehenblieb und daß er den Kellner herbeiwinkte. «Es tut mir leid, Ihnen widersprechen zu müssen», sagte er zu Mrs. Van Hopper. «Sie beide werden den Kaffee mit mir einnehmen.» Und bevor ich wußte, wie mir geschah, saß ich auf dem Sofa, während er auf meinem harten Stuhl Platz nahm. Einen Augenblick lang sah Mrs. Van Hopper verärgert aus. Das hatte sie gewiß nicht beabsichtigt; aber sie faßte sich schnell und lehnte sich zu ihm hinüber, indem sie ihre massige Gestalt zwischen mich und den Tisch schob, und sprach, mit dem Brief herumfuchtelnd, laut und eifrig auf ihn ein. «Wissen Sie, ich habe Sie sofort erkannt, als Sie in den Speisesaal kamen», sagte sie, «und ich dachte gleich: Und dann, Frank, fange ich selbst an, darüber nachzugrübeln und daran zu zweifeln, und ich habe das schreckliche, quälende Gefühl, daß ich Maxim niemals hätte heiraten dürfen und daß wir nicht glücklich miteinander werden. Verstehen Sie? Jedesmal, wenn ich neue Menschen kennenlerne, spüre ich förmlich, wie sie die ganze Zeit immer nur daran denken, daß ich so ganz anders bin als Rebecca.» Atemlos hielt ich inne und schämte mich bereits wieder, daß ich so herausgeplatzt war, und dabei wußte ich genau, daß ich auf jeden Fall meine Schiffe hinter mir verbrannt hatte. Er wandte sich mit einem besorgten und bekümmerten Gesicht mir zu. «Bitte, Mrs. de Winter, das dürfen Sie nicht denken», sagte er. «Was mich anbetrifft, so kann ich Ihnen nur offen sagen, wie sehr ich mich darüber freue, daß Sie Maxim geheiratet haben. Das hat seinem Leben eine neue Richtung gegeben. Ich bin fest davon überzeugt, daß Ihre Ehe ein Erfolg wird. Meiner Ansicht nach ist es - ist es sehr wohltuend und beglückend, einem Menschen zu begegnen, der wie Sie nicht ganz -» er errötete, während er nach einem passenden Ausdruck suchte - «sagen wir, nicht ganz mit den Lebensgewohnheiten von Manderley vertraut ist. Und wenn die anderen Leute Sie kritisieren sollten, dann ist das - nun - dann ist das eine verdammte Unverschämtheit, mehr ist darüber nicht zu sagen. Mir ist noch nie eine solche Kritik zu Ohren gekommen, aber ich würde schon dafür sorgen, daß den Leuten ein für allemal der Mund gestopft wird.» «Das ist riesig nett von Ihnen, Frank», sagte ich, «und Sie haben mir mit Ihren Worten sehr geholfen. Ich bin wahrscheinlich sehr dumm. Ich tauge eben nicht dazu, sol-che Besuche zu machen und zu empfangen, ich habe das noch nie tun müssen, und ich muß dauernd daran denken, wie es früher hier auf Manderley gewesen ist, als es noch jemanden gab, der dafür geboren und erzogen war und der all diesen gesellschaftlichen Verpflichtungen ganz selbstverständlich und mühelos nachkam. Und täglich mache ich mir von neuem klar, was mir alles fehlt: Selbstvertrauen, Anmut, Schönheit, Intelligenz, Witz - all diese Eigenschaften, die bei einer Frau das Wesentlichste sind - und die sie besessen hat. Es hilft doch nichts, Frank, ich muß immer wieder daran denken.» Er schwieg und sah noch immer besorgt und richtig niedergeschlagen aus. Er zog sein Taschentuch heraus und putzte sich die Nase. «Das dürfen Sie wirklich nicht sagen», entgegnete er dann. «Aber warum denn nicht? Es ist doch wahr», sagte ich. «Sie besitzen Eigenschaften, die mindestens so wesentlich sind, ja, im Grunde sogar viel wesentlicher. Es ist vielleicht vorwitzig von mir, das zu sagen, ich kenne Sie ja erst so kurze Zeit. Und außerdem bin ich Junggeselle - ich verstehe sehr wenig von Frauen. Ich führe hier auf Man-derley ein sehr ruhiges, zurückgezogenes Leben, wie Sie ja wissen, aber ich möchte doch behaupten, daß ein liebenswürdig bescheidenes Wesen, Aufrichtigkeit und -wenn ich mich so ausdrücken darf - auch eine gewisse Zurückhaltung einem Mann, und gerade einem verheirateten Mann viel, viel mehr bedeuten als alle Schönheit und geistreiche Klugheit zusammen.» Er sah auf einmal merkwürdig erregt aus und putzte sich wieder die Nase. Ich merkte, daß ich ihn viel mehr aus seinem Gleichgewicht gebracht hatte als mich selbst, und dieses Bewußtsein machte mich ruhiger und gab mir ein Gefühl der Überlegenheit. Ich begriff nicht, warum er sich so aufregte. Schließlich hatte ich doch gar nicht so viel gesagt. Ich hatte ihm nur meine Unsicherheit gestanden, die ich als Nachfolgerin Rebeccas, die ich ja nun einmal war, empfand. Sie mußte diese Eigenschaften, die er mir zuschrieb, ja gerade besessen haben. Sie war bestimmt liebenswürdig und aufrichtig gewesen bei dem großen Freundeskreis und ihrer allgemeinen Beliebtheit. Ich war mir nur nicht sicher, was er mit der Zurückhaltung gemeint hatte. «Also», sagte ich, ziemlich verlegen, «ich kann das alles nicht beurteilen. Ich glaube nicht, daß ich sehr liebenswürdig oder besonders aufrichtig bin, und was meine sogenannte Zurückhaltung anbelangt, so habe ich wohl bisher kaum eine Gelegenheit gehabt, anders zu sein. Aber es war natürlich nicht sehr zurückhaltend von mir, so in aller Eile zu heiraten und da unten in Monte Carlo vor der Trauung mit Maxim im selben Hotel zu wohnen; oder rechnen Sie mir das vielleicht nicht an?» «Meine liebe, verehrte Mrs. de Winter, Sie glauben doch nicht etwa, daß ich auch nur einen Augenblick angenommen habe, Ihr Verhalten bei Ihrer Bekanntschaft mit Maxim sei nicht über jeden Vorwurf erhaben gewesen?» sagte er leise. «Nein, natürlich nicht», erwiderte ich ernst. Der gute Frank! «Über jeden Vorwurf erhaben» - typisch Frank, sich so auszudrücken. Man dachte dabei unwillkürlich sofort an all die Dinge, die keineswegs über jeden Vorwurf erhaben waren. «Ich bin sicher», begann er, zögerte jedoch wieder und sah mich von neuem bekümmert an, «ich bin sicher, daß Maxim sehr beunruhigt und sehr traurig wäre, wenn er wüßte, wie Ihnen zumute ist. Ich glaube nicht, daß er etwas davon ahnt.» «Sie werden es ihm doch nicht erzählen?» fragte ich rasch. «Nein, selbstverständlich nicht, wofür halten Sie mich? Aber sehen Sie, Mrs. de Winter, ich kenne Maxim schließlich recht gut, und ich habe ihn in den verschiedensten Stimmungen erlebt. Wenn er erführe, daß Sie sich über -sagen wir - über die Vergangenheit Gedanken machen, dann würde ihn das mehr bedrücken als irgend etwas sonst. Dafür kann ich mich verbürgen. Er sieht jetzt sehr gut und sehr erholt aus; aber Mrs. Lacy hatte ganz recht, als sie neulich sagte, daß er im vorigen Jahr einem Nervenzusammenbruch sehr nahe gewesen ist - wenn es auch nicht sehr taktvoll von ihr war, ihm das so ins Gesicht zu sagen. Deshalb üben Sie ja gerade einen so wohltuenden Einfluß auf ihn aus. Sie sind jung und gesund und - vernünftig; Sie haben nichts mit dieser Vergangenheit zu tun. Vergessen Sie sie, Mrs. de Winter, vergessen Sie sie, wie Maxim - Gott sei Dank - und wir alle es getan haben. Niemand von uns möchte diese Vergangenheit wieder zum Leben erwecken. Er am allerwenigsten. Und Sie müssen wissen, daß es Ihre Aufgabe ist, uns von ihr fortzuführen, und nicht, sie Wiederaufleben zu lassen.» Er hatte natürlich recht, tausendmal recht, der liebe, gute Frank. Mein Freund, mein Verbündeter. Ich war selbstsüchtig und überempfindlich gewesen, ein Opfer meines eigenen Minderwertigkeitskomplexes. «Ich hätte Ihnen das alles schon eher sagen sollen», sagte ich. «Ich wünschte, Sie hätten es getan», erwiderte er. «Es hätte vielleicht manchen Kummer erspart.» «Ich fühle mich schon viel glücklicher, sehr viel glücklicher», sagte ich. «Und ich werde immer einen Freund an Ihnen haben, was auch geschehen mag, ja Frank?» «Ja, natürlich», sagte er. Wir hatten den dunklen Wald hinter uns gelassen und sahen jetzt wieder das Tageslicht. Die Rhododendronbü-sche boten sich unserem Blick ungehindert dar. Ihre Glanzzeit würde bald vorüber sein; sie sahen bereits ein wenig verblüht und welk aus. Ihre Schönheit war nur von kurzer Dauer. «Frank», sagte ich, «bevor wir diesem Gespräch ein Ende machen und es für immer begraben sein lassen: wollen Sie mir noch eine einzige Frage ganz offen beantworten?» Er blieb stehen und sah mich etwas mißtrauisch an. «Das ist etwas viel verlangt», entgegnete er. «Sie könnten mich ja etwas fragen wollen, was ich unmöglich beantworten kann, weil es einfach nicht in meiner Macht steht.» «Nein», beruhigte ich ihn. «Um eine derartige Frage handelt es sich gar nicht. Es betrifft nichts Persönliches oder Vertrauliches oder irgend etwas, was Sie in Verlegenheit bringen könnte.» «Also schön, ich werde es versuchen», sagte er. Wir waren an der Stelle angelangt, wo der Weg eine letzte Biegung machte, und vor uns lag das Haus, harmonisch in die Rasenflächen eingebettet. Und wie stets ergriff mich der Anblick seiner einfachen, klaren Linien, sein vollkommenes Ebenmaß. Das Sonnenlicht flimmerte auf den hohen Fenstern, und ein warmer, rotgoldener Schein lag auf der Steinmauer, an der sich die Schlingpflanzen emporrankten. Aus dem Kamin der Bibliothek stieg eine dünne Rauchsäule empor. Ich biß mir auf den Daumen und sah Frank verstohlen von der Seite an. «Sagen Sie mir», fragte ich gleichgültig, ganz ungezwungen, «sagen Sie mir - war Rebecca sehr schön?» Frank zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Er hatte sich von mir abgewandt und betrachtete das Haus. «Ja», sagte er langsam, «ja ich glaube, sie war das schönste Geschöpf, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.» Wir stiegen die Stufen zur Halle hinauf, und ich läutete nach dem Tee. 12 Ich bekam Mrs. Danvers nur noch selten zu sehen; sie hielt sich sehr im Hintergrund. Sie rief mich zwar noch jeden Vormittag im Morgenzimmer an, um mir die Speisenfolge unserer Mahlzeiten mitzuteilen, aber das war nur eine Formsache, und darauf beschränkte sich unsere Beziehung auch. Sie hatte für mich ein Mädchen engagiert, Clarice, die Tochter irgendeines Gutsangestellten, eine stille, sympathische Person mit nettem Benehmen, die Gott sei Dank noch niemals in Stellung gewesen war und daher keine beunruhigenden Vergleiche ziehen konnte. Ich glaube, sie war der einzige Mensch im Haus, der Respekt vor mir hatte. Für sie war ich die Herrin, war ich Mrs. de Winter. Der Klatsch, den sie möglicherweise von den anderen Dienstboten zu hören bekam, vermochte ihr nichts anzuhaben. Sie war von einer fünfzehn Meilen entfernt wohnenden Tante großgezogen worden, also längere Zeit fort gewesen, und war deshalb auf Manderley eigentlich ebenso fremd wie ich. Ich verstand mich gut mit ihr. Es machte mir gar nichts aus, ihr zu sagen: «O Clarice, würden Sie mir bitte meinen Strumpf stopfen?» Das Hausmädchen Alice war immer so überlegen gewesen, daß ich mir meine Wäsche lieber heimlich aus der Schublade hervorsuchte und sie selbst ausbesserte, als sie darum zu bitten. Ich hatte sie einmal beobachtet, wie sie, eines meiner Hemden über dem Arm, den billigen Stoff mit der kleinen Spitzenkante befühlte, und ich werde nie ihren Gesichtsausdruck dabei vergessen. Sie sah nahezu entsetzt aus, als wäre sie in ihrem persönlichen Stolz getroffen. Ich hatte mir bisher nie Gedanken über meine Unterwäsche gemacht. Solange sie sauber und heil war, dachte ich, spiele Stoffart und Spitzenbesatz keine Rolle. Wohl hatte ich in den Zeitungen von Bräuten gelesen, die eine große Wäscheausstattung, Dutzende der kostbarsten Garnituren besaßen, aber das hatte mich nicht weiter bekümmert. Alices entsetztes Gesicht war mir jedoch eine Lehre. Ich schrieb sofort an ein Londoner Spezialgeschäft und bat um einen Katalog. Als ich schließlich meine Wahl getroffen hatte, war Clarice bereits an Alices Stelle getreten. Mir nun für Clarice neue Unterwäsche zu kaufen, schien mir eine solche Verschwendung, daß ich den Katalog in die Schublade legte und meine Bestellung gar nicht aufgab. Clarice würde echte Spitze von falscher ohnehin nicht unterscheiden können. Es war sehr rücksichtsvoll von Mrs. Danvers gewesen, mir gerade dieses Mädchen auszusuchen. Sie mußte sich gleich gedacht haben, daß Clarice und ich glänzend zueinander passen würden. Daß ich nun die Ursache von Mrs. Danvers Abneigung und Unfreundlichkeit kannte, machte es etwas leichter für mich. Ich wußte jetzt, daß sie mich nicht persönlich haßte, sondern das, was ich darstellte. Sie würde jeder Frau gegenüber, die Rebeccas Platz eingenommen hätte, dasselbe empfinden. Wenigstens hatte ich Beatrice so verstanden. «Aber weißt du denn nicht?» hatte sie staunend ausgerufen. «Sie betete Rebecca förmlich an.» Zunächst hatten mir diese Worte einen schweren Schlag versetzt. Sie trafen mich so unvorbereitet. Aber als ich darüber nachdachte, begann ich meine Furcht vor Mrs. Danvers zu verlieren. Sie fing sogar an, mir leid zu tun. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie ihr zumute sein mußte. Es mußte ihr jedesmal einen Stich geben, wenn sie hörte, wie man mich mit Mrs. de Winter anredete. Jeden Morgen, wenn sie durch das Haustelephon zu mir sprach, dachte sie gewiß an eine andere Stimme. Wenn sie durch die Zimmer ging und die Spuren sah, die meine Anwesenheit hinterlassen hatte - meine Baskenmütze auf der Fensterbank oder mein Strickzeug auf einem Stuhl -, mußte sie an jene andere denken, deren Sachen früher dort gelegen hatten. Ich tat es ja auch, obwohl ich doch Rebecca gar nicht gekannt hatte. Mrs. Danvers wußte, was für einen Gang und was für eine Stimme Rebecca gehabt hatte. Mrs. Danvers erinnerte sich noch der Farbe ihrer Augen, ihres Lächelns, und wie weich ihr Haar gewesen war. Ich hatte von all dem keine Ahnung. Ich hatte auch nie einen Menschen danach gefragt; aber manchmal hatte ich das Gefühl, als ob Rebecca für mich ebenso gegenwärtig sei wie für Mrs. Danvers. Frank hatte mir geraten, die Vergangenheit zu vergessen, und ich wollte sie ja auch vergessen. Aber Frank brauchte sich ja auch nicht jeden Vormittag im Morgenzimmer aufzuhalten und den Federhalter zu berühren, mit dem sie geschrieben hatte. Er brauchte nicht wie ich ihre Handschrift auf den Schildchen über den Fächern anzustarren. Ihm blieb es erspart, die Leuchter auf dem Kaminsims, die Uhr, die Blumenvase und die Bilder an den Wänden anzusehen und dabei immer wieder denken zu müssen, daß alle diese Dinge ihr gehört hatten, daß sie sie ausgesucht hatte und daß es nicht meine Sachen waren. Frank mußte nicht auf ihrem Platz im Eßzimmer sitzen, Messer und Gabel benutzen, die sie benutzt hatte, und aus ihrem Glas trinken. Er trug nicht ihren Mantel und fand ihr Taschentuch in der Tasche. An sich waren es lauter geringfügige Dinge, so unwesentlich und kindisch, aber ich konnte es nun ein-mal nicht ändern, daß ich sie immer wieder zu sehen, zu hören und zu fühlen bekam. Du lieber Himmel, ich wollte gewiß nicht mehr an Rebecca denken. Ich wollte glücklich sein, ich wollte Maxim glücklich machen, und ich wollte, daß wir immer zusammenblieben. Ich wünschte mir nichts sehnlicher. Ich konnte es nur nicht verhindern, daß meine Gedanken sich immer wieder mit ihr beschäftigten und ich sogar von ihr träumen mußte. Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, daß ich auf Manderley, meinem eigenen Heim, nur ein Gast war, der auf ihren Spuren wandelte, dieselben Wege ging, die sie gegangen war, dieselben Ruheplätze im Garten aufsuchte, die sie bevorzugt hatte. Ein Gast, der sich die Zeit vertrieb, während er die Rückkehr der Hausfrau erwartete. Täglich, stündlich wurde diese Vorstellung durch irgendeine Bemerkung, irgendeinen kleinen Verweis von neuem in mir wachgerufen. «Frith», sagte ich an einem Sommermorgen, als ich mit einem selbstgepflückten Strauß Flieder im Arm die Bibliothek betrat. «Frith, wo kann ich wohl eine größere Vase für den Flieder finden? Die Vasen im Blumenzimmer sind alle zu niedrig.» «Für den Flieder wurde immer die Alabastervase aus dem Salon benutzt, Madam.» «Oh, ist die nicht zu schade dafür? Sie könnte doch leicht kaputtgehen.» «Mrs. de Winter hat immer die Alabastervase dafür genommen, Madam.» «Ach so, ja.» Und man brachte mir die Alabastervase, bereits mit Wasser gefüllt, und als ich dann die blühenden Zweige einen nach dem anderen behutsam in die Vase steckte und der süße, schwere Fliederduft allmählich den Raum füllte und sich mit dem Grasgeruch des frisch gemähten Rasens zu mischen begann, der zum Fenster hereinkam, dachte ich: «Das hat Rebecca auch getan. Sie hat genau wie ich die Zweige einzeln ins Wasser gestellt. Ich ahme es ihr nur nach. Dies ist Rebeccas Vase und Rebeccas Flieder.» «Frith, würden Sie bitte das Bücherbrett von dem Fenstertisch nehmen, damit ich den Flieder dort hinstellen kann?» «Mrs. de Winter hat die Vase immer auf den Tisch hinter dem Sofa gestellt, Madam.» «Ach so ...» Ich zögerte etwas und hielt die Vase einen Augenblick in der Luft, während Frith mit ausdruckslosem Gesicht dastand. Er hätte mir natürlich gehorcht, wenn ich ihm gesagt hätte, daß ich die Blumen lieber auf den Fenstertisch stellen würde, und er hätte selbstverständlich das Bücherbrett sogleich fortgenommen. Aber ich sagte es nicht. «Nun schön», sagte ich nur. «Vielleicht kommt der Flieder auf dem größeren Tisch besser zur Geltung.» Und die Alabastervase wurde auf den Tisch hinter dem Sofa gestellt . Beatrice hatte ihr Versprechen, mir noch nachträglich etwas zur Hochzeit zu schenken, nicht vergessen. Eines Morgens traf ein großes, schweres Paket ein. Robert konnte es kaum tragen, so schwer war es. Ich saß im Morgenzimmer und hatte gerade gelesen, was es zum Mittagessen geben würde, und für Pakete habe ich stets eine kindliche Begeisterung empfunden. Ich schnitt die Schnur ungeduldig durch und riß das braune Packpapier auf. Wie Bücher fühlte es sich an. Ich hatte recht. Vier große Bände: «Eine Geschichte der Malerei.» Und in dem ersten Band lag eine Karte, auf der stand: «Ich hoffe, daß ich damit Deinen Geschmack getroffen habe, Gruß Beatrice.» Ich konnte mir genau vorstellen, wie sie in den Buchladen in der Wig-more Street gegangen war, um die Bücher zu kaufen, und wie sie sich drinnen in ihrer resoluten, männlich bestimmten Art umgeblickt hatte. «Ich möchte gern ein paar wertvolle Bücher über Kunst für eine junge Dame, die selbst künstlerisch tätig ist», hatte sie wahrscheinlich gesagt, und der Verkäufer hatte das mit einem verbindlichen «Sehr wohl, gnädige Frau, wollen Sie sich bitte hierher bemühen» beantwortet. Es war wirklich nett von Beatrice. Ich fand es irgendwie rührend, daß sie nach London gefahren war und mir diese Bücher gekauft hatte, weil sie wußte, daß ich mich für Malerei interessierte und selbst etwas zeichnete. Sie hatte sich vermutlich schon ausgemalt, wie ich mich an einem Regentag in die Bücher vertiefen und die Reproduktionen andächtig betrachten und vielleicht Skizzenblock und Farbkasten holen würde, um eines der Bilder zu kopieren. Die gute Beatrice! Ich hatte plötzlich das törichte Bedürfnis, ein bißchen zu weinen. Ich hob die Bücher auf und sah mich im Zimmer um, wo ich sie wohl am besten hinstellen könnte. Sie paßten mit ihrer Größe so gar nicht in dieses zierliche, elegante Zimmer hinein, aber schließlich war es ja jetzt mein Zimmer. Ich stellte sie nebeneinander oben auf den Schreibtisch. Sie schwankten etwas, weil sie keine feste Stütze hatten. Rasch trat ich einen Schritt zurück, um die Wirkung besser abschätzen zu können. Vielleicht hatte ich mich etwas zu lebhaft bewegt und sie dadurch ins Wanken gebracht. Jedenfalls fiel der erste Band um, und die anderen Bände polterten hinterher und stießen dabei einen kleinen Porzellanamor an, der bisher außer den Leuchtern der einzige Schmuck des Schreibtisches gewesen war. Das Figürchen fiel hinunter, prallte gegen den Papierkorb und zerbrach in tausend Scherben. Wie ein schuldbewußtes Kind blickte ich sofort zur Tür, dann kniete ich nieder und sammelte die Scherben ein. Ich fand einen größeren Umschlag, tat die Scherben hinein und versteckte den Umschlag hinten in einer der Schubladen. Daraufhin trug ich die Bücher in die Bibliothek, wo ich sie zwischen die anderen stellte. Maxim lachte, als ich sie ihm voller Stolz zeigte. «Die gute alte Bee», sagte er. «Du hast offenbar eine Eroberung gemacht; sie rührt sonst kein Buch an, wenn sie es irgendwie vermeiden kann.» «Sagte sie etwas davon, was sie - was für einen Eindruck sie von mir hat?» fragte ich ihn. «Als sie neulich zum Essen hier war? Nein, ich glaube nicht.» «Ich dachte, sie hätte dir vielleicht geschrieben.» «Beatrice und ich korrespondieren nur miteinander, wenn wir uns durch irgendein wichtiges Familienereignis dazu veranlaßt sehen. Briefeschreiben wäre zwischen uns wirklich eine Zeitverschwendung», erklärte Maxim. Offenbar war ich also kein wichtiges Familienereignis, dachte ich. Aber wenn ich an Beatrices Stelle gewesen wäre, grübelte ich weiter, und einen Bruder hätte, und der Bruder hätte gerade geheiratet, dann würde ich doch bestimmt irgend etwas gesagt, mein Urteil über die Schwägerin zum Ausdruck gebracht und ein oder zwei Worte darüber geschrieben haben. Ausgenommen natürlich, ich hätte eine Abneigung gegen die Schwägerin oder die Heirat unpassend gefunden. Das wäre natürlich etwas anderes gewesen. Aber Beatrice hatte sich sogar die Mühe gemacht, nach London zu fahren, um mir die Bücher zu kaufen. Das hätte sie sicherlich nicht getan, wenn sie mich nicht gern gehabt hätte. Es war am nächsten Tag - ich erinnere mich noch gut -, als Frith, der uns nach dem Mittagessen den Mokka in die Bibliothek gebracht hatte, einen Augenblick unschlüssig stehen blieb und dann schließlich Maxim anredete: «Darf ich Sie eine Minute stören, Sir?» Maxim sah von seiner Zeitung hoch. «Ja, Frith, worum handelt es sich denn?» fragte er überrascht. Frith sah ungewöhnlich ernst und feierlich aus, und um seine Lippen lag ein gespannter Zug. Ich dachte sofort, seine Frau wäre gestorben. «Es handelt sich um Robert, Sir. Er hat mit Mrs. Danvers eine leichte Auseinandersetzung gehabt und sich sehr aufgeregt.» «Mein Gott», sagte Maxim und schnitt mir ein Gesicht. Ich bückte mich, um Jasper zu streicheln, ein unfehlbares Hilfsmittel, um meine Verlegenheit zu verbergen. «Ja, Sir. Mrs. Danvers hat Robert offensichtlich beschuldigt, eine wertvolle Nippesfigur aus dem Morgenzimmer entwendet zu haben. Es gehört zu Roberts Pflichten, die Vasen mit den frischen Blumen ins Morgenzimmer zu stellen. Mrs. Danvers ging heute morgen hinein, nachdem Robert die Blumen verteilt hatte, und entdeckte, daß eine Nippesfigur fehlte. Sie beschuldigte Robert, daß er entweder die Figur an sich genommen oder sie zerbrochen und ihr das verheimlicht habe. Robert leugnete beides auf das entschiedenste ab und kam beinahe in Tränen aufgelöst zu mir, Sir. Es wird Ihnen vielleicht aufgefallen sein, daß er beim Servieren ganz verstört gewesen ist.» «Ja, allerdings, es fiel mir auf, daß er mir die Koteletts schon reichte, bevor er mir einen Teller gegeben hatte», murmelte Maxim. «Ich hatte keine Ahnung, daß Robert so zart besaitet ist. Na, wahrscheinlich ist jemand anders der Schuldige. Vielleicht eines von den Hausmädchen.» «Nein, Sir, Mrs. Danvers ging in das Zimmer, bevor das Mädchen dort saubergemacht hat. Nach der gnädigen Frau gestern hat niemand das Zimmer betreten, bevor Robert heute früh die Blumen hineinstellte. Das bringt Robert und mich in eine sehr unangenehme Situation, Sir.» «Ja, das verstehe ich. Es ist wohl am besten, Sie holen Mrs. Danvers, dann werden wir der Sache schon auf den Grund kommen. Was für eine Figur war es denn eigentlich?» «Der Porzellanamor, Sir, der immer auf dem Schreibtisch stand.» «Oh! Mein Gott, ist das nicht eine von unseren Kostbarkeiten? Der muß dann eben wieder gefunden werden. Sagen Sie Mrs. Danvers, sie möchte sofort zu mir kommen.» «Sehr wohl, Sir.» Frith verließ das Zimmer, und wir waren wieder allein. «Was für eine unerquickliche Angelegenheit», sagte Maxim, «dieser Amor ist ein verdammt wertvolles Stück. Und mir sind solche Auseinandersetzungen zwischen den Dienstboten so zuwider! Ich frage mich bloß, warum sie mich damit behelligen. Das ist eigentlich deine Angelegenheit, Liebling.» Ich sah mit feuerrotem Gesicht von Jasper auf. «Maxim», sagte ich, «ich wollte es dir schon eher sagen, aber ich - ich hatte es ganz vergessen. Ich habe nämlich den Amor zerbrochen, als ich gestern vormittag im Morgenzimmer war.» «Du hast ihn zerbrochen? Ja, zum Teufel, warum hast du das nicht eben gesagt?» «Ich weiß nicht, ich brachte es einfach nicht fertig. Er mußte mich ja für eine richtige Idiotin halten.» «Das wird er jetzt erst recht tun, du Dummchen. Jedenfalls wirst du es ihm und Mrs. Danvers doch mitteilen müssen.» «Oh, bitte nein, Maxim! Sag du es ihnen. Laß mich solange nach oben in mein Zimmer gehen.» «Sei doch nicht albern. Die glauben sonst noch, daß du Angst vor ihnen hast.» «Ich habe auch Angst vor ihnen, das heißt, nicht Angst, aber ...» Die Tür ging auf, und Frith kehrte mit Mrs. Danvers zurück. Ich warf Maxim einen beschwörenden Blick zu. Er zuckte halb belustigt, halb verärgert die Achseln. «Der Fall hat sich schon aufgeklärt, Mrs. Danvers. Mrs. de Winter hat den Amor offenbar umgestoßen und vergaß nur, etwas davon zu sagen», erklärte Maxim. Alle sahen mich an. Es war genau, wie wenn man als Kind etwas verbrochen hatte, und ich fühlte, wie meine Wangen noch immer vor Verlegenheit brannten. «Es tut mir sehr leid», sagte ich zu Mrs. Danvers. «Ich habe natürlich nicht daran gedacht, daß Robert verdächtigt werden könnte.» «Ist es möglich, das Porzellan noch zu kitten, Madam?» entgegnete Mrs. Danvers. Es schien sie durchaus nicht zu überraschen, daß ich die Sünderin war. Sie sah mich mit ihren dunklen Augen in dem bleichen Totenschädel unverwandt an. Ich hatte das Gefühl, daß sie von Anfang an wußte, wer es war, und daß sie Robert nur beschuldigt hatte, um zu sehen, ob ich den Mut aufbringen würde, meine Ungeschicklichkeit einzugestehen. «Ich fürchte, nein», sagte ich. «Es ist in viel zu kleine Scherben zerbrochen.» «Wo hast du denn die Scherben hingetan?» fragte Maxim. Ich kam mir wie ein Sträfling vor, der einem Kreuzverhör unterzogen wird. Wie erbärmlich und kleinlich meine Vergehen jetzt erschienen; selbst ich empfand das so. «Ich habe sie in einen Briefumschlag getan», erwiderte ich. «Und was hast du mit dem Umschlag angefangen?» fragte Maxim weiter, in einem Ton, der teils amüsiert, teils ungeduldig klang, und zündete sich eine Zigarette an. «Ich habe ihn in eine der Schreibtischschubladen gelegt», sagte ich. «Es sieht fast so aus, als ob Mrs. de Winter glauben würde, daß Sie sie auf der Stelle verhaftet hätten, nicht wahr, Mrs. Danvers?» sagte Maxim. «Vielleicht sehen Sie sich das Malheur einmal an und schicken die Scherben nach London. Und wenn der Schaden nicht mehr behoben werden kann, werden wir es ja schließlich auch überleben. Ja, gehen Sie nur Frith, und sagen Sie Robert, daß er seine Tränen wieder trocknen kann.» Mrs. Danvers blieb noch, nachdem Frith das Zimmer verlassen hatte. «Ich werde mich natürlich bei Robert entschuldigen», sagte sie. «Aber es hat eben alles gegen ihn gesprochen, und es kam mir natürlich gar nicht der Gedanke, daß Mrs. de Winter dieses Mißgeschick passiert sein könnte. Vielleicht würden Mrs. de Winter, wenn so etwas noch einmal vorkommen sollte, so freundlich sein, es mich gleich wissen zu lassen, damit ich mich darum kümmern kann. Es würde uns allen so viel Unannehmlichkeiten ersparen.» «Selbstverständlich», sagte Maxim ungeduldig. «Ich begreife auch nicht, warum sie es nicht bereits gestern gesagt hat.» «Vielleicht waren Mrs. de Winter sich nicht darüber klar, wie wertvoll das Stück gewesen ist?» sagte Mrs. Danvers, während sie ihren Blick auf mich richtete. «Doch», sagte ich kläglich, «ich befürchtete schon, daß es ein sehr kostbares Stück war, deshalb habe ich ja auch alle Scherben sorgfältig aufgehoben.» «Und sie dann irgendwo hinten in einer Schublade versteckt, wo sie bestimmt niemand finden kann, wie?» sagte Maxim lachend und zuckte wieder mit den Achseln. «Pflegen das die Stubenmädchen nicht so zu tun, Mrs. Danvers?» «Auf Manderley ist es den Stubenmädchen streng untersagt, die Wertstücke im Morgenzimmer anzurühren, Sir», entgegnete Mrs. Danvers. «Ja, ich kann mir denken, daß Sie das nicht zulassen würden», meinte Maxim. «Es ist sehr bedauerlich», fuhr Mrs. Danvers fort. «Ich kann mich nicht erinnern, daß bisher etwas im Morgenzimmer entzweigegangen ist. Wir haben uns dort immer besonders vorgesehen. Im vergangenen Jahr habe ich die Sachen sogar selbst abgestaubt, weil niemand da war, auf den ich mich verlassen konnte. Als Mrs. de Winter noch lebte, haben wir es immer zusammen getan.» «Na ja», sagte Maxim, «es ist nun nicht mehr zu ändern. Es ist gut, Mrs. Danvers.» Sie ging aus dem Zimmer, und ich setzte mich ans Fenster und sah in den Garten hinaus. Maxim nahm seine Zeitung wieder auf. «Es tut mir schrecklich leid, Liebster», sagte ich nach einer kleinen Weile. «Es war sehr unachtsam von mir. Ich weiß gar nicht, wie es eigentlich kam; ich war gerade dabei, die Bücher auf den Schreibtisch zu stellen, um auszuprobieren, ob sie dort fest genug stehen würden, und dann fielen sie um, und der Amor fiel auf den Boden.» «Mein liebes Kind, denk nicht mehr daran. Was macht das schon?» «Doch, es macht etwas, ich hätte eben vorsichtiger sein müssen. Mrs. Danvers wird sehr wütend auf mich sein.» «Was hat sie denn wütend zu sein? Es ist schließlich nicht ihr Porzellan.» «Nein, aber sie ist so stolz auf all die Sachen. Es ist mir gräßlich, daß ich der erste Mensch bin, der etwas davon zerbrochen hat.» «Besser du als der unglückliche Robert.» «Ich wünschte, Robert wäre es gewesen; Mrs. Danvers wird mir das nie verzeihen.» «Zum Teufel mit Mrs. Danvers», rief Maxim aus. «Sie ist doch schließlich nicht der liebe Gott. Ich kann dich wirklich nicht begreifen. Was meinst du eigentlich damit, wenn du sagst, daß du Angst vor ihr hast?» «Angst meinte ich im Grunde nicht. Ich sehe sie ja kaum. Nein, das ist es nicht. Ich kann es dir nicht genau erklären.» «Dein Benehmen ist mir wirklich unverständlich», sagte Maxim. «Warum hast du denn Mrs. Danvers nicht kommen lassen, nachdem das Malheur passiert war, und ihr einfach gesagt: Das würde sie ja wohl begriffen haben. Statt dessen tust du die Scherben in einen Briefumschlag und versteckst ihn in der Schublade. Genau wie ein Stubenmädchen, wie ich eben sagte, und nicht wie die Herrin des Hauses.» «In dieser Hinsicht bin ich auch wie ein Stubenmädchen», sagte ich langsam. «Das weiß ich selbst. Deshalb verstehe ich mich auch so gut mit Clarice. Wir stehen eben auf demselben Niveau, und deshalb hängt sie so an mir. Neulich habe ich ihre Mutter besucht, und weißt du, was sie sagte? Ich fragte sie, ob sie glaube, daß Clarice sich wohl bei uns fühle, und sie antwortete: - Glaubst du, daß das ein Kompliment ist?» «Weiß Gott», sagte Maxim. «Soweit ich Clarices Mutter kenne, würde ich das allerdings geradezu als Beleidigung auffassen. In ihrem Häuschen sieht es meistens wie in einem Schweinestall aus, und es riecht meilenweit nach Kohl. Sie hat in elf Jahren neun Kinder bekommen, die alle wie die Schmutzfinken aussahen, und lief selbst auf dem kleinen Grundstück wie eine Schlampe herum. Wir hätten sie fast an die Luft gesetzt. Wieso Clarice so sauber und nett aussieht, ist mir ein Rätsel.» «Sie hat die letzten Jahre bei einer Tante gelebt», sagte ich ziemlich ernüchtert. «Ich weiß, daß mein Flanellrock vorne einen Fleck hat, aber ich bin nie wie eine Schlampe herumgelaufen.» Ich wußte jetzt, warum Clarice nicht wie Alice über meine Unterwäsche die Nase rümpfte. «Vielleicht macht es mir deshalb auch mehr Spaß, eine Schlampe wie Clarices Mutter zu besuchen als eine Dame wie die Frau des Bischofs», fuhr ich fort. «Die hat nie zu mir gesagt, daß sie mich als ihresgleichen empfindet.» «Wenn du bei deinen Besuchen diesen schmutzigen Rock trägst, dann wird sie das bestimmt auch nie tun», sagte Maxim. «Natürlich habe ich nicht den alten Rock angehabt, ich habe mir ihretwegen extra ein Kleid angezogen», entgegnete ich. «Aber von Leuten, die einen Menschen nach seinen Kleidern beurteilen, halte ich nicht viel.» «Ich glaube kaum, daß die Frau des Bischofs sich auch nur einen Pfifferling darum schert, wie du angezogen bist», sagte Maxim. «Aber vermutlich war sie höchst überrascht, dich auf der äußersten Stuhlkante balancieren zu sehen und dich immer nur ja oder nein sagen zu hören wie irgendeinen Arbeitslosen, der sich um eine Stellung bewirbt. Jedenfalls hast du dich das einzige Mal, als wir zusammen einen Besuch erwiderten, genauso aufgeführt.» «Ich kann eben nicht aus meiner Haut heraus.» «Ich weiß, daß du das nicht kannst, Liebling. Aber du gibst dir auch nicht die geringste Mühe, deine Scheu zu überwinden.» «Das ist wirklich ungerecht von dir», sagte ich. «Ich bemühe mich jeden Tag darum, jedesmal, wenn ich einen Besuch mache oder neue Menschen kennenlerne. Ich gebe mir immerzu Mühe. Du verstehst das wahrscheinlich nicht. Für dich ist das alles ein Kinderspiel, weil du von klein auf daran gewöhnt gewesen bist. Aber ich bin nun einmal nicht dafür erzogen worden.» «Unsinn», sagte Maxim. «Es ist gar keine Frage der Erziehung, wie du es darstellen willst. Es ist lediglich eine Frage der Anpassungsfähigkeit. Glaubst du etwa, ich mache diese Besuche gern? Sie langweilen mich tödlich, kann ich dir nur sagen. Aber da wir nun mal in dieser Welt leben, müssen wir solche Dinge eben über uns ergehen lassen.» «Von Langeweile ist doch gar nicht die Rede», sagte ich. «Vor Langeweile braucht man sich doch nicht zu fürchten. Wenn es mich nur langweilte, wäre es mir ganz einerlei. Aber ich hasse es, wenn die Leute mich von oben bis unten mustern wie eine Kuh auf dem Viehmarkt.» «Wer mustert dich von oben bis unten?» «Alle Leute hier, jeder tut es.» «Das kann dir doch ganz gleichgültig sein. Ihre Neugier macht das eintönige Leben auf dem Lande etwas erträglicher.» «Aber wie komme denn gerade ich dazu, ihnen neuen Gesprächsstoff zu liefern und so von ihnen unter die Lupe genommen zu werden?» «Weil alles, was mit Manderley zusammenhängt, das Leben der Leute hier etwas interessant macht.» «Was für ein Schlag ins Gesicht muß ich dann für sie sein.» Maxim antwortete nicht. Er vertiefte sich wieder in seine Zeitung. «Was für ein Schlag ins Gesicht muß ich für sie sein», wiederholte ich. «Deshalb hast du mich wahrscheinlich auch geheiratet», fuhr ich fort. «Du wußtest, daß ich uninteressant und schüchtern und unerfahren bin und folglich gar keine Gefahr besteht, daß ich ins Gerede kommen könnte.» Maxim warf die Zeitung auf den Boden und sprang auf. «Was meinst du damit?» fragte er. Sein Gesicht sah auf einmal finster und unheimlich aus, und seine Stimme klang ganz rauh, ganz anders als sonst. «Ich - ich weiß nicht», sagte ich, während ich mich ans Fenster lehnte, «ich habe gar nichts gemeint - warum siehst du mich so an?» «Was weißt du von Gerede über Manderley?» fragte er. «Aber ich weiß ja gar nichts», sagte ich, von seinem Blick verängstigt. «Ich habe es nur gesagt, um - um irgend etwas zu sagen. Bitte, sieh mich nicht so an, Maxim. Was habe ich denn Schlimmes getan? Was hast du denn nur?» «Wer hat dir etwas davon erzählt?» sagte er langsam. «Niemand. Bestimmt nicht. Kein Mensch.» «Warum hast du das dann gesagt?» «Ich weiß es doch nicht. Es kam mir so in den Kopf. Ich fühlte mich gekränkt und war wütend. Ich hasse es, diese Besuche machen zu müssen, ich kann es nicht ändern. Und du hast mich gescholten, weil ich so schüchtern bin. Ich meinte es gar nicht so. Wirklich nicht. Maxim. Bitte, glaub mir doch.» «Es war nicht gerade nett von dir, das zu sagen», meinte er. «Nein», sagte ich. «Nein, es war sehr häßlich von mir.» Er sah mich ernst und forschend an, die Hände in den Taschen, während er auf den Absätzen vor- und zurückwippte. «Ich weiß nicht, ob es nicht sehr egoistisch von mir war, dich zu heiraten», sagte er nachdenklich. Mir wurde ganz kalt, fast übel. «Wie meinst du das?» fragte ich. «Ich passe nicht gut zu dir als Lebensgefährte, stimmt es nicht?» sagte er. «Der Altersunterschied ist zu groß zwischen uns. Du hättest noch etwas warten und dann einen jungen Mann in deinem eigenen Alter heiraten sollen. Nicht einen Menschen, der schon sein halbes Leben hinter sich hat.» «Das ist Unsinn», sagte ich rasch. «Du weißt genau, daß der Altersunterschied bei einer Ehe gar keine Rolle spielt. Natürlich paßt du zu mir.» «Tue ich das? Ich weiß nicht recht», sagte er. Ich stand auf und legte meine Arme um seinen Hals. «Warum sprichst du so zu mir?» sagte ich. «Du weißt doch, daß ich dich mehr liebe als irgend etwas in der Welt. Für mich hat es niemals einen anderen Menschen gegeben. Du bist mir Vater, Bruder, Sohn, alles zugleich.» «Es war meine Schuld», sagte er, ohne mir zuzuhören. «Ich habe dich einfach überrumpelt und dir gar keine Zeit gelassen, es dir zu überlegen.» «Ich wollte es mir gar nicht überlegen», sagte ich. «Für mich gab es gar nichts anderes. Du willst mich nicht verstehen, Maxim. Wenn man einen Menschen liebt ...» «Bist du glücklich hier?» fragte er, während er sich von mir abwandte und zum Fenster hinaussah. «Ich zweifle oft daran. Du bist so viel dünner geworden und hast gar keine Farbe mehr.» «Natürlich bin ich glücklich», erwiderte ich. «Ich liebe Manderley und den Park, alles liebe ich hier. Es macht mir auch gar nichts aus, diese Besuche machen zu müssen. Ich habe das nur so gesagt, weil ich eben dumm bin. Wenn du willst, werde ich jeden Tag Besuche machen. Es ist mir ganz gleich, was ich tue. Ich habe es noch nicht einen einzigen Augenblick bereut, dich geheiratet zu haben, das mußt du doch eigentlich wissen.» Er tätschelte mir die Wange - auf diese schreckliche, geistesabwesende Weise -, beugte sich zu mir nieder und küßte mich auf das Haar. «Mein armes Schäfchen, du hast nicht viel Freude an mir, nicht wahr? Ich fürchte, es ist nicht sehr einfach, mit mir zusammenzuleben.» «Es ist gar nicht schwierig», sagte ich eifrig. «Im Gegenteil, es ist sehr, sehr leicht, viel leichter, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich hatte immer gedacht, daß es gräßlich wäre, verheiratet zu sein; daß ein Ehemann sich betrinkt oder häßliche Worte benutzt oder schimpft, wenn der Toast beim Frühstück zu weich ist, und sich überhaupt sehr abstoßend benimmt und womöglich noch schlecht riecht. Und das tust du alles gar nicht.» «Du lieber Gott, das hoffe ich aber auch», sagte Maxim und lächelte wieder. Ich machte mir dieses Lächeln zunutze, lächelte auch, faßte nach seiner Hand und küßte sie. «Wie unsinnig, zu behaupten, daß wir keine guten Kameraden wären», sagte ich. «Und dabei sitzen wir jeden Abend so friedlich zusammen, du mit einem Buch oder deiner Zeitung und ich mit meinem Strickzeug. Natürlich passen wir zusammen. Natürlich sind wir glücklich. Du redest, als hätten wir einen Fehler begangen. Das wolltest du doch nicht sagen, oder, Maxim? Du zweifelst doch nicht daran, daß wir eine glückliche Ehe führen? Du bist doch davon überzeugt, daß unsere Ehe glücklich ist, ja?» «Wenn du das sagst, dann wird es wohl stimmen», sagte er. «Ja, aber du glaubst es doch auch, ja, Liebster? Nicht nur ich allein. Wir sind doch glücklich, nicht wahr? Sehr, sehr glücklich?» Er schwieg. Er sah noch immer zum Fenster hinaus, und ich hielt noch immer seine Hand. Meine Kehle fühlte sich ganz trocken und geschwollen an, und meine Augen brannten. Oh, Gott! dachte ich, das ist wie eine Szene aus einem Theaterstück; im nächsten Augenblick wird der Vorhang niedergehen, und wir werden uns verbeugen und dann unsere Garderoben aufsuchen. Das kann unmöglich ein wirklicher Augenblick aus unserem Leben sein. Ich setzte mich wieder und ließ seine Hand los. Ich hörte mich mit fester, kühler Stimme sagen: «Wenn du nicht glaubst, daß wir glücklich sind, dann wäre es besser, es mir offen zu sagen. Ich möchte nicht, daß du mir etwas vormachst. Ich würde mich dann viel lieber von dir trennen, als noch weiter mit dir zusammenleben.» Natürlich sagte ich das nicht wirklich. Es war das Mädchen auf der Bühne, das so zu ihrem Partner sprach, nicht ich zu Maxim. Ich sah die Schauspielerin, die diese Rolle spielte, genau vor mir, groß, schlank und sehr rassig. «Warum antwortest du mir nicht?» fragte ich. Er nahm meinen Kopf in seine Hände und sah mich forschend an, genauso, wie er es an dem Tag, an dem wir zum Strand hinuntergingen, getan hatte, bevor Frith mit dem Tee ins Zimmer kam. «Wie kann ich dir denn antworten?» sagte er. «Ich kenne die Antwort ja selber nicht. Wenn du sagst, daß wir glücklich sind, dann wollen wir daran festhalten. Ich wage das nicht zu entscheiden. Aber dein Wort steht mir dafür. Wir sind also glücklich. Lassen wir es dabei.» Er küßte mich wieder und ging dann durch das Zimmer zu seinem Sessel zurück. Ich blieb beim Fenster sitzen, steif und aufrecht, die Hände im Schoß. «Das sagst du nur, weil du von mir enttäuscht bist», erklärte ich. «Ich bin linkisch und ungeschickt, ich ziehe mich schlecht an, und ich bin schüchtern im Umgang mit anderen Menschen. Ich habe dich schon in Monte Carlo darauf hingewiesen. Du glaubst, ich passe nicht nach Manderley?» «Rede keinen Unsinn», entgegnete er. «Ich habe nie behauptet, daß du dich schlecht anziehst oder linkisch bist. Das bildest du dir alles nur ein. Und was deine Schüchternheit anbelangt, so wirst du sie mit der Zeit schon überwinden. Das habe ich dir bereits gesagt.» «Wir haben im Kreis herumgeredet», sagte ich. «Wir sind jetzt wieder an demselben Punkt angekommen, von dem wir ausgegangen sind. Es kam alles nur daher, weil ich den Porzellanamor zerbrochen habe. Hätte ich ihn nicht zerbrochen, wären alle diese Dinge gar nicht zur Sprache gekommen. Wir hätten unseren Kaffee getrunken und wären in den Garten gegangen.» «Hör doch mit diesem verdammten Amor auf», sagte Maxim müde. «Glaubst du wirklich, daß es mir etwas ausmacht, ob er in tausend Stücke zerbrochen ist oder nicht?» «War er sehr wertvoll?» «Gott weiß, ich nehme es an. Aber ich habe es wirklich vergessen.» «Sind die Sachen im Morgenzimmer alle so wertvoll?» «Ja, ich glaube schon.» «Warum stehen eigentlich die wertvollsten Sachen gerade im Morgenzimmer?» «Ich weiß nicht. Wahrscheinlich, weil sie da gut hingepaßt haben.» «Standen sie immer schon da? Auch, als deine Mutter noch lebte?» «Nein, ich glaube kaum. Sie waren so ziemlich im ganzen Haus verstreut. Die Stühle standen sogar auf dem Speicher, glaube ich.» «Und wann wurde das Morgenzimmer so eingerichtet, wie es jetzt ist?» «Als ich heiratete.» «Dann war der Amor also damals schon da?» «Ich glaube, ja.» «Hatte er bis dahin auch in einem Speicherraum gestanden?» «Nein, das wohl kaum. Wenn ich mich recht erinnere, war er ein Hochzeitsgeschenk. Rebecca verstand sehr viel von Porzellan.» Ich wagte es nicht, ihn anzusehen. Ich nahm mein Taschentuch und polierte mir damit die Nägel. Er hatte den Namen ganz natürlich und ruhig ausgesprochen. Es hatte ihn gar keine Anstrengung gekostet. Nach einer kleinen Weile sah ich verstohlen zu ihm hinüber. Er stand vor dem Kamin, die Hände in den Taschen, und starrte vor sich hin. Er denkt an Rebecca, sagte ich mir. Er denkt daran, wie merkwürdig es ist, daß ein Hochzeitsgeschenk für mich die Ursache war, daß ein Hochzeitsgeschenk für Rebecca zerbrach. Er überlegt sich, wer eigentlich Rebecca damals den Amor geschenkt hatte. Er erinnert sich daran, wie das Paket ankam und wie sehr sie sich darüber gefreut hatte. «Rebecca verstand sehr viel von Porzellan.» Vielleicht war er gerade zu ihr ins Zimmer getreten, als sie auf dem Boden kniete und es aufmachte. «Wir wollen ihn im Mor-genzimmer auf den Schreibtisch stellen», hatte sie gewiß gesagt, während er neben ihr niedergekniet war und sie den Amor zusammen betrachtet hatten. Ich fuhr fort, mir die Nägel zu polieren. Sie waren kurz und rissig wie bei einem Schuljungen. Die Haut war bis über die Halbmonde hinaufgewachsen, der Daumennagel fast bis zum Fleisch abgekaut. Ich sah wieder zu Maxim hinüber. Er stand noch immer vor dem Kamin. «Woran denkst du?» fragte ich. Meine Stimme klang ruhig und gleichmütig, nicht wie mein Herz, das laut und heftig klopfte; nicht bitter und gequält wie meine Gedanken. Er zündete sich wieder eine Zigarette an, sicherlich schon die fünfundzwanzigste an diesem Tag, und dabei hatten wir gerade erst zu Mittag gegessen. Er warf das Streichholz in den Kamin und nahm seine Zeitung wieder auf. «Nichts Besonderes», antwortete er, «wieso?» «Ach, ich weiß nicht», sagte ich, «du sahst so ernst und abwesend aus.» Er pfiff in Gedanken vor sich hin und drehte die Zigarette zwischen den Fingern. «Wenn du es genau wissen willst: ich habe mir nur überlegt, ob Surrey bei den Kricketwettkämpfen gegen Middlesex spielen wird», sagte er. Er setzte sich wieder in seinen Sessel und faltete die Zeitung auseinander. Ich sah zum Fenster hinaus. Jasper kam zu mir und sprang auf meinen Schoß. 13 Maxim mußte Ende Juli zu einem offiziellen Essen nach London fahren. Ein Herrendiner. Es hatte irgend etwas mit der Gemeindeverwaltung zu tun. Er war zwei Tage fort, und ich blieb mir selbst überlassen. Ich fürchtete mich vor dieser Trennung. Als ich den Wagen hinter der Kurve in der Anfahrt verschwinden sah, war mir zumute, als ob das ein endgültiger Abschied wäre und ich Maxim niemals wiedersehen würde. Er wird bestimmt mit dem Auto verunglücken, redete ich mir ein, und wenn ich nachmittags von meinem Spaziergang zurückkomme, wird Frith mich bleich und entsetzt mit der Schreckensnachricht erwarten. Und dann würde der Arzt aus irgendeinem Dorfkrankenhaus anrufen und mir sagen, daß ich sehr tapfer sein und mich auf das Schlimmste gefaßt machen müsse. Nach dem Essen setzte ich mich mit einem Buch draußen unter den Kastanienbaum, aber ich las kaum eine Zeile. Und als ich Robert über den Rasen auf mich zukommen sah, wußte ich sofort: das Telephon, und fühlte mich richtig krank. «Ein Anruf vom Klub, Madam», sagte er, «Mr. de Winter läßt bestellen, daß er vor zehn Minuten angekommen ist.» Ich klappte mein Buch zu. «Danke schön, Robert. Da ist er aber sehr schnell gefahren.» «Ja, Madam, das war ein schönes Tempo.» «Hat mein Mann mir noch irgend etwas ausrichten lassen?» «Nein, Madam, nur, daß er heil angelangt wäre. Der Portier vom Klub hat in seinem Auftrag angerufen.» «Es ist gut, Robert, vielen Dank.» Die Erleichterung war ungeheuer; ich fühlte mich auf einmal wieder ganz gesund. Die Qual war vorüber. Als ob ich nach einer Kanalüberquerung endlich die Küste erreicht hätte. Plötzlich hatte ich Hunger, und als Robert wieder ins Haus gegangen war, stahl ich mich durch die Glastür ins Eßzimmer und nahm mir ein paar Kekse von der Anrichte. Sechs Stück und noch einen Apfel dazu. Ich hatte gar nicht gemerkt, daß ich so hungrig war. Ich ging in den Wald und aß dort, damit die Dienstboten mich nicht von den Fenstern aus dabei beobachten konnten. Jetzt, wo ich Maxim sicher in London wußte, fühlte ich mich wieder wohl und merkwürdig vergnügt. Ich fühlte mich so frei und ungebunden wie ein Kind an einem Samstagnachmittag. Keine Schule und keine Hausaufgaben. Noch nie hatte ich dieses Gefühl gehabt, seit ich auf Manderley lebte. Vielleicht lag es daran, daß Maxim nach London gefahren war. Dieser Gedanke entsetzte mich. Ich begriff mich selbst nicht. Ich war doch so unglücklich darüber gewesen, daß er fortfuhr. Und jetzt plötzlich diese Fröhlichkeit, diese Beschwingtheit in meinem Gang, dieses kindliche Verlangen, über den Rasen zu laufen und den Abhang hinunterzurollen. Ich wischte mir die Kekskrümel aus dem Mundwinkel und pfiff Jasper. Wahrscheinlich fühlte ich mich nur so ausgelasssen, weil es ein besonders schöner Tag war ... Wir gingen durch das Glückliche Tal zu der kleinen Bucht. Die Azaleen waren schon verblüht, die Blumen-blätter lagen braun und verschrumpelt auf dem moosigen Boden. Die Glockenblumen waren noch nicht verwelkt, sie bildeten einen dichten Teppich in dem Wäldchen oberhalb des Tales. Das Moos roch stark und würzig, und die Glockenblumen strömten einen schwachen, bitteren Erdgeruch aus. Ich legte mich in das hohe Gras, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und Jasper an meiner Seite. Irgendwo in den Bäumen über mir gurrten ein paar Tauben. Es war so friedlich und wundervoll still. Ich überlegte mir, woran es wohl lag, daß man die Schönheit der Natur so viel stärker empfindet, wenn man allein ist. Nein, ich wollte keinen Menschen bei mir haben, nicht einmal Maxim. Wenn Maxim dagewesen wäre, hätte ich nicht so faul mit geschlossenen Augen, einen Grashalm zwischen den Lippen, auf dem Rücken gelegen. Ich hätte ihn beobachtet, ihn forschend betrachtet und mich gefragt, ob er sich auch wohl fühlte oder ob er sich langweilte und worüber er wohl nachdachte. So aber konnte ich mich ausstrecken und vor mich hin dösen, weil das jetzt alles unwesentlich war. Maxim war in London. Wie schön war es doch, wieder allein zu sein. Nein, so hatte ich es nicht gemeint, das war lieblos und häßlich von mir. Das hatte ich nicht denken wollen. Maxim bedeutete mir alles auf der Welt. Ich stand auf und befahl Jasper, sich ebenfalls zu erheben. Dann gingen wir zusammen durch das Tal zum Strand hinunter. Es war Ebbe, und das Meer lag ganz ruhig und wie in einen Dunstschleier gehüllt da. Hier in der Bucht sah es wie ein stiller Binnensee aus. Es war völlig windstill, und die Sonne glitzerte auf dem Wasser, das sich mit leichtem Wellenschlag in die Tümpel zwischen den Felsen ergoß. Jasper rannte sofort, sich wiederholt nach mir umsehend, das eine Ohr zurückgelegt, was ihm ein merkwürdig verwegenes Aussehen gab, auf die Felsen hinauf. «Nicht da entlang, Jasper!» rief ich. Natürlich hörte er nicht auf mich, sondern trottete dickköpfig davon. «Was für ein Plagegeist!» sagte ich laut und kletterte hinter ihm her, während ich mir einredete, daß ich gar nicht zu der anderen Bucht hinüber wollte. Na gut, dachte ich, dann hilft das eben nichts. Schließlich ist Maxim ja nicht da. Ich watete durch die Pfützen oben auf den Felsen und summte vor mich hin. Die Bucht drüben sah jetzt bei Ebbe ganz anders aus. Nicht mehr so großartig. In dem kleinen Hafen stand das Wasser kaum drei Fuß hoch. Ein Boot würde bei dem niedrigen Wasserstand gerade noch schwimmen können, schätzte ich. Die Boje war immer noch da. Sie war weiß und grün gestrichen, was ich damals nicht bemerkt hatte. Vielleicht waren mir die Farben so grau vorgekommen, weil es an dem Tag geregnet hatte. Am Strand war diesmal kein Mensch zu sehen. Ich ging über den Kies zur anderen Seite der Bucht und stieg die niedrige Steinmauer der Mole hinauf. Jasper lief wie aus alter Gewohnheit voraus. Weiter draußen entdeckte ich einen Ring in der Mauer und eine Eisenleiter, die ins Wasser führte. Hier wurde das Segelboot wahrscheinlich festgemacht, dachte ich, und von der Leiter aus konnte man dann hineinsteigen. Die Boje befand sich gerade gegenüber, keine zehn Meter entfernt. Sie trug irgendeine Inschrift, und ich beugte mich vor und verrenkte mir fast den Hals, bis ich die Buchstaben entziffern konnte. «Je reviens.» Was für ein sonderbarer Bootsname! Boote pflegen sonst ganz andere Namen zu haben. Vielleicht war es ein französisches Boot gewesen, ein Fischerboot, das so geheißen hatte. Fischerboote hatten oft solche Namen. Ja, es war eigentlich ein ganz passender Name für ein Boot. Er hatte nur nicht für das eine Boot gepaßt, das niemals wiederkommen würde. Man mußte dort draußen hinter dem Leuchtturm am Ende der Landzunge ziemlich naß beim Segeln werden. In der Bucht war das Meer ganz ruhig, aber selbst an diesem windstillen Tag waren da draußen, wo die Strömung stärker war, weiße Schaumkronen auf der Wasserfläche zu sehen. Ein kleines Boot würde, wenn es die geschützte Bucht verlassen hatte und um die Landzunge segeln wollte, mit dem Wind segeln müssen. Die Wellen würden über die Reling schlagen und das Deck entlanglaufen. Die Frau am Steuer hatte sich nach einem solchen Sprühregen Gesicht und Haar trocken gerieben und dann besorgt zum Mast aufgesehen, ob er wohl dem Druck noch standhalten würde. Ich fragte mich, welche Farbe das Boot wohl gehabt hatte. Vielleicht grün und weiß wie die Boje. Nicht sehr groß, hatte Frank gesagt, mit einer kleinen Kajüte. Jasper schnüffelte an der Eisenleiter. «Komm her», rief ich, «ich habe nicht die Absicht, dich aus dem Wasser zu holen.» Ich ging die Mole entlang zum Strand zurück. Das kleine Haus da oben am Waldrand kam mir nicht mehr so abgelegen und düster vor. Es machte viel aus, ob die Sonne schien oder nicht. Kein Regengetrommel mehr auf dem Dach. Langsam ging ich über den Strand und dann den schmalen Weg hinauf. Schließlich war es ja nur ein unbenutztes, unbewohntes Bootshaus. Es bestand gar kein Anlaß, es unheimlich zu finden. Nicht der geringste. Jedes Haus war düster und roch modrig, wenn es längere Zeit leer stand. Selbst neue Land- und Sommerhäuschen. Außerdem waren ja hier Mondscheinpicknicks veranstaltet worden und ähnliches. Wochenendgäste waren wahrscheinlich zum Baden und Segeln hergekommen. Ich blieb eine Weile stehen und betrachtete den verwahrlosten und von Unkraut überwucherten Garten. Einer von den Gärtnern müßte hier mal Ordnung schaffen, dachte ich. Es ist doch nicht nötig, das hier alles so verwildern zu lassen. Ich stieß die Gartenpforte auf und ging auf die Haustür zu. Sie war nur angelehnt, und ich wußte doch genau, daß ich sie das letzte Mal fest verschlossen hatte. Jasper begann zu knurren und an der Türschwelle zu schnüffeln. «Nicht doch, Jasper», sagte ich. Er fuhr jedoch fort, mit der Nase am Boden herumzuschnuppern. Ich stieß die Tür auf und sah hinein. Es war sehr dunkel, genau wie damals. Es hatte sich nichts verändert. Die Spinnweben hingen noch immer an den Masten der Schiffsmodelle. Aber die Tür zum Bootsschuppen am anderen Ende des Zimmers stand offen. Jasper knurrte von neuem, und ich hörte plötzlich ein Geräusch, als ob etwas zu Boden gefallen wäre. Jasper fing laut zu bellen an und lief zwischen meinen Beinen ins Zimmer auf die offene Schuppentür zu. Ich folgte ihm mit klopfendem Herzen und blieb dann in der Mitte des Zimmers unschlüssig stehen. «Jasper, komm zurück, sei nicht albern!» sagte ich. Er stand vor der Tür und bellte noch immer, es klang geradezu hysterisch. Irgend etwas mußte da im Schuppen sein. Keine Ratte. Auf eine Ratte hätte der Hund sofort Jagd gemacht. «Jasper, Jasper, komm her!» rief ich wieder, aber er drehte sich nicht einmal nach mir um. Langsam ging ich ebenfalls auf die Tür zu. «Ist da jemand?» fragte ich. Keine Antwort. Ich beugte mich zu Jasper nieder, faßte ihn am Halsband und spähte in den Schuppen hinein. Da in der Ecke an der Wand saß jemand. Jemand, der, seiner geduckten Haltung nach zu schließen, noch mehr Angst haben mußte als ich. Es war Ben. Er versuchte sich hinter einem der Segel zu verstecken. «Was tun Sie hier, suchen Sie etwas?» fragte ich. Er blinzelte mich mit halboffenem Mund blöde an. «Ich tue nichts», sagte er schließlich. «Ruhig, Jasper!» schalt ich und legte meine Hand auf seine Schnauze. Dann nahm ich meinen Gürtel ab und be-festigte ihn an seinem Halsband, um ihn festhalten zu können. «Was suchen Sie hier, Ben?» fragte ich, jetzt schon etwas mutiger. Er antwortete nicht. Er starrte mich nur mit seinen verschmitzten Idiotenaugen an. «Ich glaube, Sie gehen besser hinaus», sagte ich. «Mr. de Winter sieht es nicht gern, wenn jemand das Haus betritt.» Verstohlen in sich hinein grinsend, erhob er sich und fuhr sich mit der Hand über die Nase. Die andere Hand hielt er hinter dem Rücken. «Was haben Sie da, Ben?» fragte ich. Er gehorchte wie ein Kind und streckte mir die Hand hin, in der eine Angelschnur lag. «Ich tue nichts», wiederholte er. «Stammt die Schnur aus dem Schuppen?» fragte ich. «Heh?» sagte er. «Hören Sie, Ben», sagte ich, «Sie können die Angelschnur behalten, wenn Sie sie gern haben wollen, aber Sie dürfen es nicht wieder tun. Man darf fremde Sachen nicht einfach wegnehmen.» Er schwieg und blinzelte mich nur an und wand sich vor Verlegenheit. «Kommen Sie jetzt mit», sagte ich energisch. Ich ging in das Zimmer zurück, und er folgte mir. Jasper hatte aufgehört zu bellen und schnüffelte jetzt an Bens Schuhen. Ich wollte mich keine Minute länger in dem Haus aufhalten und trat schnell wieder in den Sonnenschein hinaus. Ben schlurfte hinter mir her, und ich schloß die Tür zu. - «Sie gehen jetzt besser nach Hause», sagte ich zu Ben. Er hielt die Angelschnur wie einen kostbaren Schatz dicht an sein Herz gepreßt. «Sie werden mich nicht in das Asyl stecken, nein?» sagte er. Ich bemerkte, daß er vor Angst schlotterte. Seine Hände zitterten und seine Augen waren mit einem flehenden Ausdruck auf mich gerichtet, wie die einer stummen Kreatur. «Natürlich nicht», sagte ich freundlich. «Ich habe nichts getan», wiederholte er, «ich habe nie niemand was gesagt. Ich will nicht in das Asyl kommen.» Eine Träne rollte ihm über das schmutzige Gesicht. «Sie brauchen keine Angst zu haben, Ben», beruhigte ich ihn. «Niemand wird Sie fortholen. Aber Sie dürfen nicht in das Bootshaus gehen.» Ich drehte mich um, aber er lief mir nach und klopfte mir auf die Hand. «Hier», sagte er, «hier habe ich was für Sie.» Er lächelte blöde, winkte mir mit dem Finger und lief zum Strand hinunter. Ich folgte ihm, und bei den Felsen bückte er sich und hob einen flachen Stein auf, unter dem ein kleines Häuflein Muscheln lag. Er wählte eine aus und reichte sie mir. «Das ist Ihre», sagte er. «Vielen Dank», sagte ich. «Sie ist sehr hübsch.» Er grinste wieder und rieb sich das Ohr; seine Angst war offenbar vergessen. «Sie haben Engelsaugen», sagte er. Verblüfft blickte ich wieder auf die Muschel. Ich wußte wirklich nicht, was ich darauf erwidern sollte. «Sie sind nicht wie die andere», sagte er. «Was meinen Sie damit?» fragte ich. «Welche andere?» Er schüttelte den Kopf. Seine Augen nahmen wieder den verschmitzten Ausdruck an. Er legte den Zeigefinger gegen seine Nase. «Groß und dunkel war sie», sagte er. «Wie eine Schlange. Ich habe sie hier gesehen.» Er hielt inne und sah mich eindringlich an. Ich brachte kein Wort über die Lippen. «Ich habe einmal zu ihr hineingesehen», fuhr er fort, «und sie ging gleich auf mich los, jawohl. , sagte ich, und ich griff an meine Mütze, so wie jetzt.» Er zog an seinem Südwester. «Jetzt ist sie fort, weit fort, ja?» fügte er ängstlich hinzu. «Ich weiß nicht, was Sie meinen», sagte ich langsam. «Niemand wird Sie ins Irrenhaus sperren. Guten Tag, Ben.» Ich drehte mich um und ging den schmalen Weg zum Wald zurück, Jasper an meinem Gürtel hinter mir her ziehend. Der arme Kerl, er war natürlich nicht ganz richtig im Kopf und wußte gar nicht, was er da zusammenredete. Es war ziemlich unwahrscheinlich, daß ihm jemand mit dem Irrenhaus gedroht hatte. Maxim und Frank hatten beide gesagt, daß er ganz harmlos sei. Vielleicht hatte er einmal bei sich zu Hause gehört, wie darüber gesprochen wurde, und die Erinnerung daran lebte in ihm fort wie ein häßliches Bild im Gedächtnis eines Kindes. Er schien überhaupt die Mentalität eines Kindes zu besitzen, jedenfalls was seine Zu- und Abneigungen anbetraf. Zu mir war er freundlich gewesen, weil ich ihm gesagt hatte, daß er die Angelschnur behalten dürfe. Morgen würde er mich vielleicht schon nicht mehr wiedererkennen. Es war töricht, den Worten eines Schwachsinnigen irgendwelche Beachtung zu schenken. Ich wandte mich um und warf noch einen Blick auf die Bucht. Die Flut kam zurück und umspülte die kleine Mole mit ruhigem Wellenschlag. Ben war hinter den Felsen verschwunden. Der Strand lag wieder einsam da. Durch eine Lücke in den Bäumen konnte ich gerade den steinernen Schornstein des Bootshauses sehen. Mich überkam ein unerklärliches Verlangen, davonzulaufen. Ich zog an Jaspers Leine und rannte keuchend den steilen Waldweg hinauf, ohne mich noch einmal umzublicken. Und wenn man mir alle Schätze der Welt angeboten hätte, ich hätte es nicht über mich gebracht, wieder zum Strand und zu dem Bootshaus zurückzukehren. Mir war, als lauere mir dort in dem kleinen verwilderten Garten jemand auf, jemand, der mich heimlich beobachtete und belauschte. Ich beeilte mich, aus dem Wald herauszukommen, und war froh, als ich wieder auf dem Rasen angelangt war und das Haus in seiner Mulde so geschützt und geborgen vor mir liegen sah. Ich wollte Robert bitten, mir den Tee zu dem Kastanienbaum hinauszubringen. Ich sah auf die Uhr. Es war früher, als ich gedacht hatte, noch nicht vier. Ich würde mich wohl noch ein bißchen gedulden müssen. Es war nicht üblich auf Manderley, den Tee vor halb fünf zu servieren. Ich war nur froh, daß Frith heute seinen freien Nachmittag hatte. Robert würde nicht so viel Umstände machen, wenn er mir den Tee in den Garten brachte. Als ich über den Rasen zur Terrasse ging, sah ich plötzlich durch das Grün der Rhododendronblätter in der Sonne etwas Metallenes aufblitzen. Ich beschattete die Augen mit der Hand, um besser sehen zu können. Es sah wie der Kühler eines Autos aus. Zuerst dachte ich, irgend jemand sei zu Besuch gekommen, aber dann überlegte ich mir, daß ein Besucher doch vor dem Haus vorgefahren wäre und seinen Wagen nicht so versteckt hinter den Sträuchern dort unten an der Kurve stehen gelassen hätte. Als ich näher kam, sah ich, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Es war tatsächlich ein Auto. Ich konnte jetzt das Verdeck und die Kotflügel deutlich sehen. Wie merkwürdig, dachte ich. Kein Besucher pflegte sonst da auszusteigen. Und die Lieferanten hielten vor dem Hintereingang bei den alten Ställen und der Garage. Es war auch nicht Franks kleiner Morris. Den kannte ich bereits. Es war ein langer, niedriger Wagen, ein Sportwagen. Ich fragte mich, was ich tun sollte. Wenn es Besuch wäre, würde Robert ihn in die Bibliothek oder in das Wohnzimmer geführt haben. Und wenn der Besuch im Wohnzimmer wartete, würde er vom Fenster aus sehen können, wie ich über den Rasen ins Haus ging. Ich wollte mich aber in diesem Kleid nicht zeigen. Ich wollte mich erst umziehen, denn ich würde den Besuch ja wohl bitten müssen, zum Tee zu bleiben. Unschlüssig blieb ich einen Augenblick lang stehen. Aus gar keinem bestimmten Grund, vielleicht nur, weil die Sonne auf den Scheiben flimmerte, sah ich zum Haus hinauf und bemerkte dabei zu meiner Überraschung, daß die Läden von einem der Fenster im Westflügel geöffnet waren. Und an dem Fenster stand jemand - ein Mann. Er mußte mich wohl auch gesehen haben, denn er zog sich sofort zurück, und eine Gestalt hinter ihm hob einen Arm und schloß die Läden wieder. Der Arm gehörte Mrs. Danvers; ich erkannte den Ärmel ihres schwarzen Kleides. Ich dachte zunächst, daß heute der Besichtigungstag für das Publikum sei und daß sie den Leuten die Zimmer zeigte. Aber das konnte nicht sein, weil Frith das immer tat, und Frith war ja nicht da. Außerdem wurden die Räume im Westflügel dem Publikum gar nicht gezeigt. Selbst ich hatte sie noch nicht zu sehen bekommen. Nein, heute war kein Besichtigungstag. Am Dienstag kam das Publikum nicht. Vielleicht war der Mann ein Handwerker, der in einem der Zimmer etwas instand setzen sollte. Es war nur so auffällig gewesen, wie der Mann da am Fenster stand und sich sofort, nachdem er mich gesehen hatte, unsichtbar machte, und daß Mrs. Dan-vers dann gleich die Läden schloß. Und es kam mir jetzt auch sonderbar vor, daß das Auto gerade hinter den Rhododendronbüschen parkte, wo es vom Haus aus nicht gesehen werden konnte. Aber das war ja Mrs. Danvers' Angelegenheit. Mich ging das schließlich nichts an. Wenn sie einem Freund, der sie besuchte, den Westflügel zeigte, so konnte mir das gleich sein. Es war eben nur noch nie vorgekommen, und ich fand es merkwürdig, daß sie gerade an dem Tag Besuch bekam, an dem Maxim in London war. Mit einem unbehaglichen Gefühl ging ich über den Rasen zum Haus. Ich stieg die Treppe hinauf und ging durch den Eingang in die Halle. In der Garderobe erblickte ich weder Hut noch Stock, und in der Silberschale lag auch keine Visitenkarte. Es war also jedenfalls kein offizieller Besuch. Na schön, dachte ich. Es geht mich wirklich nichts an. Ich ging in das Blumenzimmer und wusch mir dort die Hände, um Mrs. Danvers und dem Fremden nicht zu begegnen. Es wäre mir sehr peinlich gewesen, ihnen plötzlich auf der Treppe gegenüberzustehen. Da mir einfiel, daß ich mein Strickzeug vor dem Essen im Morgenzimmer liegengelassen hatte, ging ich durch den Salon, um es mir zu holen, und der anhängliche Jasper wich mir nicht von den Fersen. Die Tür zum Morgenzimmer stand offen, und ich bemerkte, daß mein Strickzeug nicht mehr auf demselben Fleck lag. Ich hatte es auf das Sofa gelegt, und irgend jemand hatte es da fortgenommen und hinter ein Kissen gesteckt. Die Polsterung des Sofas war etwas eingedrückt, als ob dort erst kürzlich jemand gesessen hätte. Ja, irgend jemand mußte da gesessen und mein Strickzeug weggelegt haben, weil es ihm im Weg gewesen war. Auch der Schreibtischstuhl war zur Seite gerückt worden. Es hatte den Anschein, als ob Mrs. Danvers ihre Besuche im Morgenzimmer empfing, wenn Maxim und ich aus dem Haus waren. Ich fühlte mich sehr unbehaglich. Ich wollte am liebsten nichts davon wissen. Jasper aber beschnupperte das Sofa und wedelte plötzlich mit dem Schwanz. Er schien dem Fremden gegenüber offenbar nicht mißtrauisch zu sein. Ich nahm mein Strickzeug auf und verließ das Zimmer. Im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür, die vom Salon zu dem Steinkorridor und den hinteren Räumen führte, und ich hörte Stimmen. Ich schlich mich sofort wieder ins Morgenzimmer zurück, gerade noch rechtzeitig, um nicht gesehen zu werden. Ich wartete hinter der Tür und blickte stirnrunzelnd auf Jasper, der mit hängender Zunge und wedelndem Schwanz zu mir aufsah. Ich fürchtete, daß er mich noch verraten würde, und ich stand ganz still und hielt den Atem an. Dann hörte ich Mrs. Danvers sprechen. «Sie ist wahrscheinlich in die Bibliothek gegangen», sagte sie. «Sie ist früher nach Haus gekommen, als ich erwartete. Wenn sie wirklich in der Bibliothek ist, werden Sie durch die Halle gehen können, ohne von ihr gesehen zu werden. Warten Sie hier, bis ich mich vergewissert habe.» Ich wußte, daß sie von mir gesprochen hatte. Ich fühlte mich immer unbehaglicher. Das Ganze war ein so lächerliches Versteckspiel. Aber ich hatte gar keine Lust, Mrs. Danvers bei etwas Unrechtem zu ertappen. Plötzlich wandte Jasper den Kopf mit einem Ruck zum Salon und trottete mit wedelndem Schwanz aus dem Zimmer. «Hallo, du kleiner Köter», hörte ich den Mann sagen. Jasper fing an laut zu bellen. Ich sah mich verzweifelt nach einem Versteck um, aber das war natürlich aussichtslos. Und dann hörte ich Schritte, und der Mann kam herein. Zuerst sah er mich nicht, weil ich ja hinter der Tür stand, aber Jasper sprang, immer noch freudig bellend, an mir hoch. Daraufhin drehte sich der Mann um und erblickte mich. Ich habe nie wieder einen Menschen so erstaunt gesehen. Als ob er der Herr des Hauses und ich der Eindringling gewesen wäre. «Oh, pardon», sagte er, während er mich ungeniert musterte. Er war groß und stämmig und sah mit seinem braungebrannten Gesicht und dank einer gewissen saloppen Eleganz nicht schlecht, aber auch nicht gut aus. Er hatte die auffallend glänzenden blauen Augen, die man häufig bei einem Gewohnheitstrinker antrifft und die meist auf einen ausschweifenden Lebenswandel schließen lassen. Sein Haar war rötlich wie seine Haut. In ein paar Jahren würde er sicher dick werden, dachte ich, und der Hals würde hinten über dem Kragen eine Speckfalte ansetzen. Aber es war vor allem sein Mund, der ihn verriet: er war zu rot, zu weich und ausdruckslos. Von meinem Platz aus konnte ich seinen whisky durchtränkten Atem riechen. Er begann zu lächeln, wie er wohl jede Frau anzulächeln pflegte. «Ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt», sagte er. Ich trat aus meinem Versteck hervor und sah bestimmt genauso dümmlich aus, wie ich mich fühlte. «Nein, durchaus nicht», erwiderte ich. «Ich hörte Stimmen und wußte nicht, wer es war. Ich erwartete heute nachmittag gar keinen Besuch.» «Das tut mir aber leid», sagte er liebenswürdig. «Es ist wirklich ungehobelt von mir, so bei Ihnen hereinzuplatzen. Hoffentlich können Sie mir verzeihen. Ich bin tatsächlich nur vorbeigekommen, um die gute Danny einmal wiederzusehen; sie ist nämlich eine sehr alte Freundin von mir.» «Oh, natürlich», sagte ich, «warum sollten Sie nicht?» «Die gute alte Danny», sagte er, «sie ist immer so besorgt, daß sie irgendeinen Menschen stören könnte. Sie wollte Ihnen auf keinen Fall Ungelegenheiten machen.» «Oh, es macht wirklich nichts», sagte ich. Ich beobachtete Jasper, der entzückt an dem Mann hochsprang. «Der kleine Lump hat mich also nicht vergessen?» sagte er. «Er hat sich aber mächtig rausgemacht. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er noch sehr jung. Aber zu dick ist er geworden; er braucht mehr Bewegung.» «Ich habe einen langen Spaziergang mit ihm gemacht», sagte ich. «Ja, wirklich? Wie sportlich von Ihnen!» Er tätschelte den Hund und lächelte mich vertraulich an. Dann zog er sein Zigarettenetui aus der Tasche. «Mögen Sie eine?» fragte er. «Ich rauche nicht», teilte ich ihm mit. «Ach nein, wirklich?» Er nahm sich selbst eine Zigarette und zündete sie an. Es hatte mich nie gestört, wenn in meiner Gegenwart geraucht wurde, aber es befremdete mich, daß er es ohne zu fragen in meinem Zimmer tat. Das war doch wohl ein ziemlich rüpelhaftes Benehmen und sehr unhöflich mir gegenüber. «Wie geht es Max?» fragte er. Das klang ja so, als sei der Mann ein guter alter Bekannter von Maxim, dachte ich überrascht. Es war so merkwürdig, von Maxim als Max sprechen zu hören. Niemand nannte ihn sonst so. «Sehr gut, danke», entgegnete ich. «Er ist nach London gefahren.» «Und hat sein junges Frauchen ganz allein gelassen? Das ist aber nicht recht von ihm. Hat er denn gar keine Angst, daß irgend jemand kommen und Sie entführen könnte?» Er lachte mit weit offenem Mund. Sein Lachen gefiel mir nicht. Es hatte etwas Beleidigendes. Der Mann selbst gefiel mir auch nicht. In diesem Augenblick betrat Mrs. Danvers das Zimmer. Sie wandte mir ihren Blick zu, und ich fühlte einen Kälteschauer. O Gott, dachte ich, wie muß sie mich hassen! «Hallo, Danny, da sind Sie ja wieder», sagte der Mann. «Ihre ganze Vorsicht ist vergeblich gewesen. Die Dame des Hauses hatte sich hinter der Tür versteckt.» Und er lachte wieder. Mrs. Danvers schwieg und sah mich ununterbrochen an. «Wollen Sie mich nicht vorstellen?» sagte er. «Schließlich gehört es sich doch, nicht wahr, der Dame des Hauses seine Reverenz zu machen.» «Das ist Mr. Favell, Madam», sagte Mrs. Danvers. Sie sprach ruhig, fast unwillig. Ich glaube, sie wollte ihn mir gar nicht vorstellen. «Sehr erfreut», murmelte ich, und bemüht, höflich zu sein, fügte ich hinzu: «Wollen Sie nicht zum Tee bleiben?» Er sah sehr amüsiert aus. «Na, ist das nicht eine reizende Einladung?» sagte er zu Mrs. Danvers. «Ich bin aufgefordert worden, zum Tee zu bleiben. Bei Gott, Danny, ich hätte große Lust dazu.» Ich sah, wie sie ihm einen warnenden Blick zuwarf. Ich fühlte mich sehr unbehaglich. Diese Situation war unmöglich. Es hätte gar nicht dazu kommen dürfen, dachte ich. «Na ja, vielleicht haben Sie recht», sagte er. «Aber trotzdem - es wäre ein Riesenspaß gewesen. Es ist wohl richtiger, ich empfehle mich jetzt, wie? Kommen Sie und sehen Sie sich meinen Wagen an», sagte er dann zu mir. Er sprach noch immer in diesem vertraulichen, ziemlich unverschämten Ton. Ich wollte mir seinen Wagen nicht ansehen. Ich fühlte mich unbeholfen und verlegen. «Kommen Sie nur», drängte er, «es ist ein sehr nettes kleines Wägelchen, viel schneller als jeder Wagen, den der gute Max sich je angeschafft hat.» Es fiel mir keine Ausrede ein. Dieses Gerede klang so gezwungen und unecht. Es war mir einfach zuwider. Und warum sah Mrs. Danvers mich fortwährend mit diesem verschlagenen Funkeln in ihrem Blick an? «Wo steht der Wagen denn?» fragte ich zaghaft. «An der Kurve in der Anfahrt. Ich bin nicht vorgefahren, weil ich fürchtete, daß ich Sie vielleicht stören könnte. Ich nahm an, daß Sie nach Tisch etwas ruhen würden.» Ich erwiderte nichts. Die Lüge war zu offenkundig. Wir gingen alle drei durch den Salon in die Halle. Ich sah, wie Mr. Favell Mrs. Danvers zublinzelte und ihr zunickte. Sie reagierte gar nicht darauf, ganz wie ich es von ihr erwartet hatte. Sie sah böse und abweisend aus. Jasper lief sofort nach draußen, wo er fröhlich herumsprang. Das plötzliche Auftauchen dieses Besuchers, den er so gut zu kennen schien, hatte ihn ganz aus dem Häuschen gebracht. «Ich glaube, ich habe meine Mütze im Wagen liegenlassen», sagte der Mann, während er sich angeblich suchend in der Halle umsah. «Stimmt, ja, ich bin nämlich gar nicht hier hereingekommen, sondern habe Danny gleich in ihrer Höhle überfallen. Wollen Sie sich nicht auch den Wagen ansehen, Danny?» Er sah Mrs. Danvers fragend an. Sie zögerte, während sie mich verstohlen betrachtete. «Nein», sagte sie, «ich werde mich lieber hier von Ihnen verabschieden. Leben Sie wohl, Mr. Jack.» Er ergriff ihre Hand und schüttelte sie herzlich. «Leben Sie wohl, Danny, und lassen Sie sich's gutgehen. Sie wissen jetzt, wo Sie mich in Zukunft erreichen können. Es hat mir wirklich gutgetan, Sie wiederzusehen.» Er ging nach draußen; Jasper tanzte vor ihm her, und ich folgte langsam, so unbehaglich mir auch noch immer zumute war. «Das gute, alte Manderley!» sagte er, zu den Fenstern aufsehend. «Es hat sich eigentlich gar nicht verändert. Danny paßt schon auf, nehme ich an. Sie ist doch wirklich ein Prachtmensch, nicht wahr?» «Ja, sie ist sehr tüchtig», sagte ich. «Und wie kommen Sie sich hier vor? Gefällt es Ihnen, so auf dem Land begraben zu sein?» «Ich fühle mich auf Manderley sehr wohl», erwiderte ich steif. «Lebten Sie nicht irgendwo unten in Südfrankreich, als Max Sie kennenlernte? In Monte, nicht wahr? Ich kenne Monte von früher her sehr gut.» «Ja, ich war in Monte Carlo», sagte ich. Wir waren inzwischen bei seinem Wagen angelangt, einem hellgrünen Sportwagen, der irgendwie typisch für ihn war. «Na, wie finden Sie ihn?» fragte er. «Sehr hübsch», sagte ich höflich. «Wie steht es mit einer kleinen Probefahrt bis zum Parktor?» sagte er. «Nein, lieber nicht», sagte ich. «Ich bin ziemlich müde.» «Sie fürchten wohl, es würde nicht gerade einen guten Eindruck machen, wenn die Herrin von Manderley neben einem Menschen wie ich im Auto gesehen wird, stimmt's?» sagte er lachend und schüttelte bedauernd den Kopf. «Oh, nein», sagte ich, rot werdend, «wirklich nicht.» Er starrte mich immer noch auf diese belustigte Art mit seinen zudringlichen, unsympathischen blauen Augen von Kopf bis Fuß an. Wie ein Barmädchen kam ich mir vor. «Natürlich», sagte er, «wir dürfen die kleine Frau nicht auf Abwege führen, was, Jasper? Das schickt sich nicht.» Er griff nach seiner Mütze und einem riesigen Paar Autohandschuhe. Seine Zigarette warf er einfach auf den Weg. «Auf Wiedersehen», sagte er, mir seine Hand hinstrek-kend. «Es war mir ein großes Vergnügen, Sie kennenzulernen.» «Auf Wiedersehen», sagte ich. «Übrigens», meinte er leichthin, «es wäre riesig anständig von Ihnen, wenn Sie Max von meinem kleinen Besuch heute nichts erzählen würden. Ich glaube, er schätzt mich nicht übermäßig, ich weiß nicht, warum. Und die gute alte Danny würde es vielleicht ausbaden müssen.» «Schon gut», sagte ich verlegen. «Ich werde nichts sagen.» «Das ist sehr nett von Ihnen. Wollen Sie nicht doch noch ein bißchen mitfahren?» «Nein, bitte, ich möchte wirklich nicht.» «Na, also dann auf Wiedersehen. Vielleicht komme ich mal wieder vorbei und besuche Sie. Nimm die Pfoten runter, Jasper, du kratzt mir sonst noch den Lack ab, du kleiner Teufel. Ich finde es wirklich unrecht von Max, nach London zu fahren und Sie hier allein zu lassen.» «Das macht mir gar nichts, ich bin gern allein», sagte ich. «Wahrhaftig? Na, das ist allerdings erstaunlich. Es ist aber gar nicht gut, wissen Sie? Gegen jedes Naturgesetz. Wie lange sind Sie verheiratet? Erst drei Monate, wie?» «Ja», sagte ich. «Na, ich wünschte, ich hätte eine so junge Frau, die zu Hause auf mich wartet. Aber ich bin ein armer, einsamer Junggeselle.» Er lachte wieder und zog sich die Mütze tief in die Stirn. «Leben Sie wohl, Verehrteste», sagte er, während er den Motor anließ, und dann schoß der Wagen, Gift und Galle aus dem knallenden Auspuff spuckend, davon, und Jasper sah ihm mit hängenden Ohren und eingekniffenem Schwanz wehmütig nach. «Komm her, Jasper», rief ich, «sei nicht so albern», und ging langsam zum Haus zurück. Mrs. Danvers war verschwunden. In der Halle blieb ich stehen und läutete. Mindestens fünf Minuten lang ereignete sich nichts. Ich läutete wieder. Schließlich erschien Alice mit einem ziemlich bekümmerten Gesicht. «Ja, Madam?» sagte sie. «Ist denn Robert nicht da, Alice?» fragte ich. «Ich hätte gern meinen Tee unter der Kastanie getrunken.» «Robert ist nach dem Essen zur Post gegangen und noch nicht wieder zurück, Madam», sagte Alice. «Mrs. Danvers hatte ihm gesagt, daß Sie Ihren Tee heute später trinken würden. Und Frith hat ja seinen freien Tag. Wenn Sie Ihren Tee gleich haben möchten, werde ich ihn holen. Ich glaube, es ist noch nicht halb fünf.» «Nein, lassen Sie nur, Alice, ich warte, bis Robert zurückkommt», sagte ich. Offenbar ließ die straffe Ordnung im Haushalt sofort nach, wenn Maxim nicht da war. Es war mir gar nicht in den Sinn gekommen, daß Frith und Robert gleichzeitig aus dem Haus gehen durften. Ich wußte natürlich, daß Frith heute seinen freien Tag hatte. Und Robert war von Mrs. Danvers zur Post geschickt worden. Und von mir hatte sie angenommen, daß ich einen längeren Spaziergang machen würde. Dieser Mr. Favell hatte den Zeitpunkt für seinen Besuch bei Mrs. Danvers gut gewählt, fast zu gut. Irgend etwas stimmte da nicht, das wurde mir jetzt nur allzu klar. Und dann hatte er mich noch gebeten, Maxim nichts davon zu sagen. Es war alles so unverständlich. Ich wollte Mrs. Danvers keine Ungelegenheiten bereiten oder irgendeine Szene machen. Aber vor allem wollte ich Maxim nicht beunruhigen. Wer dieser Favell wohl sein mochte? Er hatte Maxim «Max» genannt. Niemand nannte ihn sonst so. Ich hatte den Namen Max nur einmal auf der Titelseite eines Buches gesehen, in dünnen, schrägen, merkwürdig spitzen Schriftzügen, das M mit einem auffallend langen energischen Schlußbogen. Ich glaubte, es hätte nur einen einzigen Menschen gegeben, der Maxim so zu nennen pflegte ... Während ich so in der Halle stand und mir überlegte, was ich bis zum Tee noch anfangen sollte, kam mir plötzlich der Gedanke, daß Mrs. Danvers vielleicht gar nicht die treue Seele war, für die sie immer gehalten wurde, daß sie womöglich schon seit längerer Zeit hinter Maxims Rücken in irgendwelche Heimlichkeiten verwickelt war und ich sie heute, als ich unerwartet früher zurückkam, zufällig mit ihrem Komplizen überrascht hatte. Und dieser Favell hatte daraufhin einfach so getan, als sei er ein alter Bekannter von Maxim und früher auf Manderley aus- und eingegangen. Ich fragte mich, was sie wohl gerade im Westflügel zu suchen gehabt hatten, und ich war von einer unbestimmten Unruhe erfüllt. Warum hatten sie die Läden geschlossen, als sie mich unten auf dem Rasen gesehen hatten? Frith und Robert waren nicht da. Die Mädchen waren um diese Tageszeit meist damit beschäftigt, ihre eigenen Zimmer aufzuräumen. Mrs. Danvers konnte also sicher sein, nicht gestört zu werden. Vielleicht war dieser Favell ein Dieb und Mrs. Danvers befand sich in seiner Gewalt? Im Westflügel sollten so viele Wertsachen sein. Ich hatte plötzlich den wilden Einfall, jetzt gleich in den Westflügel gehen zu müssen, um mich selbst davon zu überzeugen. Robert war noch nicht zurückgekehrt. Ich würde also vor dem Tee noch Zeit haben. Trotzdem zögerte ich etwas und blickte furchtsam zur Galerie hinauf. Das Haus schien ganz ruhig. Die anderen Dienstboten befanden sich offen-bar in ihren Zimmern hinter den Küchenräumen. Jasper schlabberte geräuschvoll das Wasser aus seinem Trinknapf unter der Treppe. Mit wildklopfendem Herzen stieg ich nach oben. 14 Ich befand mich wieder auf dem Korridor, in den ich mich an jenem ersten Morgen auf Manderley verirrt hatte. Ich war seitdem nicht dort gewesen und hatte auch gar keine Lust verspürt, den Westflügel aufzusuchen. Die Sonne strömte durch das Fenster in der Nische und malte ein goldenes Muster auf das dunkle Holzpaneel. Es herrschte eine Totenstille, und ich nahm denselben dumpfigen Geruch einer unbenutzten Wohnung wahr, der mir schon das erste Mal aufgefallen war. Ich wußte nicht, welche Tür ich öffnen sollte. Die Lage der Räume war mir ja nicht bekannt. Dann fiel mir ein, daß Mrs. Danvers damals genau hinter mir aus einer Tür getreten war, die, wie ich jetzt nach kurzer Überlegung feststellte, sehr wohl in das Zimmer führen konnte, dessen Fenster auf den Rasen und auf das Meer hinaussahen. Ich drehte am Türknopf und ging hinein. Drinnen war es dunkel, da die Läden geschlossen waren. Ich tastete nach dem Schalter und knipste das Licht an. Ich stand in einem kleinen Vorraum, offenbar einem Ankleidezimmer, denn rundherum an den Wänden sah ich lauter große Kleiderschränke. Eine zweite offenstehende Tür führte in das benachbarte große Schlafzimmer. Ich ging hinüber und machte auch dort Licht. Zunächst bekam ich einen Schreck, weil das Zimmer einen ganz bewohnten Eindruck machte. Ich hatte erwartet, Stühle und Tische und auch das große Doppelbett an der Wand verhüllt vorzufinden, aber nichts war zugedeckt. Auf dem Frisiertisch lagen sogar Kämme und Bürsten, standen Puderdosen und Parfümflakons. Das Bett war frisch bezogen; ich sah das weiße Leinen des Kopfkissenbezuges aufleuchten und das Laken unter der aufgeschlagenen Daunensteppdecke hervorlugen. Und überall standen Blumen: auf dem Frisiertisch, auf dem Nachttisch und auf dem marmornen Kaminsims. Ein seidener Morgenrock hing ausgebreitet über einem Stuhl, und davor standen ein Paar Pantoffeln. Eine Sekunde lang bildete ich mir in meiner Bestürzung ein, daß in meinem Gehirn irgendeine Veränderung vor sich gegangen wäre, daß ich in die Vergangenheit zurückblickte und das Zimmer vor mir sah, wie es vor ihrem Tode ausgesehen hatte . In der nächsten Minute würde Rebecca selbst ins Zimmer treten, sich vor den Spiegel am Frisiertisch setzen, irgendeine Melodie vor sich hin summen, nach ihrem Kamm greifen und sich das Haar kämmen. Das Ticken der Wanduhr brachte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Die Zeiger standen auf fünf Minuten vor halb fünf. Meine Armbanduhr zeigte die gleiche Zeit an. Das Ticken hatte etwas so beruhigend Normales; es erinnerte mich an die Gegenwart und daran, daß der Teetisch auf dem Rasen bald für mich gedeckt würde. Langsam ging ich in die Mitte des Zimmers. Nein, es wurde nicht mehr benutzt. Niemand wohnte mehr darin. Selbst der Blumenduft konnte den muffigen Geruch nicht vertreiben. Die Vorhänge waren zugezogen und die Läden geschlossen. Rebecca würde dieses Zimmer nie wieder betreten. Mochte Mrs. Danvers auch Blumen auf den Kamin stellen und die Bettdecke zurückschlagen, sie würde sie damit nicht wieder lebendig machen. Rebecca war tot. Sie war schon vor einem Jahr gestorben und lag neben den anderen toten de Winters in der Familiengruft. Ich konnte das Meeresrauschen deutlich hören. Ich trat ans Fenster und stieß die Läden auf. Ja, ich stand an demselben Fenster, an dem Mrs. Danvers und Favell vor einer halben Stunde gestanden hatten. Der helle Tagesschein ließ das künstliche Licht unecht und noch gelber erscheinen. Ich machte die Läden noch etwas weiter auf. Das Tageslicht warf einen weißen Schein auf das Bett und auf die Tasche mit dem Nachthemd, die auf dem Kopfkissen lag. Es fiel auf die Glasplatte des Frisiertischs und auf die Bürsten und Parfümflaschen. Jetzt erst bemerkte ich, wie mir die Knie zitterten. Ich setzte mich auf den Sessel vor dem Toilettentisch. Mein Herz hatte aufgehört, so laut und heftig zu klopfen, es war schwer wie Blei. Ich sah mich mit einer Art blödem Staunen im Zimmer um. Ja, es war ein sehr schöner Raum; Mrs. Danvers hatte an jenem ersten Abend nicht übertrieben. Sicherlich war es das schönste Zimmer im ganzen Haus. Dieser formvollendete Marmorkamin, das geschnitzte Bett und die schweren Seidenvorhänge, auch die Wanduhr und die Messingleuchter vor mir auf dem Tisch waren Dinge, die ich geliebt und bewundert hätte, hätten sie mir gehört. Aber sie gehörten mir ja nicht, sie gehörten einer anderen. Ich streckte meine Hand aus und strich mit den Fingern über die Haarbürsten. Die eine sah viel gebrauchter aus als die andere. Ich fand das sehr verständlich. Man benutzte wohl niemals beide Bürsten gleichzeitig, und wenn sie gewaschen werden sollten, fiel es auf, daß die eine noch ganz sauber und fast unberührt war. Wie blaß und mager mein Gesicht im Spiegel aussah und wie strähnig mir das Haar von der Stirn hing! Sah ich denn immer so aus? Im allgemeinen hatte ich wohl doch etwas mehr Farbe? Bleich und unschön starrte mein Spiegelbild mich an. Ich stand wieder auf und befühlte den Morgenrock auf dem Stuhl. Ich hob die Pantoffeln auf und hielt sie ein Weilchen in meiner Hand. Ich empfand eine Art Grauen, das immer stärker wurde, ein Grauen, das in Verzweiflung umschlug. Ich berührte die Steppdecke auf dem Bett und fuhr mit dem Finger den ineinander verschlungenen Buchstaben des Monogramms auf der Nachthemdtasche nach, einem mit Perlgarn gestickten R de W, das reliefartig von dem goldenen Seidenbrokat abstach. Das Nachthemd selbst war aprikosenfarben und so dünn wie Spinnweben. Ich zog es heraus und hielt es einen Augenblick an mein Gesicht. Es fühlte sich ganz kalt an. Aber es haftete ihm noch ein fader, süßlicher Parfümgeruch an, der mich wieder an den Duft der weißen Azaleen erinnerte. Ich faltete es zusammen und legte es in die Tasche zurück, und als ich das tat, bemerkte ich mit einem dumpfen Schmerzgefühl, daß es ganz zerknittert und das feine Gewebe an vielen Stellen schon brüchig war - das Hemd war nicht gewaschen worden, seitdem Rebecca es zum letztenmal getragen hatte ... Von einem plötzlichen Impuls getrieben, ging ich in den kleinen Vorraum zurück, in dem die Schränke standen. Ich schloß den einen auf. Er hing voller Kleider, wie ich gedacht hatte, Abendkleider offenbar, denn unter den weißen Tüchern sah an dem einen Bügel ein Silberstreifen, an einem anderen ein Stückchen Goldbrokat hervor. Auch ein weinrotes Samtkleid sah ich und eine lange weiße Seidenschleppe, die am Boden schleifte. Und oben auf dem Bord lag ein Fächer aus Straußenfedern. Im Schrank roch es merkwürdig muffig. Der zarte Azaleenduft, den ich im Freien als so wohlriechend empfunden hatte, war hier im Schrank ganz schal geworden und wehte mir von den parfümierten Kleidern zwischen den offenen Türen wie verbrauchter Atem entgegen. Ich machte den Schrank zu und ging wieder ins Schlafzimmer. Der Lichtschein aus dem offenen Fenster fiel noch immer auf die goldfarbene Bettdecke und ließ das große schräge R im Monogramm deutlich hervortreten. Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir, und als ich mich umdrehte, sah ich Mrs. Danvers. Ich werde niemals den eigenartigen, fast krankhaft erregten Ausdruck in ihrem Gesicht vergessen, diesen triumphierenden Blick, mit dem sie mich hämisch anstarrte. Ich fürchtete mich vor ihr. «Ist irgend etwas nicht in Ordnung, Madam?» fragte sie. Ich versuchte sie anzulächeln und brachte es nicht fertig; ich versuchte zu sprechen und konnte es nicht. «Ist Ihnen nicht gut?» sagte sie nähertretend mit freundlich gedämpfter Stimme. Ich fühlte ihren Atem auf meinem Gesicht und wich vor ihr zurück. Ich glaube, wenn sie mir noch näher gekommen wäre, wäre ich ohnmächtig geworden. «Mir fehlt gar nichts, Mrs. Danvers», sagte ich schließlich. «Sie haben mich nur etwas erschreckt, weil ich Sie nicht kommen hörte. Ich habe unten vom Rasen aus gesehen, daß die Läden hier nicht dicht waren, und ging hinauf, um sie zu schließen.» «Ich werde sie schließen», sagte sie und ging leise durch das Zimmer und schlug die Läden zu. In dem gelben künstlichen Licht sah das Zimmer jetzt wieder unwirklich und gespenstisch aus. Mrs. Danvers kam zu mir zurück und blieb neben mir stehen. Sie lächelte, und ihre Haltung, die mir gegenüber sonst immer so überlegen herablassend gewesen war, bekam auf einmal etwas erschreckend Vertrauliches, geradezu Kriecherisches. «Warum erzählen Sie mir, daß der Laden nicht dicht war?» sagte sie. «Ich hatte ihn geschlossen, bevor ich aus dem Zimmer ging. Sie haben ihn selbst wieder aufgemacht, nicht wahr? Sie wollten endlich das Zimmer sehen. Warum haben Sie mich nicht schon früher darum gebeten, es Ihnen zu zeigen? Ich wäre jeden Tag bereit gewesen, Sie heraufzuführen. Sie hätten es mir nur zu sagen brauchen.» Ich wollte fortlaufen, aber ich konnte mich nicht bewegen, als ob ich von ihr hypnotisiert wäre. «Aber nun sind Sie ja hier, und jetzt lassen Sie mich Ihnen auch alles zeigen», sagte sie mit honigsüßer, widerlich falscher einschmeichelnder Stimme. «Ich weiß, daß Sie gern alles sehen möchten. Sie wollten es schon lange, nicht wahr, und waren nur zu scheu, es mir zu sagen. Ist es nicht ein entzückendes Zimmer? Sicher das hübscheste Zimmer, das Sie je gesehen haben.» Sie faßte mich am Arm und führte mich zum Bett. Ich konnte mich ihrer nicht erwehren. Die Berührung ihrer Hand machte mich schaudern, und sie sprach in einem eindringlichen Flüsterton, den ich zugleich verabscheute und fürchtete. «Hier schlief sie. Ein wunderschönes Bett, nicht wahr? Ich habe diese goldfarbene Überdecke darauf gelegt, weil sie sie am liebsten hatte. Hier in der Tasche ist ihr Nachthemd. Sie haben es sich schon angesehen, nicht wahr? Dieses Nachthemd hat sie zum letztenmal in der Nacht vor ihrem Tod getragen. Wollen Sie es nicht noch einmal anfassen?» sie nahm das Nachthemd aus der Tasche und hielt es mir hin. «Fühlen Sie nur», sagte sie, «wie weich und leicht es ist. Ich habe es nicht mehr gewaschen, seit sie es zum letztenmal getragen hat. Ich habe es hier auf das Kissen gelegt und ihren Morgenrock da auf den Stuhl, genau wie in der Nacht, als sie nicht mehr zurückkehrte -wie in der Nacht, in der sie ertrunken ist.» Sie faltete das Nachthemd zusammen und legte es in die Tasche zurück. «Ich bin auch ihre Zofe gewesen», sagte sie, während sie mich wieder am Arm nahm und zu dem Stuhl mit dem Morgenrock führte. «Wir haben es mit den verschiedensten Mädchen versucht, aber keine konnte es ihr recht machen. , sagte sie zu mir, Sehen Sie, das ist ihr Morgenrock. Sie war viel größer als Sie, das sieht man an der Länge. Halten Sie ihn sich doch mal an. Ja, Ihnen reicht er bis zu den Füßen. Sie hatte eine wunderbare Figur. Und das sind ihre Pantoffeln. , sagte sie immer. Sie hatte sehr kleine Füße für ihre Größe. Legen Sie mal die Hand hinein. Sie sind klein und schmal, nicht wahr?» Lächelnd, ohne mich aus den Augen zu lassen, schob sie mir die Pantoffeln über die Hände. «Ja, sie hatte auffallend kleine Füße, das hätte man bei ihrer Größe nie gedacht. Und wie schlank sie dabei war! Wenn sie nicht neben mir stand, vergaß ich ihre Länge immer. Sie war auf den Zentimeter genauso groß wie ich. Aber wenn sie im Bett lag, sah sie beinahe winzig aus, mit dieser dichten schwarzen Lockenfülle, die ihr Gesicht wie ein dunkler Heiligenschein umrahmte.» Sie stellte die Pantoffeln auf den Boden und hängte den Morgenrock wieder über den Stuhl. «Haben Sie sich ihre Bürsten angesehen?» fragte sie, während sie mich zur Frisiertoilette zurückführte. «Da liegen sie, so, wie sie sie immer hingelegt hat; ich habe sie absichtlich nicht gewaschen. Jeden Abend habe ich ihr das Haar gebürstet. rief sie, und ich stellte mich hier hinter den Sessel und bürstete ihr zwanzig Minuten lang das Haar. Sie trug es erst in den letzten Jahren so kurz; als sie heiratete, ging es ihr noch bis zu den Hüften. Damals hat Mr. de Winter es noch immer gebürstet. Wie oft bin ich hier ins Zimmer gekommen und habe ihn in Hemdsärmeln mit den beiden Bürsten in der Hand hin-ter dem Sessel stehen sehen. sagte sie und wandte sich lachend nach ihm um, und er bürstete das Haar so kräftig, wie sie es haben wollte. Sie zogen sich gerade zum Abendessen um, wissen Sie, und das ganze Haus war immer voller Gäste. , sagte er dann, ebenfalls lachend, während er mir die Bürsten zuwarf. Er war damals immer so vergnügt und lachte viel.» Sie machte eine kleine Pause, hielt aber meinen Arm noch immer fest. «Alle haben sie ihr Vorwürfe gemacht, als sie sich das Haar schneiden ließ», fuhr sie fort. «Aber das war ihr ganz egal. , meinte sie nur. Und zum Reiten und Segeln war das kurze Haar ja auch viel praktischer. Sie ist von einem berühmten Künstler zu Pferde gemalt worden. Das Bild war in der Akademie ausgestellt. Haben Sie es vielleicht gesehen?» Ich schüttelte den Kopf. «Nein», sagte ich, «nein, ich kenne das Bild nicht.» «Es soll das beste Porträt in der ganzen Ausstellung gewesen sein», sprach sie weiter, «aber Mr. de Winter mochte es nicht und wollte es nicht auf Manderley haben. Ich glaube, er fand, daß der Maler ihrer Schönheit nicht gerecht geworden ist. Ihre Kleider wollen Sie sich doch gewiß auch ansehen, oder?» fügte sie im selben Atemzug hinzu und führte mich, ohne meine Antwort abzuwarten, in das Ankleidezimmer, wo sie die Schränke der Reihe nach aufschloß. «Hier bewahre ich ihre Pelze auf», sagte sie. «Da ist noch keine einzige Motte drin gewesen. Fühlen Sie mal den Zobelmantel da. Den hat Mr. de Winter ihr zu Weihnachten geschenkt. Sie hat mir einmal gesagt, was der ge-kostet hat, aber ich habe es wieder vergessen. Diesen Chinchillakragen hat sie abends besonders oft getragen, lose um die Schultern gehängt, wenn die Abende kühler wurden. In dem Schrank hängen nur ihre Abendkleider. Den haben Sie schon geöffnet, nicht wahr? Das Schloß ist ja nur eingeschnappt. Ich glaube, Mr. de Winter sah sie am liebsten in Silber, aber sie konnte eigentlich jede Farbe tragen. In diesem Samtkleid sah sie wunderschön aus. Halten Sie es sich mal ans Gesicht. Fühlen Sie, wie weich der Stoff ist? Und er riecht immer noch nach ihrem Parfüm. Man könnte fast glauben, sie hätte das Kleid gerade erst ausgezogen. Ich merkte immer, wenn sie vor mir in einem Zimmer gewesen war. Es hing dann immer noch ein leichter Duft von ihrem Parfüm in der Luft. Da in der Schublade liegt ihre Wäsche. Diese rosa Garnitur hat sie gar nicht mehr getragen. Als das Unglück passierte, trug sie natürlich ihren Segelanzug. Aber die Strömung hat ihr alles vom Leib gerissen. Als man sie nach den vielen Wochen fand, war sie ganz nackt.» Ihre Finger gruben sich noch fester in meinen Arm. Sie beugte sich zu mir nieder, ihr bleiches Totenkopfgesicht unmittelbar vor mir, und sah mir tief in die Augen. «Die Felsen hatten sie fast ganz zerschmettert», flüsterte sie, «ihr schönes Gesicht völlig verstümmelt und beide Arme abgeschlagen. Mr. de Winter hat sie identifiziert. Er ist ganz allein nach Edgecoombe gefahren. Er war damals sehr krank, aber er bestand darauf, hinzufahren. Niemand konnte ihn davon abbringen, nicht einmal Mr. Crawley.» Sie hielt inne, ohne ihren Blick von mir zu lassen. «Ich werde mir ewig Vorwürfe machen, weil ich mich für das Unglück verantwortlich fühle. Es war meine Schuld, weil ich an jenem Abend nicht zu Hause war. Ich war am Nachmittag nach Kerrith gegangen und länger dort geblieben, weil Mrs. de Winter nach London gefahren war und erst spät am Abend zurückerwartet wurde. Deshalb hatte ich es nicht so eilig mit der Rückkehr. Als ich um halb neun hier ankam, hörte ich, daß sie bereits um sieben Uhr zurückgekommen und gleich nach dem Essen wieder fortgegangen war. Zum Strand natürlich. Ich machte mir Sorgen. Vom Westen her kam nämlich ein Sturm auf. Sie wäre bestimmt nicht aus dem Haus gegangen, wenn ich dagewesen wäre. Sie hat immer auf mich gehört. , hätte ich ihr gesagt, , und sie hätte mir darauf höchstens mit einem geantwortet und wäre geblieben. Und wir hätten uns hier vor dem Schlafengehen noch etwas unterhalten, und sie hätte mir wie immer erzählt, was sie den ganzen Tag in London getan hatte.» Mein Arm tat mir richtig weh und fühlte sich unter dem festen Druck ihrer Finger wie gelähmt an. Und immer noch war ihr Gesicht dicht vor mir, und ich sah, wie straff die Haut darüber gespannt war und wie scharf die Bak-kenknochen hervortraten. Und unter ihren Ohren entdeckte ich merkwürdige gelbe kleine Flecken. «Mr. de Winter hatte bei Mr. Crawley im Verwalterhaus zu Abend gegessen», fuhr sie wieder fort. «Ich weiß nicht mehr genau, wann er nach Hause kam, aber ich glaube, es war nach elf. Und kurz vor Mitternacht fing es an, heftig zu stürmen, und sie war noch immer nicht da. Ich ging nach unten, aber alle Zimmer waren dunkel. Dann ging ich wieder nach oben und klopfte an die Tür des Ankleidezimmers, in dem noch Licht brannte. Mr. de Winter antwortete sofort. fragte er. Ich sagte ihm, daß ich mir Sorgen machte, weil Mrs. de Winter noch nicht wiedergekommen war, und nach einem kleinen Augenblick machte er mir im Schlafrock die Tür auf. , sagte er. Er sah müde aus, und ich wollte ihn nicht auch noch beunruhigen. Sie hatte ja auch schon öfters im Bootshaus übernachtet und war schon bei jedem Wetter mit dem Boot draußen gewesen. Vielleicht hatte sie gar nicht segeln, sondern nur nach dem Tag in der Stadt etwas frische Luft haben wollen, dachte ich. Ich sagte Mr. de Winter gute Nacht und ging in mein Zimmer zurück. Aber schlafen konnte ich nicht; ich machte mir doch immer wieder Gedanken, wo sie wohl sein mochte.» Mrs. Danvers schwieg wieder. Ich wollte auch nichts mehr hören. Ich hatte nur den einen Wunsch, fortzugehen und dieses Zimmer zu verlassen. Aber sie konnte nicht mit dem Erzählen aufhören. «Bis halb sechs Uhr morgens saß ich auf meinem Bett», sagte sie, «dann hielt ich es einfach nicht mehr aus. Ich stand auf, nahm meinen Mantel und ging durch den Wald zum Strand. Es wurde bereits hell, und der Wind hatte sich gelegt; aber es nieselte und die Luft war trübe und neblig. Als ich am Strand ankam, sah ich die Boje auf dem Wasser schwimmen und das kleine Ruderboot, aber das Segelboot war fort ...» Mir war, als könnte ich die Bucht im Morgengrauen vor mir liegen sehen, das feuchte Geriesel auf meinen Wangen spüren, und als könnte ich, durch den Frühnebel spähend, draußen auf dem Wasser undeutlich verschwommen die Umrisse der Boje erkennen. Mrs. Danvers gab meinen Arm endlich frei. Ihre Stimme verlor jeden Ausdruck und klang wieder so eintönig und teilnahmslos, wie sie sonst zu sprechen pflegte. «Einer von den Rettungsringen wurde am Nachmittag in Kerrith angeschwemmt», sagte sie, «und der andere am nächsten Tag von Krabbenfischern in den Felsen unterhalb der Landzunge gefunden. Verschiedene Teile der Takelage wurden von der Flut ebenfalls ans Ufer getrieben.» Sie wandte sich von mir ab und schloß die Schublade. Sie rückte einige Bilder gerade und hob ein Wollflöckchen vom Teppich auf. Ich sah ihr zu und wußte nicht, was ich tun sollte. «Jetzt wissen Sie», sagte sie, «warum Mr. de Winter die Räume hier im Westflügel nicht mehr benutzen mag. Hören Sie das Meer?» Ja, selbst jetzt bei geschlossenen Fenstern und Läden konnte ich es hören, ein dumpfes drohendes Gemurmel, wenn die Wellen sich an den hellen Felsen in der Bucht brachen. Die Flut würde jetzt rasch steigen und den Strand bis nahe an das Bootshaus überschwemmen. «Seit jener Nacht, in der sie ertrunken ist, hat er diese Räume nicht mehr betreten», sagte sie. «Er ließ seine Sachen aus dem Ankleidezimmer räumen, und wir mußten ihm eines der Zimmer am Ende des Korridors herrichten. Ich glaube nicht, daß er dort viel Schlaf gefunden hat. Er muß die Nächte im Lehnstuhl zugebracht haben, denn morgens lagen rundherum auf dem Boden Zigarettenstummel. Und tagsüber hörte Frith ihn häufig ruhelos in der Bibliothek hin und hergehen, hin und her, hin und her.» Auch ich konnte die Zigarettenasche neben dem Sessel auf dem Boden sehen. Auch ich konnte diese ruhelosen Schritte hören - tap, tap, tap - von einem Ende der Bibliothek bis zum anderen. Mrs. Danvers schloß leise die Tür zwischen Schlafzimmer und Ankleideraum und drehte das Licht aus. Sie ging zur Tür, die zum Korridor führte, legte ihre Hand auf die Klinke und wartete, bis ich nachkam. «Ich staube die Sachen in den Zimmern hier jeden Morgen selbst ab», sagte sie. «Wenn Sie sie wieder einmal an-sehen wollen, brauchen Sie es mir nur zu sagen. Sagen Sie mir durchs Haustelephon Bescheid. Ich werde schon verstehen. Den Mädchen habe ich streng untersagt, hier heraufzugehen. Kein Mensch außer mir betritt diese Zimmer.» Ihr Verhalten bekam wieder etwas Kriecherisches, etwas aufdringlich Vertrauliches, das mir so widerwärtig war. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war falsch und unnatürlich. «Vielleicht mögen Sie gern herkommen und sich hier etwas aufhalten, wenn Mr. de Winter wieder einmal in London ist und Sie sich einsam fühlen. Sie brauchen es mir wirklich nur zu sagen. Sie sind so wunderschön, diese Zimmer. Wenn man sie so sieht, will man gar nicht glauben, daß sie nun für ewig fortgegangen ist, nicht wahr? Man könnte meinen, daß sie nur zu einem kleinen Spaziergang aufgebrochen ist und abends wieder zurückkommen muß.» Ich zwang mich zu einem Lächeln. Ich konnte nicht sprechen. Meine Kehle war zu trocken. «Und es geht einem ja nicht nur in diesen Zimmern so», sagte sie, «sondern eigentlich im ganzen Haus, im Morgenzimmer, in der Halle, selbst im kleinen Blumenzimmer; ich spüre ihre Gegenwart überall. Sie auch, nicht wahr?» Sie starrte mich forschend an. Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. «Manchmal, wenn ich hier den Korridor entlanggehe, bilde ich mir ein, daß ich sie kommen höre. Dieser leichte rasche Schritt - unter Tausenden würde ich ihn herauskennen. Und in der Galerie über der Halle ist es dasselbe. Ich habe sie an so vielen Abenden da oben an der Brüstung lehnen und hinunterblicken sehen und die Hunde rufen hören. Manchmal sehe ich sie jetzt auch noch da stehen. Und oft ist mir, als könnte ich das Rauschen ihrer Schleppe auf den Treppenstufen hören, wenn sie zum Essen nach unten geht.» Sie brach ab. Sie sah mich unverwandt, wie fragend an. «Glauben Sie, daß sie uns jetzt sehen kann, wie wir hier miteinander reden?» fragte sie dann langsam. «Glauben Sie, daß die Toten wiederkommen und die Lebenden beobachten?» «Ich weiß nicht», sagte ich, «ich weiß nicht.» Meine Stimme klang hoch und schrill, ganz anders als sonst. «Manchmal frage ich mich», flüsterte Mrs. Danvers wieder, «manchmal frage ich mich, ob sie wohl nach Manderley zurückkommt und Mr. de Winter mit Ihnen zusammen sehen kann?» Wir standen noch immer an der Tür und starrten einander an. Ich konnte meinen Blick nicht von ihren Augen wenden. Wie dunkel und tief sie in den Höhlen dieses bleichen Totenkopfgesichtes lagen, und wie bösartig und haßerfüllt sie mich anstarrten! Schließlich machte Mrs. Danvers die Tür auf. «Robert ist jetzt wieder da», sagte sie. «Er ist vor einer guten Viertelstunde zurückgekommen. Ich habe ihm bereits aufgetragen, Ihren Tee zur Kastanie hinauszubringen.» Sie trat zur Seite, um mich vorbeizulassen, und ich stolperte an ihr vorüber den Korridor entlang, ohne auf meine Füße zu achten. Ich konnte nichts mehr erwidern. Ich tappte mich wie eine Blinde die Treppe hinunter, bog um die Ecke und stieß die Tür auf, die zum Ostflügel führte. In meinem Schlafzimmer schloß ich die Tür hinter mir ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Dann warf ich mich aufs Bett und schloß die Augen. Mir war sterbenselend zumute. 15 Maxim rief am nächsten Morgen an, um mitzuteilen, daß er abends gegen sieben Uhr zurückkommen werde. Frith sprach mit ihm. Maxim bat ihn nicht, mich an den Apparat zu rufen. Ich hörte das Telephon klingeln, während ich noch frühstückte, und in der Annahme, daß Frith gleich ins Eßzimmer kommen und sagen würde: «Mr. de Winter möchte Sie sprechen, Madam», legte ich meine Serviette zusammen und stand auf. Und dann kam Frith und richtete mir aus, was Maxim gesagt hatte. «Mr. de Winter hat bereits aufgelegt, Madam», sagte er, als er mich meinen Stuhl zurückschieben und zur Tür gehen sah. «Er hat mir sonst nichts aufgetragen, nur, daß er um sieben Uhr wieder hier sein wird.» Ich kehrte an den Tisch zurück. Frith mußte mich für sehr dumm halten, weil ich so eifrig aus dem Zimmer stürzen wollte. «Es ist gut, Frith, danke schön», sagte ich. Ich setzte mich wieder und nahm mir noch etwas von den Eiern und dem Schinken. Jasper lag zu meinen Füßen, und die alte Hündin schnarchte in ihrem Korb in der Ecke. Ich überlegte mir, was ich heute mit meinem Tag anfangen sollte. Ich hatte sehr schlecht geschlafen, vielleicht nur deshalb, weil Maxim nicht da gewesen war. Ich hatte mich unruhig hin- und hergewälzt und war immer wieder aufgewacht, und jedesmal, wenn ich auf die Uhr gesehen hat-te, stellte ich fest, daß die Zeiger kaum vorgerückt waren. Und als ich endlich eingeschlafen war, hatte ich verschiedene unzusammenhängende Träume. Wir gingen zusammen durch einen Wald, Maxim und ich, und er lief mir immer ein Stückchen voraus. Ich konnte ihn nicht einholen. Nicht einmal sein Gesicht konnte ich sehen, nur seine Gestalt, wie er mit langen Schritten vor mir herging. Ich mußte wohl im Schlaf geweint haben, denn als ich am Morgen aufwachte, war das Kissen ganz naß, und meine Augenlider waren geschwollen. Ich sah häßlich und elend aus. Um nicht zu blaß zu wirken, rieb ich mir etwas Rouge auf die Wangen, aber es half nichts, es machte es nur noch schlimmer. Es gab mir ein clownhaftes Aussehen. Die Kunst des Schminkens war mir noch fremd. Als ich durch die Halle ins Eßzimmer ging, bemerkte ich, wie Robert mich anstarrte. Gegen zehn - ich streute den Vögeln auf der Terrasse gerade ein paar Krumen hin - läutete das Telephon wieder. Diesmal wurde ich verlangt. Frith kam und sagte, daß Mrs. Lacy mich zu sprechen wünsche. «Guten Morgen, Beatrice», sagte ich. «Hallo, meine Liebe, wie geht es dir?» sagte sie mit ihrer fast männlich tiefen Telephonstimme, die so typisch für sie war, rasch, bestimmt und geradezu, und ohne meine Antwort abzuwarten. «Ich wollte heute nachmittag mal rüberfahren und Großmutter besuchen. Zum Mittagessen bin ich bei Bekannten, keine zwanzig Meilen von Mander-ley entfernt. Soll ich dich abholen, und wir fahren dann zusammen hin? Es wird ja schließlich Zeit, daß du die alte Dame mal kennenlernst.» «Ja, sehr gern, Beatrice», sagte ich. «Sehr gut, also dann hole ich dich um halb vier Uhr herum ab. Giles hat übrigens Maxim bei dem Essen in Lon-don getroffen. Sehr schlechte Küche, sagte er, aber ausgezeichnete Weine. Also bis nachher, meine Liebe.» Ein Knacken in der Leitung; Beatrice hatte den Hörer aufgelegt. Ich ging in den Garten zurück. Ich freute mich über ihren Anruf und ihren Vorschlag, der alten Dame zusammen einen Besuch zu machen. Da hatte ich doch etwas, auf das ich warten konnte und das die Eintönigkeit dieses Tages unterbrechen würde. Mir waren die Stunden bis zum Abend schon sehr lang vorgekommen. Die Ferienstimmung war mir vergangen, und ich hatte nicht die geringste Lust, wieder mit Jasper durch das Glückliche Tal an den Strand zu gehen und Steine ins Wasser zu werfen. Mein Freiheitsrausch war verflogen und mit ihm auch das kindliche Verlangen, in Sandalen über den Rasen zu laufen. Häuslich wie eine gute Familienmutter setzte ich mich mit einem Buch und der Times und meinem Strickzeug in den Rosengarten und machte es mir gähnend in der warmen Sonne bequem, während die Bienen zwischen den Blumen umhersummten. Das Mittagessen bot an diesem langen Vormittag eine willkommene Unterbrechung. Friths undurchdringliche Ruhe und Roberts etwas blödes Gesicht ließen mich die Zeit besser vergessen, als Zeitung und Buch es vermocht hatten. Und um halb vier, pünktlich auf die Minute, hörte ich den Wagen von Beatrice um die Kurve in der Einfahrt biegen und vor der Freitreppe anhalten. Bereits fertig angezogen, die Handschuhe in der Hand, lief ich hinaus, um sie zu begrüßen. «Da bin ich, meine Liebe, herrliches Wetter, was?» sie schlug die Wagentür zu und kam mir die Treppe herauf entgegen. Sie deutete einen Kuß an, indem sie mich mit ihren Lippen irgendwo nahe am Ohr streifte. «Du siehst gar nicht gut aus», sagte sie gleich mit einem musternden Blick. «Viel zu schmal im Gesicht und gar keine Farbe. Was ist denn los mit dir?» «Nichts», sagte ich kleinlaut. Ich wußte nur zu gut, was mit meinem Gesicht los war. «Ich habe nie viel Farbe.» «Ach Unsinn», meinte sie. «Das letzte Mal sahst du sehr viel besser aus.» «Wahrscheinlich fängt meine italienische Bräune an zu verblassen», sagte ich, während ich in den Wagen stieg. «Hm», sagte sie kurz. «Du bist genauso schlimm wie Maxim. Ihr könnt beide nicht vertragen, daß man euer Aussehen kritisiert. Knall die Tür ordentlich zu, sonst schließt sie nicht.» Der Wagen schoß vorwärts und sauste mit einer halsbrecherischen Geschwindigkeit durch die Kurve. «Oder fängst du vielleicht an, Kinder zu bekommen?» «Nein», sagte ich verlegen, «nein, ich glaube nicht.» «Keine Übelkeit am Morgen oder so was?» «Nein.» «Na ja, das ist ja auch nicht immer notwendig. Mir ging es glänzend, als ich Roger erwartete, ich hab mich in den ganzen neun Monaten so wohl gefühlt wie ein Fisch im Wasser. Noch am Tag, bevor er ankam, spielte ich meine Runde Golf. Weißt du, es ist ganz verkehrt, sich wegen dieser Naturereignisse zu genieren. Es ist viel besser, du sagst es mir, wenn du irgendwelche Vermutungen hast.» «Nein, wirklich nicht, Beatrice», sagte ich. «Ich kann dir beim besten Willen noch nichts erzählen.» «Ich muß ja sagen, ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn du uns nicht zu lange auf den Sohn und Erben warten ließest. Es würde Maxim so guttun. Du unternimmst doch hoffentlich nichts dagegen?» «Natürlich nicht», sagte ich. Was für eine merkwürdige Unterhaltung! «Ach, du brauchst nicht schockiert zu sein», meinte sie. «Du mußt dich überhaupt nicht daran stoßen, was ich sa-ge. Die jungen Frauen sind heutzutage doch gar nicht mehr so auf Nachkommenschaft erpicht. Es ist ja auch verflucht lästig, wenn man Fuchsjagden mitmachen will und sich gleich die erste Saison mit einem Kind verdirbt. Wenn beide passionierte Reiter sind, genügt das schon, um eine Ehe kaputtzumachen. Aber bei dir besteht diese Gefahr ja nicht. Babies stören ja nicht beim Zeichnen. Wie geht's übrigens damit?» «Ich hab mich in letzter Zeit leider wenig darum gekümmert.» «Ach, es ist doch jetzt so schönes Wetter, um draußen zu sitzen. Zum Malen braucht man doch nicht mehr als einen Klappstuhl und einen Kasten Buntstifte, oder? Haben dir eigentlich die Bücher Spaß gemacht, die ich dir schickte?» «Ja, natürlich», sagte ich. «Du hast dir wirklich ein wunderschönes Geschenk für mich ausgedacht, Beatrice.» Sie schien das gern zu hören. «Freut mich, daß du Spaß daran hast.» Der Motor dröhnte. Beatrice hatte das Gaspedal bis auf den Boden durchgetreten und schnitt jede Kurve in einer atemberaubenden Weise. Zwei Autofahrer, an denen wir vorbeisausten, machten empörte Gesichter, und ein Fußgänger auf dem Sommerweg drohte mit seinem Stock hinter uns her. Mir fing an heiß zu werden, und ich verkroch mich tiefer in meinen Sitz. Beatrice dagegen schien nichts bemerkt zu haben. «Im nächsten Semester kommt Roger nach Oxford», sagte sie. «Gott weiß, was er dort mit sich anfangen wird. Ich finde es ja eigentlich eine furchtbare Zeitverschwendung, und Giles auch, aber wir wußten nicht, womit wir ihn sonst beschäftigen sollten. Er ist natürlich ganz wie Giles und ich, hat für nichts anderes Gedanken als für Pferde. Was denkt sich denn der Kerl da vorne? Könntest du nicht ein Zeichen geben, wenn du abbiegen willst, alter Trottel?» Wir überholten das Auto vor uns und entgingen dabei nur knapp einem Zusammenstoß. «Habt ihr in letzter Zeit viel Besuch gehabt?» fragte sie. «Nein, wir haben kaum einen Menschen gesehen», sagte ich. «Auch viel vernünftiger», meinte sie. «Ich finde diese großen Gesellschaften furchtbar öde. Wenn du einmal zu uns kommst, wirst du dich bestimmt wohl fühlen. Wir haben nur nette Nachbarn und sind seit langem wirklich gut miteinander befreundet. Wir laden uns gegenseitig zum Essen und zum Bridge ein und kümmern uns nicht weiter um Fremde. Du spielst doch auch Bridge?» «Ja, aber nur mäßig, Beatrice.» «Oh, daran werden wir uns nicht stoßen, wenn du nur wenigstens eine Ahnung davon hast. Ich ärgere mich nur über die Leute, die es nicht lernen wollen. Was zum Teufel soll man denn mit solchen Menschen im Winter nachmittags oder überhaupt nach dem Abendessen anfangen? Man kann doch nicht einfach dasitzen und schwatzen.» Ich sah zwar nicht ein, warum man das nicht können sollte, aber ich fand es bequemer, nichts zu entgegnen. «Roger fängt jetzt endlich an, etwas manierlicher zu werden, und wir haben viel Spaß an seinen Freunden, die er übers Wochenende mitbringt. Du hättest letzte Weihnachten dabei sein müssen. Wir führten Scharaden auf und haben uns großartig amüsiert. Giles war so richtig in seinem Element. Er verkleidet sich für sein Leben gern, und wenn er ein paar Glas Champagner intus hat, ist er einfach unwiderstehlich komisch. Ich behaupte ja immer, daß er seinen Beruf verfehlt hat und zur Bühne hätte gehen sollen. Wir haben uns natürlich niemals etwas auf unsere Schauspielkünste eingebildet», sagte sie, «es kam uns ja dabei nur auf den Unsinn an, den wir machen konnten. Manderley dagegen, da hat man wirklich Platz, eine richtig nette Aufführung zu machen. Ich erinnere mich noch an die historischen Bilder bei einem Kostümfest, zu dem Maxim richtige Schauspieler aus London hatte kommen lassen. Für so was braucht man natürlich lange Proben und Vorbereitungen.» «Ja», sagte ich. Sie sagte eine Weile nichts mehr, und wir fuhren schweigend weiter. «Wie geht's Maxim eigentlich?» fragte sie dann. «Sehr gut, danke.» «Vergnügt und glücklich?» «O ja, doch ja, ich glaube schon.» Eine schmale Dorfstraße nahm ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Ich überlegte mir, ob ich ihr von Mrs. Danvers und diesem Favell erzählen sollte. Ich wollte nur nicht, daß sie Maxim gegenüber versehentlich damit herausplatzte. «Beatrice», sagte ich kurz entschlossen. «Hast du schon mal etwas von einem Mr. Favell gehört? Jack Favell?» «Jack Favell?» wiederholte sie. «Doch, der Name kommt mir bekannt vor. Warte mal, Jack Favell - aber natürlich, ein widerlicher Kerl, ich habe ihn einmal getroffen, schon ewig her.» «Er kam nämlich gestern, um Mrs. Danvers zu besuchen.» «Ach, wirklich? Na ja, es ist vielleicht ganz natürlich.» «Wieso natürlich?» fragte ich. «Ich habe so die vage Idee, daß er ein Vetter von Rebecca ist», sagte sie. Das überraschte mich sehr. Dieser Mann ihr Verwandter? Unter einem Vetter Rebeccas hatte ich mir etwas ganz anderes vorgestellt. Jack Favell war also ihr Vetter. «Ach so», sagte ich, «das ahnte ich allerdings nicht.» «Er ist wahrscheinlich häufig auf Manderley zu Besuch gewesen», sagte Beatrice. «Ich kann es dir nicht genau sagen, aber ich nehme es wenigstens an. Ich selbst war früher ziemlich selten dort.» Sie sprach merkwürdig abweisend, als wolle sie das Thema nicht weiter ausspinnen. «Ich konnte nicht viel mit ihm anfangen», sagte ich. «Nein», meinte Beatrice, «das kann ich dir nicht verdenken.» Ich wartete, ob sie wohl noch etwas sagen würde, aber sie verstummte. Ich hielt es für klüger, ihr nichts davon zu erzählen, daß Favell mich gebeten hatte, seinen Besuch zu verschweigen. Das hätte sonst womöglich noch irgendwelche Ungelegenheiten heraufbeschworen. Außerdem waren wir gerade an unserem Ziel angelangt: ein weißes Parktor und dahinter ein geharkter Kiesweg, der zum Haus führte. «Vergiß nicht, daß die alte Dame fast blind ist», sagte Beatrice. «Und geistig ist sie jetzt natürlich auch nicht mehr so auf der Höhe. Ich habe der Pflegerin unseren Besuch angekündigt, wir kommen also nicht unvorbereitet.» Das Haus war ein großer, spitzgiebeliger roter Backsteinbau, spätviktorianisch, schätze ich. Schön war es jedenfalls nicht. Aber ich sah auf den ersten Blick, daß es eins von den Häusern war, das von einer Unzahl von Dienstboten in peinlichster Ordnung gehalten wird. Und das alles für eine einzelne alte Dame, die fast blind war. Ein adrettes Hausmädchen öffnete uns die Tür. «Guten Tag, Norah, wie geht es Ihnen?» sagte Beatrice. «Danke, gut, Madam, ich hoffe, es geht Ihnen auch gut.» «O ja, wir blühen und gedeihen alle. Wie steht's denn mit der alten Dame, Norah?» «Unterschiedlich, Madam. Mal hat sie einen guten Tag und mal einen schlechten. An sich können wir nicht klagen. Sie wird sich sicher über Ihren Besuch freuen.» Sie sah mich neugierig an. «Das ist Mrs. Maxim», sagte Beatrice. «Ja, Madam - wie geht es Ihnen?» sagte sie zu mir. Wir schritten durch eine kleine Diele und ein mit Möbeln überfülltes Wohnzimmer und kamen auf die Veranda, die auf einen viereckigen, kurzgeschnittenen Rasen hinaussah. Auf der Treppe, die in den Garten hinabführte, standen große Steintöpfe mit Geranien. In einer Ecke erblickte ich den Korbsessel auf Rädern, in dem Beatrices Großmutter in einem Berg von Kissen und Decken saß. Als wir auf sie zutraten, fiel mir die große, fast unheimliche Ähnlichkeit mit Maxim auf. Genauso, dachte ich, würde ein sehr alter und blinder Maxim aussehen. Die Pflegerin erhob sich von dem Stuhl neben ihr und legte ein Lesezeichen in das Buch, aus dem sie gerade vorgelesen hatte. Sie lächelte Beatrice zu. «Guten Tag, Mrs. Lacy», sagte sie. Beatrice schüttelte ihr die Hand und stellte mich vor. «Die alte Dame sieht ja ganz wohl aus», sagte sie. «Es ist mir ein Rätsel, wie sie das mit ihren sechsundachtzig Jahren fertigbringt. Hallo, da sind wir, Granny», wandte sie sich dann mit erhobener Stimme zu ihrer Großmutter, «gesund und fröhlich wie immer.» Die alte Dame blickte in unsere Richtung. «Du bist ein gutes Kind, Bee, und es ist lieb von dir, mich zu besuchen. Wir sind ja hier so langweilig und können dir nichts Amüsantes bieten.» Beatrice beugte sich über sie und küßte sie auf die Wange. «Ich habe dir Maxims Frau mitgebracht», sagte sie. «Sie hat dich schon immer gern kennenlernen wollen, aber sie und Maxim haben so viel vorgehabt.» Beatrice stupste mich in den Rücken. «Gib ihr einen Kuß», flüsterte sie mir zu, und ich beugte mich also auch nieder und berührte die faltige Wange mit meinen Lippen. Die Großmutter betastete mein Gesicht mit ihren Fingern. «Du liebes Kind, wie nett von dir, zu kommen», sagte sie. «Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen. Aber wo hast du Maxim gelassen?» «Maxim ist in London», sagte ich, «er kommt erst heute abend zurück.» «Das nächste Mal mußt du ihn aber mitbringen», sagte sie. «Setz dich, mein Kind, hier in den Stuhl, wo ich dich sehen kann, und du, Bee, setz dich hier auf die andere Seite. Wie geht's dem lieben Roger? Er ist ein ungezogener Junge, mich überhaupt nicht zu besuchen!» «Im August wird er bestimmt einmal herüberkommen», rief Beatrice. «Er ist jetzt fertig mit Eton und soll in Oxford studieren.» «Du meine Güte, dann ist er ja schon ein richtiger junger Mann; ich werde ihn bestimmt gar nicht wiedererkennen.» «Er ist schon größer als Giles», berichtete Beatrice, und sie fuhr fort, ihrer Großmutter von Giles und Roger und ihren Pferden und Hunden zu erzählen. Die Pflegerin brachte ihr Strickzeug heraus und fing an, eifrig mit den Nadeln zu klappern. Dann wandte sie sich mit ihrem professionellen strahlenden Lächeln zu mir. «Wie gefällt es Ihnen auf Manderley, Mrs. de Winter?» «Sehr gut, danke», antwortete ich. «Ja, es ist ein herrliches Fleckchen Erde, nicht wahr?» sagte sie, ohne eine Sekunde ihre Nadeln stillzuhalten. «Es ist natürlich gar nicht daran zu denken, daß wir wieder einmal hinüberfahren. Das würde ihr zuviel werden. Es ist wirklich schade. Ich habe unsere Ausflüge nach Mander-ley immer so genossen.» «Sie müssen einmal allein zu uns kommen», sagte ich. «Oh, danke schön, das würde ich zu gern einmal tun. Mr. de Winter geht es gut, nehme ich an?» «Doch, danke, sehr gut.» «Sie haben Ihre Hochzeitsreise in Italien gemacht, nicht wahr? Wir haben uns so über die hübsche Postkarte gefreut, die Mr. de Winter uns geschickt hat.» Ich konnte nicht genau feststellen, ob sie das «wir» als Pluralis majestatis benutzte oder ob sie die alte Dame mit sich selbst als eine Person betrachtete. «Ach, hat er eine Karte geschickt? Ich erinnere mich gar nicht.» «Doch ja, es war ein richtiges Ereignis. Wir freuen uns sehr über so etwas. Wir haben nämlich ein Album, da kleben wir alle Familienandenken hinein. Natürlich nichts Unerfreuliches.» «Wie reizend», sagte ich. Ich erhaschte einzelne Brocken von Beatrices Unterhaltung auf der anderen Seite. «Wir mußten den alten Marksman erschießen», hörte ich sie sagen. «Erinnerst du dich noch an den alten Marksman? Das beste Jagdpferd, das ich je gehabt habe.» «Ach nein, doch nicht unseren alten Marksman?» fragte die Großmutter. «Ja, ja, der arme alte Kerl; er erblindete auf beiden Augen.» «Der arme Kerl!» wiederholte die alte Dame. Ich fand es nicht gerade sehr taktvoll, von Blindheit zu sprechen, und warf einen Blick auf die Pflegerin. Sie war immer noch mit ihren klappernden Nadeln beschäftigt. «Reiten Sie auch Fuchsjagden, Mrs. de Winter?» erkundigte sie sich. «Nein, leider. Ich habe es noch nie getan», sagte ich. «Vielleicht kommen Sie noch auf den Geschmack. Unsere Nachbarn hier sind alle leidenschaftliche Jagdreiter.» «Ja.» «Mrs. de Winter ist eine große Malfreundin», teilte Beatrice der Pflegerin mit. «Ich habe ihr schon gesagt, daß sie auf Manderley haufenweise nette Motive zum Zeichnen finden müßte.» «Ja, zweifellos», pflichtete die Pflegerin ihr bei und hielt einen Augenblick mit dem wilden Nadeltanz inne. «Was für ein hübscher Zeitvertreib. Ich hatte eine Freundin, die hat geradezu Wunder mit ihrem Bleistift vollbracht. Wir waren einmal über Ostern zusammen in der Provence, und sie hat so bezaubernde Sachen gemacht.» «Wie nett», sagte ich. «Wir sprechen gerade über Zeichnen», rief Beatrice ihrer Großmutter ins Ohr. «Du hast bestimmt noch gar nicht gewußt, daß wir ein Malgenie in der Familie haben.» «Wer ist ein Malgenie?» fragte die alte Dame. «Ich kenne keines.» «Deine neue Enkelin», sagte Beatrice. «Frag sie doch einmal, was ich ihr zur Hochzeit geschenkt habe.» Ich lächelte und wartete auf die Frage. Die alte Dame wandte ihren Kopf in meine Richtung. «Was erzählt Bee mir da?» sagte sie. «Daß du malst, habe ich nicht gewußt. Wir haben noch nie einen Künstler in der Familie gehabt.» «Beatrice macht nur Spaß», sagte ich. «Ich bin gar keine richtige Künstlerin. Ich zeichne nur ein wenig zu meinem Vergnügen. Ich habe niemals Unterricht gehabt. Aber Beatrice hat mir ein paar wunderschöne Bücher geschenkt.» «So», sagte sie etwas verdutzt. «Bücher hat dir Beatrice geschenkt? Das nenne ich aber Eulen nach Athen tragen. In der Bibliothek von Manderley gibt es doch wahrhaftig Bücher genug.» Sie lachte herzlich über ihren Scherz, und wir stimmten alle ein. Ich hoffte, daß das Thema damit erledigt wäre, aber Beatrice mußte noch weiter darauf herumreiten. «Du verstehst nicht, Granny», sagte sie. «Es waren ja keine gewöhnlichen Bücher, sondern vier dicke Wälzer über Kunst.» Die Pflegerin beugte sich vor, um auch ihre Fassung von der Geschichte loszuwerden. «Mrs. Lacy hat nur erzählt, daß Mrs. de Winter sehr gern zu ihrem Vergnügen zeichnet. Deshalb hat sie ihr vier wunderschöne Bände, alle nur über Malerei, zur Hochzeit geschenkt.» «Was für ein komischer Einfall», meinte die alte Dame. «Ich halte nicht viel von Büchern als Hochzeitsgeschenk. Mir hat kein Mensch Bücher geschenkt, als ich heiratete. Ich hätte sie auch bestimmt nicht gelesen.» Sie lachte wieder. Beatrice sah etwas gekränkt aus. Ich lächelte ihr zu, um sie aufzumuntern, aber ich glaube nicht, daß sie es bemerkte. Die Pflegerin hatte ihre Arbeit wieder aufgenommen. «Ich will meinen Tee haben», sagte die alte Dame plötzlich quengelig. «Ist es noch nicht halb fünf? Warum bringt denn die Norah nicht den Tee?» «Was? Schon wieder hungrig, nachdem wir so gut zu Mittag gegessen haben?» sagte die Pflegerin, indem sie sich erhob und ihre Pflegebefohlene mit ihrem strahlenden Lächeln bedachte. Sie klopfte die Kissen zurecht und stopfte die Decken fest. Maxims Großmutter ließ alles geduldig über sich ergehen. Sie schloß nur ihre Augen, als ob sie müde sei. So sah sie Maxim ähnlicher denn je. Ich konnte mir vorstellen, wie hübsch sie in ihrer Jugend ausgesehen haben mußte, groß und schlank. Ich sah sie durch die Ställe von Manderley gehen und den Pferden Zucker geben, und wie sie den langen Rock hochhob, um ihn nicht durch den Schmutz schleifen zu lassen. Sie mußte jetzt hier allein mit der Pflegerin in diesem rotleuchtenden Giebelhaus leben, bis es auch für sie an der Zeit war, zu sterben. Was mochte sie jetzt fühlen, welche Gedanken mochten sie bewegen? Wußte sie, daß Beatrice mit einem Gähnen auf ihre Uhr sah? Erriet sie wohl, daß wir nur gekommen waren, weil wir es für richtig, für unsere Pflicht hielten, und damit Beatrice auf dem Heimweg mit einem Seufzer der Erleichterung sagen konnte: «So, jetzt habe ich mein Gewissen für drei Monate beruhigt»? Dachte sie wohl noch manchmal an Manderley zurück? Erinnerte sie sich an die Mahlzeiten an dem Eßtisch, an dem ich jetzt ihren Platz einnahm? Ließ sie sich wohl damals ihren Tee auch manchmal zur Kastanie hinausbringen? Ich wünschte, ich hätte ihr meine Hände aufs Gesicht legen und die Last der Jahre von ihr nehmen können; ich hätte sie wieder jung sehen mögen, so wie sie einstmals war, mit rosigen Wangen und kastanienbraunem Haar, lebhaft und energisch wie die Enkelin an ihrer Seite, und sie wie Beatrice sich über Fuchsjagden, Hunde und Pferde unterhalten hören, anstatt mit geschlossenen Augen so teilnahmslos dazusitzen, während die Pflegerin ihr die Kissen im Rücken aufschüttelte. «Heute gibt's eine besondere Überraschung für uns», sagte die Pflegerin. «Sandwiches mit Brunnenkresse. Das mögen wir doch gern, nicht wahr?» «Ist denn heute wieder Kressentag?» sagte Maxims Großmutter, hob den Kopf etwas vom Kissen und blickte zur Tür. «Das haben Sie mir gar nicht gesagt. Wo bleibt denn nur Norah mit dem Tee?» «Ich würde nicht für tausend Pfund am Tag in Ihrer Haut stecken wollen, Schwester», sagte Beatrice leise. «Oh, ich bin es gewohnt, Mrs. Lacy», erwiderte die Pflegerin lächelnd. «Ich habe hier eine sehr angenehme Stellung. Natürlich haben wir manchmal auch unsere schlechten Tage, aber es könnte noch viel schlimmer sein. Sie ist wirklich nicht schwierig, gar nicht wie viele andere Patienten, die ich gehabt habe. Und die Dienstboten sind auch sehr freundlich und hilfsbereit, und das ist eigentlich die Hauptsache. Na, da kommt ja Norah.» Wir rückten unsere Stühle an den kleinen Tisch; die Pflegerin machte die Sandwiches für die alte Dame zurecht. «Hier haben wir jetzt unseren Teller, ist das nicht eine Freude?» Ein kleines Lächeln flog über das müde Gesicht. «Ich hab Kressentag sehr gern», sagte sie. Der Tee war kochend heiß, man verbrühte sich den Mund daran. Die Pflegerin schlürfte ihn in kleinen Schlucken. «Hatten Sie gutes Wetter in Italien?» fragte sie mich. «Ja, es war sehr warm», antwortete ich. Beatrice wandte sich an ihre Großmutter. «Sie haben himmlisches Wetter während ihrer Flitterwochen in Italien gehabt», sagte sie. «Maxim war ganz braun gebrannt.» «Warum ist Maxim heute nicht da?» fragte die alte Dame. «Aber das habe ich dir doch schon gesagt, Liebste, Maxim mußte nach London fahren», erklärte Beatrice etwas ungeduldig. «Irgendein offizielles Essen, weißt du. Giles mußte auch hin.» «Ach so. Warum sagtest du denn, daß Maxim in Italien ist?» «Er war in Italien, Granny, im April. Jetzt sind sie beide wieder in Manderley.» Sie blickte zur Pflegerin hinüber und zuckte die Achseln. «Mr. und Mrs. de Winter sind jetzt wieder in Mander-ley», wiederholte die Pflegerin. «Es ist jetzt herrlich dort», sagte ich und beugte mich zu der alten Dame vor. «Die Rosen stehen in voller Blüte; zu dumm, daß ich dir keine mitgebracht habe.» «Ja, ich mag Rosen», sagte sie abwesend, und dann blinzelte sie mich mit ihren trüben blauen Augen forschend an: «Wohnen Sie denn auch auf Manderley?» Ich schluckte. Es entstand eine kleine Pause. Dann unterbrach Beatrice mit ihrer lauten, ungeduldigen Stimme das Schweigen: «Aber, Granny, Liebste, du weißt doch genau, daß sie dort lebt. Sie und Maxim sind doch verheiratet.» Ich bemerkte, daß die Pflegerin ihre Tasse abstellte und einen aufmerksamen Blick auf die alte Dame warf. Sie war in ihre Kissen zurückgesunken, ihre Finger zupften an ihrem Tuch, und um ihren Mund begann es zu zucken. «Ihr redet alle so viel, ich verstehe gar nichts mehr.» Dann sah sie wieder zu mir hin und schüttelte verwundert den Kopf. «Wer sind Sie denn, meine Liebe? Ich habe Sie ja noch nie gesehen. Ihr Gesicht kommt mir gar nicht bekannt vor; ich kann mich nicht erinnern, Sie jemals auf Manderley gesehen zu haben. Bee, wer ist denn dieses Mädchen? Warum hat Maxim nicht Rebecca mitgebracht? Ich hab Rebecca so gern. Wo ist sie?» Ein langes peinliches Schweigen. Ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen stieg. Die Pflegerin erhob sich rasch und trat an den Korbstuhl. «Ich will Rebecca», wiederholte die alte Dame. «Was habt ihr mit Rebecca getan?» Beatrice stand so ungeschickt auf, daß Tassen und Teller klirrten. Sie war ebenfalls sehr rot geworden und preßte die Lippen fest aufeinander. «Ich glaube, es ist besser, Sie gehen jetzt, Mrs. Lacy», sagte die Pflegerin, die etwas von ihrer Selbstbeherrschung verloren zu haben schien. «Wir sind jetzt ein wenig müde; und wenn wir einmal den Faden verloren haben, dann dauert es oft Stunden, bis wir ihn wieder gefunden haben. Und wir regen uns dabei immer so sehr auf. Es tut mir sehr leid, daß das gerade heute geschehen mußte, aber Sie werden das schon verstehen, Mrs. de Winter.» Sie wandte sich entschuldigend an mich. «Aber natürlich», sagte ich, «ich halte es auch für besser, wenn wir jetzt gehen.» Beatrice und ich ergriffen unsere Taschen und Handschuhe und gingen durch das Wohnzimmer und die Diele zur Tür hinaus, ohne das Hausmädchen zu rufen. Beatrice startete wortlos den Wagen, und wir fuhren über den glatten Kiesweg durch das weiße Tor auf die Landstraße hinaus. Ich starrte vor mich hin. Es war mir nicht um mich selbst zu tun. Wenn ich allein gewesen wäre, hätte mir dieser Zwischenfall gar nichts ausgemacht. Ich dachte nur an Beatrice; ihr mußte es sehr peinlich und unangenehm sein. Als wir das Dorf hinter uns hatten, drehte sie sich zu mir um. «Es tut mir schrecklich leid, Liebste», begann sie. «Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.» «Mach doch keine Geschichten, Beatrice», unterbrach ich sie hastig. «Es macht mir wirklich nichts aus. Ich fand gar nichts dabei.» «Ich habe ja nicht ahnen können, daß sie so etwas tun würde», fuhr Beatrice fort, «sonst wäre es mir natürlich auch nicht im Traum eingefallen, dich mitzunehmen. Es tut mir furchtbar leid.» «Es braucht dir aber gar nicht leid zu tun. Bitte, sprich doch nicht mehr darüber.» «Ich hatte ganz vergessen, wie sehr sie an Rebecca hing», sagte Beatrice dann langsam. «Sie hat immer ein großes Theater mit Granny gemacht und sie öfters nach Manderley geholt. Die arme liebe Granny war damals natürlich noch viel munterer als jetzt. Sie konnte sich über alles, was Rebecca sagte, vor Lachen schütteln. Sie war ja auch wirklich sehr amüsant, und die alte Dame genoß das sehr. Sie hatte ein erstaunliches Talent - Rebecca, meine ich -, mit Menschen umzugehen. Granny hat sie eben noch nicht vergessen. Meine Liebe, du wirst mir für diesen kleinen Ausflug gewiß nicht danken.» «Es macht mir nichts aus, wirklich nicht», wiederholte ich mechanisch. Wenn Beatrice doch nur das Thema fallenlassen wollte - es interessierte mich gar nicht. Schließlich, war es denn so wichtig? War denn überhaupt irgend etwas wichtig? «Giles wird außer sich sein», sagte Beatrice. «Er wird mir Vorwürfe machen, daß ich dich mitgenommen habe. Ich höre ihn förmlich. Das wird noch einen netten Krawall geben.» «Erzähl ihm doch nichts davon», entgegnete ich. «Mir wäre es viel lieber, es bliebe unter uns. Sonst spricht's sich nur herum, und dann wird die ganze Geschichte aufgebauscht.» «Giles wird es mir vom Gesicht ablesen, daß irgend etwas los ist. Ich habe noch nie etwas vor ihm verbergen können.» Ich schwieg. Das einzige, woran ich jetzt dachte, war, daß Maxim hiervon nie etwas zu hören bekommen durfte. Vielleicht würde ich es eines Tages Frank Crawley erzählen, aber jetzt noch nicht - irgendwann später einmal. Bald darauf hatten wir die Abzweigung erreicht, die über den kleinen Hügel nach Kerrith führte. Die grauen Dächer des Städtchens waren schon zu sehen, und dort hinten, rechts in der Talsenke, lag der dunkle Wald von Mander-ley, und in der Ferne leuchtete glitzernd die See. «Hast du es furchtbar eilig, nach Hause zu kommen», fragte Beatrice. «Nein, warum?» «Würdest du es mir sehr übelnehmen, wenn ich dich schon am Parktor absetzte? Wenn ich nämlich jetzt wie der Teufel rase, dann erwische ich Giles noch, wenn er mit dem Londoner Zug ankommt, und er kann sich das Bahnhofsauto sparen.» «Doch, natürlich», sagte ich. «Ich gehe das Stück sehr gern zu Fuß.» «Das ist nett von dir», sagte sie dankbar. Ich hatte den Eindruck, daß der Nachmittag ihr auf die Nerven gegangen war und daß sie allein sein wollte. Vermutlich scheute sie auch eine Fortsetzung der Teestunde auf Manderley. Ich stieg am Tor aus dem Wagen, und wir küßten uns zum Abschied. «Sieh zu, daß du ein bißchen dicker wirst bis zum nächsten Mal», sagte sie. «Es steht dir nicht, so dünn zu sein. Grüß Maxim von mir und trag mir das mit Granny nicht nach.» Sie verschwand in einer Staubwolke, und ich wandte mich zum Tor. Während ich den Weg entlangging, überlegte ich mir, ob er sich wohl sehr verändert hatte, seit Maxims Großmutter hier als junge Frau am Pförtnerhaus vorbeikutschiert war und die Pförtnerin gegrüßt hatte, so wie ich es jetzt tat. Ich dachte nicht an die alte Frau, die jetzt in Decken gehüllt in ihren Kissen lag. Ich sah sie vor mir in ihrer Jugend, als Manderley ihr Heim gewesen war; ich sah sie durch den Garten wandern, und um sie herum hüpfte in fröhlichen Sprüngen auf seinem Steckenpferd ein kleiner Junge, Maxims Vater. Er trug einen Samtkittel und einen steifen weißen runden Kragen. Und dann sah ich noch die alte Dame, wie sie vor ein paar Jahren am Stock über die Terrasse von Manderley schritt, und Arm in Arm mit ihr eine lachende junge Frau, groß, schlank und auffallend schön, die, wie Beatrice gesagt hatte, das Talent besaß, sich bei allen Menschen beliebt zu machen, die jeder gern hatte, dachte ich, die jeder lieben mußte. Als ich schließlich den langen Weg hinter mich gebracht hatte, sah ich Maxims Wagen vor der Treppe stehen. Mir wurde leicht ums Herz, und ich lief schnell ins Haus. Sein Hut und seine Handschuhe lagen in der Halle auf dem Tisch. Ich ging auf die Bibliothek zu, und beim Näherkommen hörte ich Stimmen; die eine übertönte jetzt die andere. Ich zögerte einen Augenblick vor der geschlossenen Tür. «Sie können ihm von mir bestellen, daß ich ihm verbiete, Manderley noch einmal zu betreten, verstehen Sie? Von wem ich es erfahren habe, dürfte dabei ganz unwichtig sein. Es genügt, daß ich weiß, daß sein Wagen gestern nachmittag hier gesehen worden ist. Wenn Sie ihn unbedingt wiedersehen wollen, dann tun Sie das gefälligst anderswo. Ich wünsche ihn nicht mehr auf meinem Grund und Boden anzutreffen, verstanden? Vergessen Sie das nicht, ich sage es Ihnen zum letztenmal!» Ich schlich mich auf Zehenspitzen zur Treppe, und als ich die Tür hinter mir aufgehen hörte, huschte ich hastig hinauf und versteckte mich in der Galerie. Mrs. Danvers kam aus der Bibliothek heraus und schloß die Tür leise zu. Ich duckte mich hinter das Geländer, um nicht gesehen zu werden, aber vorher hatte ich noch einen kurzen Blick von ihrem Gesicht erhascht: es war verzerrt und grau vor Wut - mir schauderte. Sie ging mit lautlosen Schritten durch die Halle und verschwand durch die Tür, die in die hinteren Räume führte. Ich wartete einen Augenblick, bevor ich langsam wieder hinunterstieg. Ich öffnete die Tür zur Bibliothek und ging hinein. Maxim stand am Fenster, den Rücken zum Zimmer gekehrt, und betrachtete einen Brief in seiner Hand. Mein erster Impuls war, mich unbemerkt wieder hinauszusteh-len und mich in mein Schlafzimmer zurückzuziehen. Er mußte mich aber gehört haben, denn er drehte sich mit einer ungeduldigen Bewegung um. «Was ist denn jetzt schon wieder?» sagte er. Ich lächelte und streckte ihm meine Hände entgegen. «Hallo!» begrüßte ich ihn. «Ach, du bist es ...» Ich sah auf den ersten Blick, daß ihn irgend etwas schrecklich erzürnt haben mußte. Seine Lippen bildeten einen harten Strich, und seine Nasenflügel waren weiß und bebten. «Wie hast du dir die Zeit vertrieben?» fragte er mich. Er küßte mich auf den Scheitel und legte seinen Arm um meine Schulter. Ich hatte das Gefühl, daß es sehr lange her war, seit wir uns gestern getrennt hatten. «Ich habe deine Großmutter besucht», sagte ich. «Beatrice hat mich in ihrem Wagen abgeholt.» «Wie geht's denn der alten Dame?» «O danke, gut.» «Wo ist denn Bee geblieben?» «Sie wollte Giles noch von der Bahn abholen.» Wir setzten uns nebeneinander auf die Fensterbank. Ich nahm seine Hand in meine. «Ich fühlte mich so allein», sagte ich. «Ich habe dich schrecklich vermißt!» «Hast du das?» fragte er. Wir sagten eine Weile nichts, ich hielt nur seine Hand. «War es sehr heiß in London?» fragte ich dann. «Ja, schrecklich. Ich kann diesen Lärm und Gestank dort nicht ausstehen.» Ich war neugierig, ob er mir erzählen würde, was soeben zwischen ihm und Mrs. Danvers vorgefallen war, und ich hätte gern gewußt, wer ihm Favells Anwesenheit verraten hatte. «Bedrückt dich irgend etwas?» fragte ich. «Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir», sagte er. «Diese lange Wagenfahrt zweimal in vierundzwanzig Stunden ist etwas viel.» Er erhob sich, ging ins Zimmer und steckte sich eine Zigarette an. Da wußte ich, daß er mir nichts von seiner Unterhaltung mit Mrs. Danvers erzählen wollte. «Ich bin auch müde», sagte ich leise. «Es war heute ein merkwürdiger Tag.» 16 Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem das Gespräch zum erstenmal auf den Kostümball kam: es war ein Sonntagnachmittag, an dem wir plötzlich von einem Schwarm von Besuchern überfallen wurden. Frank Crawley war zum Mittagessen herübergekommen, und wir freuten uns schon alle drei auf einen friedlichen Nachmittag unter dem Kastanienbaum, als wir das verhängnisvolle Geräusch eines Wagens hörten, der in die Kurve vor dem Haus einbog. Es war zu spät, um Frith zu verständigen; der Wagen überraschte uns auf der Terrasse mit Kissen und Zeitungen unter dem Arm. Wir mußten also gute Miene zum bösen Spiel machen und die unerwarteten Gäste begrüßen. Und wie das so häufig der Fall zu sein pflegt, sollten dies nicht unsere einzigen Besucher bleiben. Eine halbe Stunde später langte noch ein Wagen an, und dann folgten noch drei Bekannte, die von Kerrith einen Spaziergang zu uns herüber gemacht hatten. Da waren wir nun also; mit dem friedlichen Nachmittag war es vorbei; wir mußten einen Schub langweiliger Bekannter nach dem anderen freundlich willkommen heißen und den traditionellen Gang durch den Park, die Besichtigung des Rosengartens und die öde Führung zum Glücklichen Tal mit gespielter Herzlichkeit auf uns nehmen. Natürlich blieben sie zum Tee, und anstatt faul unter der Kastanie ausgestreckt an einem Gurkenbrötchen zu knabbern, sahen wir uns zu der steifen Förmlichkeit der Tee-zeremonie im Salon gezwungen, die ich so verabscheute. Frith war natürlich in seinem Element; er dirigierte Robert mit einem Zucken seiner Augenbrauen, während ich mich mit der großen silbernen Teekanne und dem Wasserkessel, die ich niemals recht zu handhaben lernte, heiß und ungemütlich fühlte. Frank Crawley war bei solchen Gelegenheiten Gold wert. Er nahm mir die Tassen ab und reichte sie weiter, und wenn meine Antworten zu nichtssagend klangen, weil die silberne Teekanne meine Aufmerksamkeit so in Anspruch nahm, mischte er sich in seiner stillen unauffälligen Art in die Unterhaltung und enthob mich dadurch der Mühe, aufzupassen. Maxim befand sich meistens am anderen Ende des Zimmers, wo er irgend jemandem ein Buch oder ein Bild zeigte und den vollendeten Gastgeber spielte. Die Teezeremonie war eine Nebensächlichkeit, die ihn nichts anging. Er ließ seinen Tee, den er auf einem Nebentisch hinter einer Vase vergessen hatte, kalt werden, während ich, völlig aufgelöst hinter dem dampfenden Kessel, und Frank, der unverdrossen mit Keksen und Kuchen jonglierte, uns in die prosaischeren Pflichten der Gastlichkeit teilen mußten. Lady Crowan, deren geschwätziges Mundwerk einem schon nach fünf Minuten auf die Nerven ging, brachte plötzlich das Thema aufs Tapet. Es war gerade eine jener Gesprächspausen entstanden, wie sie auf jeder Gesellschaft einzutreten pflegen, und ich sah schon, wie Franks Lippen die unvermeidliche idiotische Bemerkung von dem Engel, der durch das Zimmer geht, formen wollten; da sah Lady Crowan von ihrer Beschäftigung, ein Stück Kuchen auf ihrem Teller zu balancieren, auf und entdeckte Maxim, der zufälligerweise neben ihr stand. «Ach, Mr. de Winter», sagte sie, «ich habe Sie schon seit Ewigkeiten immer etwas fragen wollen: sagen Sie, besteht eine Aussicht, daß Sie den berühmten Kostümball von Manderley wieder zum Leben erwecken?» sie legte beim Sprechen den Kopf kokett auf die Seite und fletschte ihre vorstehenden Zähne in der Annahme, daß man das für ein Lächeln halten könnte. Ich senkte sofort das Gesicht, machte mir angelegentlich mit meiner Tasse zu schaffen und versuchte, mich hinter der Teehaube unsichtbar zu machen. Ein paar Sekunden verstrichen, bevor Maxim ganz ruhig und gelassen antwortete: «Ich habe noch gar nicht darüber nachgedacht», sagte er, «und ich glaube nicht, daß überhaupt noch irgend jemand daran denkt.» «Oh, aber ganz im Gegenteil. Ich versichere Ihnen, wir haben schon so oft davon gesprochen», beharrte Lady Crowan. «Für alle Ihre Nachbarn machte dieser Ball den Sommer erst richtig vollkommen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wieviel Freude Sie uns damit immer bereiteten. Kann ich Sie nicht überreden, wieder ein wenig daran zu denken?» «Ich weiß nicht recht», erwiderte Maxim kühl. «Es ist eigentlich eine Frage der Vorbereitungen. Wenden Sie sich lieber an Mr. Crawley; ihm würde der Löwenanteil an der Arbeit zufallen.» «Oh, Mr. Crawley, unterstützen Sie mich doch bitte», drang sie in ihn, und ein paar der anderen Gäste sekundierten jetzt. «Sie würden sich damit wirklich beliebt machen; der fröhliche Trubel auf Manderley hat uns so gefehlt!» Ich hörte Franks ruhige Stimme neben mir. «Die Mühe macht mir nichts aus, wenn Maxim nichts dagegen hat, den Ball zu veranstalten. Das liegt ganz bei ihm und Mrs. de Winter. Schließlich habe ich ja nicht darüber zu bestimmen.» Natürlich wurde ich jetzt bestürmt. Lady Crowan rückte mit ihrem Stuhl zur Seite, so daß mir die Teehaube keinen Schutz mehr vor ihren Blicken bot. «Meine liebste Mrs. de Winter, Sie müssen Ihren Mann doch herumbekommen. Auf Sie wird er am ehesten hören. Sagen Sie ihm einfach, er muß den Ball Ihnen zu Ehren geben!» «Ja, das finde ich auch», fiel jetzt ein Mann ein. «Wir sind um die Hochzeitsfeier gebracht worden, da dürfen Sie uns doch nicht auch noch dieses Vergnügen nehmen. Hände hoch, wer für den Kostümball stimmt! Da, sehen Sie, Mr. de Winter, einstimmig angenommen!» Alle lachten und klatschten in die Hände. Maxim zündete sich eine Zigarette an, und seine Augen begegneten den meinen über der Teekanne. «Was meinst du dazu?» sagte er. «Ich weiß nicht», antwortete ich unsicher, «mir ist es einerlei.» «Aber natürlich brennt sie darauf, einen Ball zu geben», sprudelte Lady Crowan wieder los. «Welche junge Frau möchte das nicht? Sie würden bestimmt entzückend aussehen, Mrs. de Winter, als kleine Meißener Porzellanschäferin. Sie müßten Ihr Haar pudern und einen Dreispitz tragen.» Ich dachte an meine ungeschickten Hände und Füße und an meine abfallenden Schultern. Eine schöne Schäferin würde ich abgeben! Was für eine Gans war diese Frau! Es überraschte mich gar nicht, daß ihr niemand zustimmte, und wieder mußte ich Frank in meinem Herzen danken, daß er die Unterhaltung von mir ablenkte. «Es stimmt übrigens, Maxim. Neulich sprach jemand davon. sagte er. Der alte Tucker von der Home Farm», wandte Frank sich erklärend an Lady Crowan. «Die Leute genießen natürlich jede Gelegenheit, ein solches Spektakel zu sehen. , antwortete ich, in der Annahme, es sei Clarice. Aber als die Tür sich öffnete, stand Mrs. Danvers vor mir. Sie hielt ein Stück Papier in der Hand. «Ich hoffe, Sie verzeihen mir die Störung», sagte sie, «aber ich wußte nicht, ob Sie diese Zeichnungen absichtlich fortgeworfen hatten. Die Dienerschaft soll darauf achten, daß beim Entleeren der Papierkörbe nichts Wertvolles weggeworfen wird, und Robert brachte mir eben dieses Blatt hier.» Mir war ganz kalt geworden bei ihrem Anblick, und ich brachte zunächst kein Wort über die Lippen. Sie hielt mir das Blatt vor die Augen; es waren die Kostümzeichnungen, die ich am Vormittag angefertigt hatte. «Nein, Mrs. Danvers», sagte ich nach einer Weile, «das kann ruhig wegkommen. Es war mehr eine Spielerei und ist ganz wertlos.» «Sehr wohl», sagte sie. «Ich hielt es nur für besser, mich zu vergewissern, um ein Mißverständnis zu vermeiden.» Ich fand, sie hätte jetzt gehen können, aber sie blieb an der Tür stehen. «Sie sind sich also noch nicht schlüssig, was Sie auf dem Ball tragen wollen?» fragte sie. Ihre Stimme klang etwas spöttisch und merkwürdig triumphierend. Vermutlich hatte sie auf dem Umweg über Clarice von meinen vergeblichen Bemühungen gehört. «Nein», antwortete ich, «ich habe mich noch nicht entschieden.» Sie streckte die Hand nach dem Türgriff aus, ohne mich jedoch dabei aus den Augen zu lassen. «Warum kopieren Sie nicht eines der Kostüme auf den Ahnenbildern in der Galerie?» fragte sie lauernd. Ich begann meine Fingernägel zu feilen; sie waren viel zu kurz und zu spröde dazu, aber die Beschäftigung verdeckte meine Verwirrung, und ich brauchte Mrs. Danvers wenigstens nicht anzusehen. «Ja, das ist ein Gedanke», sagte ich und wunderte mich im stillen, warum ich nicht selbst schon daran gedacht hatte. Es war doch eine so naheliegende und gute Lösung. Ich wollte ihrem Vorschlag aber nicht so ohne weiteres beistimmen und fuhr fort, an meinen Nägeln herumzufeilen. «Alle Porträts in der Galerie würden eine gute Vorlage für ein Kostüm abgeben», sagte Mrs. Danvers. «Besonders das von der jungen Frau in Weiß mit dem Hut in der Hand. Schade, daß Mr. de Winter nicht Kostüme aus einer bestimmten Zeit vorgeschrieben hat. Es würde ein viel einheitlicheres Bild geben. Ich finde immer, es sieht merkwürdig aus, wenn ein Pierrot mit einer Rokokodame tanzt.» «Die meisten Leute lieben aber gerade diese Buntheit», bemerkte ich, «weil sie das viel lustiger finden.» «Ich bin da anderer Meinung», entgegnete sie. Ihre Stimme klang überraschend ruhig und freundlich, und ich konnte mir nicht erklären, warum sie sich selbst die Mühe gemacht hatte, mit dem fortgeworfenen Skizzenblatt zu mir zu kommen. Wollte sie endlich Freundschaft mit mir schließen? Oder war ihr klargeworden, daß ich Maxim nichts von Favells Besuch erzählt hatte, und wollte sie sich jetzt auf diese Weise für mein Schweigen erkenntlich zeigen? «Hat Mr. de Winter Ihnen denn keine Anregung für ein Kostüm gegeben?» fragte sie. «Nein», sagte ich nach einem kurzen Zögern. «Nein, ich wollte ihn und Mr. Crawley überraschen. Sie sollen vorher nichts davon erfahren.» «Es steht mir ja nicht zu, Ihnen einen Rat zu geben», sagte sie, «aber wenn Sie sich dann entschlossen haben, würde ich Ihnen empfehlen, das Kostüm in London anfertigen zu lassen. Hier in Kerrith können die Schneiderinnen so etwas nicht machen. Voce in Bond Street ist bekannt für sein gutes Atelier.» «Ich werde es mir merken.» «Ja, tun Sie das», sagte sie und öffnete die Tür. «Ich würde mir die Porträts in der Galerie daraufhin einmal näher ansehen, Madam, vor allem das eine, von dem ich sprach. Sie brauchen keine Angst zu haben, daß ich Sie verraten werde.» «Danke schön, Mrs. Danvers», sagte ich. Sie schloß die Tür sehr behutsam hinter sich, und ich beendete meine Toilette, von ihrem völlig veränderten Verhalten mir gegenüber überrascht. Ob ich das wohl dem unsympathischen Favell verdankte? Rebeccas Vetter! Warum mochte Maxim diesen Vetter nicht? Warum hatte er ihm verboten, nach Manderley zu kommen, Beatrice hatte ihn einen widerlichen Kerl genannt, aber sonst hatte sie nichts über ihn gesagt. Und je mehr ich über ihn nachdachte, desto mehr gab ich ihr recht. Diese stechenden blauen Augen, der weichliche Mund und sein unverschämt vertrauliches Lachen - es gab bestimmt Menschen, auf die er anziehend wirkte. Verkäuferinnen in Schokoladenläden zum Beispiel, die ihn kichernd bedienten, oder Platzanweiserinnen im Kino. Ich konnte mir genau vorstellen, wie er solche Mädchen ansah und mit einem Lächeln dabei vor sich hin pfiff. Ein Blick, unter dem man verlegen wurde. Wie gut er wohl Mander-ley wirklich kennen mochte? Er schien sich ja ganz zu Hause zu fühlen, und Jasper hatte ihn zweifellos wiedererkannt. Aber diese beiden Tatsachen paßten nicht zu dem, was Maxim zu Mrs. Danvers gesagt hatte; und Favell selbst paßte auch nicht zu meiner Vorstellung von Rebecca. Wie kam Rebecca mit ihrer Schönheit, ihrem Charme und ihrer Vornehmheit zu einem solchen Vetter? Diese Verwandtschaft kam mir so unwahrscheinlich vor. Ich erklärte es mir schließlich so, daß er das schwarze Schaf der Familie sein mußte und daß Rebecca sich in ihrer Gutmütigkeit seiner mitleidig von Zeit zu Zeit angenommen hatte und ihn nach Manderley einlud, wenn Maxim nicht da war. Vielleicht hatte diese Gutmütigkeit sogar zu Auseinandersetzungen geführt; Rebecca hatte ihn verteidigt, und später war bei der Erwähnung seines Namens immer ein peinliches Schweigen eingetreten. Als ich mich im Eßzimmer auf meinen Platz setzte, Maxim mir gegenüber, stellte ich mir vor, wie Rebecca auf meinem Platz gesessen hatte und gerade ihre Gabel aufnehmen wollte, als das Telephon klingelte und Frith hereinkam, um zu melden: «Mr. Favell möchte Sie sprechen, Madam.» Und wie Rebecca sich dann mit einem Blick auf Maxim erhoben hatte, der schweigend, ohne hochzusehen, weiteraß. Und als sie dann zurückkam und sich wieder hinsetzte, hatte sie bestimmt heiter und unbefangen von etwas ganz anderem geredet, um die kleine Mißstimmung zu verscheuchen. Und ich hörte in Gedanken Maxims einsilbige Antworten; aber allmählich erhellte sich sein Gesicht dann wieder, als sie ihm von irgendeinem Erlebnis in Kerrith erzählte, und bevor der nächste Gang gereicht wurde, lachte er über ihr lustiges Geplauder und streckte ihr versöhnt die Hand über den Tisch hin. «Wo steckst du denn mit deinen Gedanken?» fragte Maxim. Ich fuhr zusammen, und das Blut schoß mir ins Gesicht, denn in dieser winzigen Zeitspanne hatte ich mich so mit Rebecca identifiziert, daß mein eigenes langweiliges Ich gar nicht zu existieren schien. Ich war nicht nur in Gedanken, sondern buchstäblich in Person in der Vergangenheit gewesen. «Weißt du, daß du, anstatt deinen Fisch zu essen, mir die sonderbarsten Grimassen und Gliederverrenkungen vorgeführt hast?» fuhr Maxim fort. «Erst lauschtest du, als ob du das Telephon klingeln hörtest, und dann bewegtest du die Lippen und warfst mir einen Blick zu und schütteltest den Kopf und lächeltest und zucktest die Achseln. Alles in wenigen Sekunden. Übst du schon für den Kostümball?» Er sah mich lachend an, und ich fragte mich, was er wohl sagen würde, wenn er wüßte, was in meinem Herzen und in meinen Gedanken vor sich gegangen war, daß er für einen Augenblick ein anderer Maxim und ich Rebecca gewesen war. «Du siehst aus wie eine kleine Verbrecherin», sagte er. «Was hast du denn?» «Nichts», sagte ich rasch. «Ich habe gar nichts.» «Sag mir doch, woran du gedacht hast.» «Warum denn? Du sagst mir ja auch nie, woran du denkst.» «Meines Wissens hast du mich auch nie danach gefragt.» «Doch, einmal.» «Daran kann ich mich nicht erinnern.» «Wir saßen in der Bibliothek.» «Das tun wir ja öfter, und was antwortete ich dir?» «Du behauptetest, du hättest dir überlegt, ob Surrey gegen Middlesex spielen würde.» Maxim lachte wieder. «Was für eine Enttäuschung das gewesen sein muß! Was hofftest du denn zu hören?» «Was ganz anderes.» «Was denn bloß?» «Ach, ich weiß nicht.» «Ja, das scheint mir auch. Wenn ich dir sagte, daß ich über Surrey und Middlesex nachdachte, dann dachte ich auch an Surrey und Middlesex. Männer sind viel einfachere Wesen, als du denkst, mein liebes Kind. Was sich dagegen in den verzwickten Windungen des weiblichen Gehirns abspielt, das Problem hat wohl noch niemand lösen können. Weißt du, daß du eben gar nicht wie du selbst aussahst? Du hattest einen ganz fremden Gesichtsausdruck.» «Wirklich? Was denn für einen?» «Das ist schwer zu erklären. Du sahst plötzlich irgendwie älter und verschlagen aus, richtig unangenehm.» «Das wollte ich nicht.» «Das glaube ich dir gern.» Ich trank etwas Wasser und sah ihn über mein Glas hinweg an. «Willst du denn nicht, daß ich älter aussehe?» fragte ich ihn. «Nein.» «Warum nicht?» «Es würde dir nicht stehen.» «Eines Tages werde ich aber doch älter aussehen, das läßt sich ja nicht ändern. Ich werde graue Haare haben und Falten und lauter solche Sachen.» «Dagegen habe ich auch nichts.» «Wogegen hast du denn etwas?» «Ich will nur nicht, daß du so aussiehst wie eben. Dein Mund war verzerrt, und in deinen Augen lag so etwas Wissendes. Aber es war kein gutes Wissen.» Ich fühlte eine merkwürdige neugierige Erregung. «Was willst du damit sagen, Maxim? Was meinst du mit kein gutes Wissen?» Er antwortete zunächst nicht, weil Frith wieder ins Zimmer kam, um die Teller auszuwechseln. Erst als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte Maxim langsam: «Als ich dich kennenlernte, hattest du einen bestimmten Gesichtsausdruck, den du auch jetzt noch hast. Ich werde ihn dir nicht beschreiben, denn ich könnte es doch nicht. Jedenfalls war das einer der Gründe, warum ich dich heiratete; und eben, als du in diesen sonderbaren Trancezustand verfielst, da war dieser Ausdruck verschwunden, und etwas anderes war an seine Stelle getreten.» «Was, Maxim? Was war an seine Stelle getreten?» fragte ich eifrig. Er pfiff leise vor sich hin, während er mich mit hochgezogenen Augenbrauen nachdenklich ansah. «Hör zu, meine Liebste, als du ein kleines Mädchen warst, war es dir da nicht verboten, gewisse Bücher zu lesen, die dein Vater wohlverwahrt hinter Schloß und Riegel hielt?» «Doch, ja», sagte ich. «Siehst du. Und ein Ehemann ist nun einmal in mancher Beziehung nicht viel anders als ein Vater. Ich halte es für dich am besten, wenn du von gewissen Dingen nicht viel weißt. Und die halte ich dann auch unter Schloß und Riegel. So, das wäre das, und jetzt iß deinen Pfirsich auf, und wenn du nicht mit dem Fragen aufhörst, wirst du in die Ecke gestellt.» «Wenn du mich nur nicht immer wie ein sechsjähriges Kind behandeln würdest», sagte ich. «Wie möchtest du denn behandelt sein?» «So, wie andere Männer ihre Frauen behandeln.» «Also dich gelegentlich mal prügeln, meinst du, ja?» «Jetzt bist du dumm. Warum mußt du immer alles ins Lächerliche ziehen?» «Ich scherze durchaus nicht, ich meine es völlig ernst.» «Das glaube ich dir nicht; ich sehe es ja deinen Augen an, daß du nur deinen Scherz mit mir machst, als ob ich ein dummes kleines Mädchen wäre.» «Ja, Alice im Wunderland. Das war eine gute Idee von mir. Hast du dir schon die Schärpe und die Haarschleife besorgt?» «Sei nicht so übermütig. Du wirst dich noch wundern, wenn du mich in meinem Kostüm zu sehen bekommst.» «Davon bin ich überzeugt. Also iß schon deinen Pfirsich und sprich nicht mit vollem Mund. Ich habe noch eine Menge Briefe zu schreiben.» Er wartete nicht, bis ich fertig war, sondern stand auf, ging im Zimmer auf und ab und bat Frith, den Kaffee in die Bibliothek zu bringen. Ich blieb sitzen und aß trotzig so langsam wie ich konnte, in der Hoffnung, den Kaffee zu verzögern und Maxim dadurch ein wenig zu ärgern; aber Frith schenkte mir und meinem Pfirsich gar keine Beachtung; er brachte den Kaffee sofort, und Maxim ging allein in die Bibliothek hinüber. Als ich fertig war, ging ich nach oben auf die Galerie, um mir die Bilder noch einmal anzusehen. Ich kannte natürlich alle gut, aber ich hatte sie noch nie von dem Gesichtspunkt aus betrachtet, daß sie mir eine Anregung für mein Kostüm geben könnten. Ich hatte die Dame in Weiß mit dem Hut in der Hand schon von Anfang an den anderen Bildern vorgezogen. Es war ein Raeburn und stellte Caroline de Winter dar, eine Schwester von Maxims Urgroßvater. Sie heiratete einen berühmten Staatsmann und galt zu ihrer Zeit als Londoner Schönheit; aber dieses Bild war schon gemalt worden, als sie noch ein junges Mäd-chen war. Es konnte nicht schwer sein, dieses weiße Kleid mit seinen Puffärmeln, dem Fichu und dem engen Leibchen nachzumachen. Der Hut dagegen würde wohl einige Schwierigkeiten bereiten; und ich würde eine Perücke tragen müssen, denn mein strähniges Haar ließ sich bestimmt nicht in diese Locken legen. Vielleicht konnte das Modehaus Voce, von dem Mrs. Danvers gesprochen hatte, alles Nötige dazu besorgen. Ich beschloß, meine Maße und eine Skizze von dem Bild dorthin zu schicken und sie zu bitten, das Kostüm genau zu kopieren. Welch ein Stein fiel mir vom Herzen, als ich endlich diesen Entschluß gefaßt hatte! Ich fing sogar an, mich ein wenig auf den Ball zu freuen. Am nächsten Morgen schrieb ich nach London, fügte meine Zeichnung bei und erhielt umgehend eine liebenswürdige Antwort voller Danksagungen für die Ehre meines geschätzten Auftrages und der Zusicherung, daß die Arbeit sofort begonnen würde und daß sie auch die Perük-ke für mich besorgen wollten. Clarice war vor Aufregung ganz aus dem Häuschen, und ich selbst wurde ebenfalls vom Lampenfieber gepackt, als der große Tag näherrückte. Giles und Beatrice sollten bei uns übernachten; Gott sei Dank waren sie die einzigen, obwohl eine Menge Menschen zum Abendessen vor dem Ball geladen waren. Ich hatte schon gefürchtet, daß wir das ganze Haus voll Logierbesuch haben würden, aber Maxim hatte sich dagegen entschieden. «Wenn wir den Ball veranstalten, haben wir uns für das eine Mal genug angestrengt», sagte er, aber ich konnte seinen Worten nicht entnehmen, ob er das nur aus Rücksicht beschloß oder ob eine Vielzahl Gäste ihn wirklich so langweilte, wie er behauptete. Auf Manderley machte sich jetzt eine erwartungsvoll gespannte Stimmung bemerkbar. In der großen Halle wurde der Holzboden für die Tanzfläche gelegt, und im Salon wurden die Möbel umgeschoben, damit die langen Buffettische an den Wänden aufgestellt werden konnten. Auf der Terrasse und auch im Rosengarten wurde alles für die festliche Illumination vorbereitet - auf Schritt und Tritt begegnete man irgendwelchen Anzeichen für den bevorstehenden Ball. Überdies stieß man auf Handwerker, und Frank kam fast täglich zum Mittagessen herüber. Die Dienstboten redeten von nichts anderem, und Frith stolzierte umher, als hinge der Erfolg des Abends ausschließlich von ihm ab. Robert geriet völlig in Verwirrung und vergaß ständig irgend etwas. Den Hunden war auch schlecht zumute; Jasper schlich mit eingekniffenem Schwanz durch die Räume und fuhr jedem Handwerker an die Beine. Oder er stand auf der Terrasse und bellte sinnlos in die Gegend, um dann plötzlich wie toll auf den Rasen hinunterzulaufen und in einer Art Verzweiflung Gras zu fressen. Mrs. Danvers hielt sich im Hintergrund, aber ich wurde ständig an ihre Gegenwart erinnert. Als die Tische in den Salon gebracht wurden, dirigierte sie die Aufstellung, und sie war es, die die Anweisungen gab, wie der Tanzboden hergerichtet werden sollte. Sooft ich irgendwo hinkam, war sie kurz vorher dagewesen; manchmal sah ich gerade noch eine Tür sich schließen, oder ich hörte ihren Schritt auf der Treppe. Ich war ein Außenseiter, zu nichts und für niemanden nutze. Wo ich mich auch befand, ich stand allen nur im Weg. Der große Tag brach bewölkt und neblig an, aber das Barometer stand auf Schönwetter, und der frühe Nebel war ein gutes Zeichen: wir brauchten keine Angst um das Wetter zu haben. Gegen elf klärte es sich auf, wie Maxim vorausgesagt hatte, und die Sonne strahlte von einem wunderbaren wolkenlosen Himmel herab. Den ganzen Morgen über brachten die Gärtner Blumen ins Haus, den letzten weißen Flieder, große Lupinen und Rittersporn, fünf Fuß hoch, Hunderte von Rosen und alle Arten von Lilien. Auch Mrs. Danvers ließ sich endlich blicken; mit ihrer ruhigen leisen Stimme wies sie die Gärtner an, wo sie die Blumen hinstellen sollten, die sie dann selbst mit geschickten Fingern in den Vasen ordnete. Ich sah ihr fasziniert zu, wie sie Vase nach Vase fertig machte und sie überall im Hause verteilte; niemals häufte sie zu viel auf einen Fleck, hellte hier eine dunkle Ecke mit einer leuchtenden Farbe auf, ließ dort einen Platz völlig frei, der keines Blumenschmucks bedurfte. Maxim und ich aßen mit Frank in seiner Junggesellenwohnung im Verwaltungsgebäude zu Mittag, um drüben nicht unnötige Arbeit zu machen. Wir befanden uns alle drei in der etwas betont lustigen Stimmung, wie sie sich manchmal nach einem Begräbnis einstellt. Wir lachten über alles und nichts, während unsere Gedanken sich bereits mit den nächsten Stunden beschäftigten. Ich fühlte mich ungefähr so wie damals an meinem Hochzeitstag; ich hatte dieselbe beengende Empfindung, mich zu weit vorgewagt zu haben, um noch zurück zu können. Der Abend mußte mit Haltung überstanden werden. Ein Glück, daß Voce mein Kostüm rechtzeitig geschickt hatte. Zwischen seinen Hüllen von Seidenpapier sah es wunderschön aus. Und die Perücke war ein wahres Wunder; ich hatte sie nach dem Frühstück anprobiert und war ganz betroffen von der Wirkung gewesen. Ich sah darin richtig hübsch aus, gar nicht wiederzuerkennen, gar nicht wie ich. Sie machte mich zu einer großen Dame und ließ mich temperamentvoll und lebenslustig erscheinen. Maxim und Frank versuchten mich nach meinem Kostüm auszufragen. «Ihr werdet mich bestimmt nicht erkennen», sagte ich nur. «Wartet's doch ab, ihr werdet die Augen aufreißen!» «Du wirst doch hoffentlich nicht als Clown erscheinen?» fragte Maxim mit Grabesstimme. «Hoffentlich versuchst du nicht komisch zu sein.» «Nein, gar nichts in der Art», versicherte ich wichtig. «Ich wünschte, du wärst bei meiner Alice-im-Wunderland-Idee geblieben.» «Mit Ihrem Haar würden Sie eine gute Jungfrau von Orleans abgeben», bemerkte Frank schüchtern. «Daran habe ich gar nicht gedacht», erwiderte ich überrascht, und Frank errötete. «Ich bin überzeugt, wir werden Ihr Kostüm sehr schön finden, was Sie sich auch ausgedacht haben», sagte er in echter, geschraubter FrankManier. «Gieß nicht noch Wasser auf ihre Mühle, Frank», sagte Maxim. «Sie ist ohnehin schon so siegesgewiß, daß es kaum noch zum Aushalten ist. Aber Bee wird dich schon zurechtstauchen, das ist wenigstens ein Trost; sie wird es dir schnell genug sagen, wenn ihr dein Kostüm nicht gefällt. Die gute Bee, sie ist bei solchen Gelegenheiten immer falsch angezogen. Einmal kam sie als Madame Pompadour, und als wir zu Tisch gingen, stolperte sie, und ihre Perücke verrutschte. , erklärte sie in ihrer unverblümten Art, warf die Perücke auf einen Stuhl und lief den Rest des Abends unbekümmert mit ihrem Herrenschnitt herum. Du kannst dir ja wohl vorstellen, wie das zu einer blaßblauen Seidenkri-noline gepaßt hat. Und der arme Giles kam auf jenem Ball auch nicht auf seine Kosten. Er erschien als Koch und hockte die ganze Nacht mit einem todunglücklichen Gesicht vor der Bar. Ich glaube, er meinte, daß Bee ihn blamiert hatte.» «Nein, das war es gar nicht», sagte Frank, «er hatte bloß am Vormittag ein paar Vorderzähne eingebüßt, als er eine junge Stute zureiten wollte. Erinnerst du dich nicht? Und das war ihm so peinlich, daß er den Mund überhaupt nicht aufmachte. Nehmen Sie noch ein paar Spargel, Mrs. de Winter, oder eine Kartoffel?» «Nein, danke, Frank, ich habe keinen Hunger mehr, danke schön.» «Nerven!» sagte Maxim und schüttelte den Kopf. «Macht nichts, morgen um diese Zeit liegt alles hinter uns.» «Das wollen wir wenigstens hoffen», bemerkte Frank ernst. «Ich will noch Anweisung geben, daß die Wagen nicht später als fünf Uhr morgens vorfahren sollen.» Ich fing an hilflos zu lachen, und die Tränen traten mir in die Augen. «Lieber Gott, können wir nicht alle wieder telegraphisch ausladen?» «Haltung!» sagte Maxim. «Jetzt gilt's, den Kopf hochzuhalten und Mut zu beweisen. Dafür brauchen wir auch ein paar Jahre lang keinen Ball mehr zu geben. Frank, ich hab das unangenehme Gefühl, wir müßten jetzt zurückgehen; was hältst du davon?» Frank pflichtete ihm bei, und ich folgte ihnen unwillig aus dem kleinen, engen, ungemütlichen Eßzimmer, das für Franks Junggesellenwohnung so typisch war und das mir an diesem Tag wie ein rettender Hafen des Friedens und der Geruhsamkeit vorkam. Als wir im Haus anlangten, sahen wir, daß die Musiker angekommen waren und jetzt mit verlegenen roten Gesichtern in der Halle herumstanden, während Frith gewichtiger denn je Erfrischungen und Sandwiches anbot. Die Musiker sollten bei uns übernachten, und nachdem wir sie begrüßt und die bei solchen Anlässen üblichen scherzhaften Bemerkungen ausgetauscht hatten, wurden ihnen ihre Zimmer gezeigt, und danach konnten sie bis zum Anfang des Festes im Garten spazierengehen. Der Nachmittag schleppte sich dahin wie die letzte Stunde vor der Abreise, wenn alles fertig gepackt ist; und ich ging von einem Zimmer ins andere und kam mir dabei ebenso verloren vor wie Jasper, der mit vorwurfsvoller Miene hinter mir hertrottete. Ich hätte nirgends mehr helfend Hand anlegen können, und ich hätte gewiß klüger daran getan, wenn ich mit Jasper einen langen Spaziergang gemacht hätte. Doch als ich mich endlich dazu aufraffen wollte, war es zu spät. Maxim und Frank baten um Tee, und als wir mit dem Tee fertig waren, kamen auch schon Giles und Beatrice an. Ganz plötzlich war der Abend über uns hereingebrochen. «Es ist wirklich wie früher», sagte Beatrice, küßte Maxim auf die Wange und sah sich um. «Meine Hochachtung, du hast dich ja an jede Einzelheit erinnert. Die Blumen sehen prachtvoll aus», fuhr sie, zu mir gewandt, fort. «Hast du die Vasen angeordnet?» «Nein», erwiderte ich beschämt, «dein Lob gebührt Mrs. Danvers.» «Ach so. Na ja, schließlich ...» Beatrice sprach den Satz nicht zu Ende, Frank bot ihr gerade Feuer an, und dann schien sie vergessen zu haben, was sie hatte sagen wollen. «Habt ihr das kalte Büffet wieder bei Mitchell bestellt?» erkundigte sich Giles. «Ja», antwortete Maxim. «Wir haben überhaupt alles beim alten gelassen, nicht wahr, Frank? Wir hatten noch die Einladungslisten und die alten Rechnungen im Büro, nach denen wir uns genau gerichtet haben. Nichts ist geändert und niemand ist vergessen worden.» «Wie angenehm, daß wir jetzt allein sind», sagte Beatrice. «Ich denke noch mit Schrecken an das letzte Mal, als wir bereits fünfundzwanzig fremde Menschen hier vorfanden, die als Hausbesuch eingeladen waren. Was für Kostüme habt ihr euch denn ausgedacht? Maxim wird wahrscheinlich wie gewöhnlich nicht mitspielen, oder?» «Ja, wie gewöhnlich», entgegnete Maxim. «Ich finde das grundfalsch von dir. Die ganze Sache hätte viel mehr Schwung, wenn du dich ein bißchen anstrengen würdest.» «Hast du schon mal einen Ball auf Manderley mitgemacht, der keinen Schwung hatte?» «Nein, Bruderherz, dazu hat die Organisation immer zu gut geklappt; aber ich finde trotzdem, daß der Hausherr mit gutem Beispiel vorangehen sollte.» «Und ich finde, daß es vollauf genügt, wenn die Dame des Hauses diese Mühe auf sich nimmt», sagte Maxim. «Warum soll ich mich heiß und ungemütlich fühlen und mich außerdem noch zum Narren machen?» «Sei nicht albern; von Narr kann doch gar keine Rede sein. Bei deinem Aussehen würde dir jedes Kostüm stehen. Du brauchst ja auch nicht wie der arme Giles auf deine Figur Rücksicht zu nehmen.» «Was wird denn Giles tragen?» fragte ich. «Oder ist das noch ein tiefes Geheimnis?» «Nein, durchaus nicht», versicherte Giles strahlend. «Ich habe mich diesmal sogar besonders angestrengt. Unser Dorfschneider hat mich als arabischen Scheich ausstaffiert.» «Mein Gott!» sagte Maxim. «Es ist gar nicht übel», verteidigte Beatrice ihren Mann. «Er wird sich natürlich das Gesicht braun schminken und ohne Brille gehen. Die Kopfbedeckung ist sogar echt; wir haben sie von einem Freund geliehen, der lange dort unten gelebt hat, und das Kostüm selbst hat unser Schneider nach einem Foto kopiert. Giles macht sich sehr gut darin.» «Und als was gehen Sie, Mrs. Lacy?» fragte Frank. «Ach, ich kann mit nichts Besonderem aufwarten; ich hab mich auch so ein bißchen orientalisch hergerichtet, um zu Giles zu passen, aber ich erhebe keinen Anspruch auf Echtheit. Ein paar Perlenschnüre und natürlich ein Gesichtsschleier.» «Das klingt doch sehr nett», sagte ich höflich. «Na ja, es geht so. Jedenfalls ist es bequem und luftig, das ist immerhin etwas. Und wenn's mir unter dem Schleier zu heiß wird, dann nehme ich ihn einfach ab. Und für was hast du dich entschieden?» «Frage sie nur nicht», fiel Maxim ein. «Sie hat es keinem von uns verraten. Es ist das größte Geheimnis der Weltgeschichte. Ich glaube, sie hat deswegen sogar mit London korrespondiert.» «Ach nein», sagte Beatrice, offensichtlich beeindruckt, «du willst mir doch nicht etwa sagen, daß du die Bank gesprengt hast, um uns alle zu beschämen? Ich hab mir meins nämlich selbst zusammengestückelt.» «Keine Angst», sagte ich lachend, «es ist wirklich ganz einfach. Aber Maxim hat mich immer so geneckt, deshalb soll er ein bißchen zappeln.» «Da hast du ganz recht», bemerkte Giles. «Maxim ist immer so erhaben wie ein Kamel. In Wirklichkeit ist er wahrscheinlich eifersüchtig auf uns und möchte sich brennend gern auch verkleiden, aber er schämt sich, es zuzugeben.» «Der Himmel bewahre mich davor!» rief Maxim. «Und Sie, Crawley?» fragte Beatrice. Frank sah uns etwas schuldbewußt an. «Ich habe so viel zu tun gehabt, daß ich mich erst in letzter Minute um mein Kostüm kümmern konnte. Ich habe mir gestern ein paar alte Hosen und ein gestreiftes Fußballhemd herausgesucht, und dann wollte ich mir einen schwarzen Lappen über das eine Auge binden und als Seeräuber kommen.» «Warum haben Sie uns denn um Himmels willen nicht geschrieben?» fragte Beatrice. «Wir hätten Ihnen gut ein Kostüm leihen können, zum Beispiel ein holländisches, das Roger letzten Winter trug. Es hätte Ihnen fein gepaßt.» «Ich würde es meinem Verwalter sehr verübeln, wenn er als holländischer Bauerntölpel erschiene», sagte Maxim. «Seine ganze Autorität den Leuten gegenüber würde flötengehen. Als Pirat besteht wenigstens noch die Chance, daß er sie einschüchtert.» «So wie Frank habe ich mir immer einen Seeräuber vorgestellt», flüsterte Beatrice mir ins Ohr. Ich tat, als ob ich es nicht gehört hätte. Der arme Frank -sie hatte immer etwas an ihm auszusetzen. «Wie lange werde ich dazu brauchen, mein Gesicht zu schminken?» fragte Giles. «Wenigstens zwei Stunden», sagte Beatrice. «An deiner Stelle würde ich langsam damit anfangen. Wie viele sind wir denn bei Tisch?» «Sechzehn», sagte Maxim, «uns einbegriffen. Keine Fremden, lauter gute Bekannte.» «Ich bekomme tatsächlich schon Ballfieber», erklärte Beatrice. «Es ist doch ein Heidenspaß. Ich bin froh, daß du dich endlich wieder dazu entschlossen hast, Maxim.» «Das hast du nur ihr zu verdanken», Maxim deutete auf mich. «Ach, das ist ja nicht wahr», sagte ich. «Lady Crowan ist an allem schuld.» «Unsinn», sagte Maxim lächelnd. «Du weißt genau wie ich, daß du so aufgeregt bist wie ein Kind vor der ersten Geburtstagsgesellschaft.» «Das bin ich gar nicht.» «Ich brenne schon darauf, dein Kostüm zu sehen», sagte Beatrice. «Es ist wirklich nichts Besonderes», versicherte ich. «Mrs. de Winter hat uns immerhin versprochen, daß wir sie nicht wiedererkennen werden», sagte Frank. Alle sahen mich an und lächelten. Ich fühlte mich stolz und heiß und glücklich. Sie waren alle so nett zu mir. Der Gedanke an den Ball und daß ich die Gastgeberin war, machte mir plötzlich Spaß. Das Fest wurde ja mir zu Ehren gegeben, zu Ehren der jungen Herrin von Manderley. Ich saß auf einem Tisch in der Bibliothek und schlenkerte mit den Beinen, während die anderen um mich herumstanden, und ich wäre zu gern schon nach oben gegangen, um mein Kleid anzuziehen und die Perücke aufzusetzen und vor dem großen Wandspiegel auf- und abzugehen. Es war ein ganz neues, überraschendes Gefühl, auf einmal so wichtig genommen zu werden und den Mittelpunkt im Kreis von Giles, Beatrice, Frank und Maxim zu bilden, die alle von mir und meinem Kostüm sprachen und neugierig hin und her rieten. Ich dachte an das weiche weiße Seidengewand, das meine Magerkeit und meine allzu abfallenden Schultern verbergen würde, und an die glänzende Lockenfülle, unter der ich mein eigenes strähniges Haar verstecken konnte. «Wie spät ist es eigentlich?» fragte ich mit gespieltem Gleichmut und tat so, als ob ich hinter der vorgehaltenen Hand gähnte. «Wird es nicht bald Zeit, sich umzuziehen?» Als wir auf dem Weg nach oben die Halle durchquerten, fiel mir zum erstenmal auf, wie wunderbar sich das Haus für einen Ball eignete und wie festlich die Zimmer aussahen. Selbst der Salon, der sonst immer so kalt und steif wirkte, schien jetzt in flammenden Farben zu brennen. In jeder Ecke standen Blumen, rote Rosen in Silberschalen auf den weißgedeckten langen Tischen; die Glastüren zur Terrasse standen offen, und sobald die Dämmerung begann, würde von draußen die märchenhafte Gartenbeleuchtung hereinscheinen. Die Musiker hatten ihre Instrumente und Notenpulte oben in der Galerie aufgebaut, und über der Halle selbst lag es wie gespannte Erwartung. Sie strahlte eine Wärme aus, die ich früher nie bemerkt hatte und die wohl auf den lauen Sommerabend, die Blumenpracht unter den Bildern und auf unser Lachen zurückzuführen war. Ich traf Clarice schon in meinem Schlafzimmer an; ihr rundes Bauerngesicht glühte vor Aufregung. Wir kicherten wie die Schulmädchen, und ich bat sie, die Tür zuzuschließen. Dann setzte ein lebhaftes und geheimnisvolles Geraschel von Seidenpapier ein; wir flüsterten wie die Verschwörer, wir gingen auf den Zehenspitzen. Maxim befand sich in seinem Ankleidezimmer; vor ihm schützte uns eine dicke Wand und die abgeschlossene Tür. Heute abend war Clarice meine Verbündete und Vertraute. Das Kleid saß wie angegossen. Ich konnte kaum meine Ungeduld zügeln und still stehenbleiben, während Clarice mit vor Aufregung ungeschickten Fingern die vielen Haken zumachte. «Wie schön es ist, Madam», sagte sie immer wieder und lehnte sich zurück, um mich zu betrachten, «es ist ein Kleid für eine Königin.» «Wie ist es denn da mit meiner linken Schulter?» fragte ich besorgt. «Wird man das Achselband nicht sehen?» «Nein, Madam, es ist nichts zu sehen.» «Wie sehe ich denn aus, steht's mir?» Ich wartete ihre Antwort nicht ab, ich drehte mich vor dem Spiegel, ich runzelte die Stirn, ich lächelte. Ich fühlte mich bereits verwandelt. Der Schwan und das häßliche junge Entlein. Meine eigene unbedeutende Erscheinung war vergessen. «Geben Sie mir die Perücke», sagte ich aufgeregt. «Vorsichtig, drücken Sie die Locken nicht flach, sie müssen richtig voll vom Gesicht abstehen.» Clarice sah mir über die Schulter; ihr rundes Gesicht blickte mich aus dem Spiegel an, ihre Augen glänzten, ihr Mund stand offen. Ich strich mir das Haar glatt hinter die Ohren zurück. Dann ergriff ich das seidige Lockengebilde mit zitternden Fingern und sah Clarice mit einem leisen Lachen an. «O Clarice!» rief ich aus, «was wird wohl Mr. de Winter dazu sagen?» Ich bedeckte mein unscheinbares Haar mit der Perücke und mußte mir Mühe geben, ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken. Jemand kam den Gang entlang und klopfte an die Tür. «Wer ist da?» rief ich voller Schrecken. «Es darf niemand herein.» «Ich bin es nur, meine Liebe, reg dich nicht auf», hörte ich Beatrices Stimme. «Kann man dich schon ansehen?» «Nein, nein», entgegnete ich hastig, «du darfst noch nicht herein, ich bin noch nicht fertig.» Clarice, die sich nicht weniger aufgeregt hatte als ich, reichte mir die Haarnadeln zu, mit denen ich die Locken, die sich in der Schachtel zerdrückt hatten, zurechtsteckte. «Es dauert nicht mehr lange», rief ich. «Geht nur schon alle hinunter und wartet nicht auf mich. Sag Maxim, er dürfte auch noch nicht kommen.» «Maxim ist schon unten», sagte Beatrice. «Er guckte eben zu uns herein. Er hat an deiner Badezimmertür ge-klopft, aber du hast nicht geantwortet. Spanne uns nicht zu lange auf die Folter, Liebste, wir können es schon gar nicht mehr abwarten. Kann ich dir bestimmt nichts helfen?» «Nein», rief ich ungeduldig, «geht nur, ich bin gleich soweit.» Ich erkannte das Gesicht, das mir aus dem Spiegel entgegenstarrte, kaum wieder. Waren die Augen nicht größer, der Mund kleiner, und war die Haut nicht auffallend weiß und zart? Die Locken umgaben den Kopf wie eine kleine Wolke. Ich betrachtete dieses Bild, das nicht mein Ebenbild war, und dann lächelte ich, ein neues, gelassenes Lächeln. «Oh, Clarice, Clarice!» sagte ich. Ich faßte den Rocksaum und machte einen tiefen Knicks vor ihr, so daß die Falbeln über den Boden rauschten. Sie kicherte halb verlegen, halb geschmeichelt, und errötete über und über. Ich stolzierte wie ein Pfau vor dem Spiegel auf und ab. «Machen Sie bitte die Tür auf», sagte ich dann, «ich werde jetzt hinuntergehen. Laufen Sie voraus und sehen Sie nach, ob alle schon unten sind.» Sie tat, wie ich sie geheißen hatte, und ich hob meinen Rock etwas an und folgte ihr durch den Korridor. Sie blickte zurück und winkte mir. «Sie sind alle in der Halle», flüsterte sie, «Mr. de Winter, Mr. und Mrs. Lacy, und Mr. Crawley ist auch gerade gekommen.» Ich blickte vorsichtig durch das Geländer hinab. Ja, da waren sie: Giles in seinem weiten Burnus, der gerade unter dröhnendem Lachen das krumme Messer an seiner Seite zeigte; Beatrice in einem sonderbaren grünschillernden Gewand und langen Perlenketten um den Hals; der arme Frank, unsicher und ziemlich blöde in seinem gestreiften Fußballhemd und hohen Wasserstiefeln; und Maxim im Frack, der einzige, der völlig beherrscht geblieben war. «Was sie bloß so lange macht», hörte ich ihn sagen. «Sie ist ja schon eine ganze Ewigkeit oben. Wir werden die Dinnergäste auf dem Hals haben, ehe wir's uns recht versehen.» Die Musiker hatten sich ebenfalls umgezogen und bereits ihre Plätze auf der Galerie eingenommen. Der eine stimmte gerade seine Geige; er spielte leise eine Tonleiter und zupfte dann eine Saite. Das Licht von unten fiel auf das Bild von Caroline de Winter. Ja, das Kleid war eine genaue Kopie nach meiner Skizze: die Puffärmel, die breite Schärpe, die Bänder, der breitrandige, weiche Hut. Und meine Locken umrahmten mein Gesicht ebenso wie die gemalten Locken das Gesicht auf dem Bild. Ich hatte mich noch nie in einer so stolzen und glücklichen Erregung befunden. Ich winkte dem Geiger zu und legte dann warnend den Finger auf den Mund. Er lächelte, verneigte sich und kam lautlos auf mich zu. «Sagen Sie dem Trommler, daß er mich ankündigen soll», flüsterte ich, «wissen Sie, mit einem Trommelwirbel, und dann muß er rufen. Ich möchte die da unten gern überraschen.» Er nickte; er hatte verstanden. Mein Herz klopfte zum Zerspringen, und meine Wangen glühten. Was für ein Spaß! Was für ein himmlischer, kindischer Riesenspaß! Ich lächelte Clarice zu, die noch hinter mir kauerte, und hob mit beiden Händen den Rock etwas hoch. Dann erfüllte der Trommelwirbel die große Halle und ließ mich einen Augenblick zusammenfahren. Die Gesichter unten in der Halle wandten sich erstaunt und fragend nach oben. «Miss Caroline de Winter!» rief der Trommler mit lauter Stimme. Ich trat auf die oberste Treppenstufe und stand da, lächelnd, den Hut in der Hand, wie das junge Mädchen auf dem Bild. Ich wartete auf das Händeklatschen und das Gelächter, während ich langsam die Stufen hinabstieg, aber niemand klatschte, niemand rührte sich. Sie starrten mich alle entgeistert an. Beatrice stieß einen kleinen Schrei aus, hielt sich aber gleich darauf erschrocken den Mund zu. Lächelnd, die eine Hand auf dem Geländer, ging ich weiter. «Wie geht es Ihnen, Mr. de Winter?» sagte ich. Maxim regte sich nicht. Er starrte mich mit kreideweißem Gesicht an. Ich sah, wie Frank auf ihn zuging, als wollte er etwas sagen, aber Maxim wies ihn mit einer ungeduldigen Bewegung zurück. Ich zögerte, bevor ich die nächste Stufe betrat. Irgend etwas stimmte da nicht; sie hatten nicht verstanden. Warum sah Maxim so aus? Warum standen sie dort alle starr und steif wie Kleiderpuppen, wie von einem Zauberstab berührt? Endlich ging Maxim auf die Treppe zu, ohne eine Sekunde den Blick von mir abzuwenden. «Was soll das in drei Teufels Namen heißen?» fuhr er mich an. Seine Augen funkelten vor Zorn aus seinem bleichen Gesicht. Ich stand wie gelähmt. «Es ist doch das Porträt», sagte ich, von seinem Blick und seiner Stimme entsetzt. «Das Porträt oben in der Galerie.» Es entstand ein langes Schweigen. Wir starrten einander immer noch an. Niemand rührte sich. Ich schluckte und faßte mir mit der Hand an den Hals. «Was ist denn?» fragte ich, «was habe ich getan?» Wenn sie mich nur nicht so anstarren wollten, dachte ich, mit diesen ausdruckslosen Gesichtern. Wenn nur jemand etwas sagen wollte! Als Maxim wieder sprach, erkannte ich seine Stimme nicht; sie klang eisig kalt und scharf. So hatte ich sie noch nie gehört. «Geh wieder rauf und zieh dich um», sagte er. «Ganz gleich, was. Irgendein Abendkleid, was du gerade findest. Aber mach schnell, bevor jemand kommt.» Ich konnte nichts antworten, ihn nur entsetzt anstarren. Seine Augen waren das einzig Lebendige in diesem totenblassen Antlitz. «Was stehst du noch da?» sagte er in einem seltsamen Tonfall. «Hast du nicht gehört, was ich sagte?» Ich wandte mich um und lief blindlings die Treppe wieder hinauf. Auf der Galerie erhaschte ich den erstaunten Blick des Trommlers, der mich angekündigt hatte. Ich hastete an ihm vorüber, stolperte, sah kaum, wo ich hinlief, denn die Tränen verschleierten mir die Augen. Ich wußte nicht, was geschehen war. Clarice war fort. Der Korridor lag verlassen da. Ich sah mich benommen und ratlos um wie ein gehetztes Tier. Dann erst bemerkte ich, daß die Tür zum Westflügel weit offen stand und daß eine Gestalt im Türrahmen lehnte. Es war Mrs. Danvers. Ich werde nie den Ausdruck auf ihrem Gesicht vergessen. Eine boshafte Schadenfreude leuchtete aus ihren Augen. Das Gesicht eines frohlockenden Teufels! So stand sie da und lächelte mich an. Und ich lief von ihr fort, den langen schmalen Gang entlang in mein Schlafzimmer, stolpernd, fast fallend, als meine Füße sich in den weiten Falbeln des Kleides verfingen. 17 Clarice erwartete mich in meinem Schlafzimmer. Sie sah blaß und erschreckt aus, und als sie mich erblickte, brach sie in Tränen aus. Ich sagte nichts, sondern begann an den Haken des Kleides zu zerren, daß der Stoff einriß. Ich kam allein nicht damit zurecht, und die laut weinende Clarice half mir. «Schon gut, Clarice, Sie können ja nichts dafür», sagte ich, und sie schüttelte den Kopf, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. «Ihr schönes Kleid, Madam», schluchzte sie, «Ihr schönes weißes Kleid!» «Das macht nichts», sagte ich. «Können Sie den Haken nicht finden? Hier am Rücken ist er, und gleich darunter muß noch einer sein.» Mit zitternden Händen versuchte sie den Haken zu finden und stellte sich noch ungeschickter dabei an als ich selbst und hörte nicht auf zu schlucken und zu schluchzen. «Was wollen Sie denn statt dessen anziehen, Madam?» fragte sie. «Ich weiß nicht», antwortete ich. «Ich weiß nicht.» Endlich war es ihr gelungen, das Kleid aufzumachen, und ich schlüpfte heraus. «Ich würde gern allein sein, Clarice», sagte ich. «Seien Sie so lieb und gehen Sie jetzt hinunter. Nein, nein, machen Sie sich keine Sorgen, ich werde schon allein fertig werden. Und vergessen Sie, was ge-schehen ist; ich möchte, daß Sie sich auf dem Ball amüsieren.» «Soll ich Ihnen nicht schnell etwas aufbügeln, Madam?» fragte sie und sah mich mit ihren immer noch überquellenden, verweinten Augen an, «das würde nicht lange dauern.» «Nein, danke», sagte ich, «lassen Sie nur; Sie würden mir einen größeren Gefallen tun, wenn Sie jetzt gingen, und, Clarice ...» «Ja, Madam?» «Sagen Sie unten nichts von dem Vorgefallenen.» «Nein, Madam.» Sie brach in einen neuen Tränenstrom aus. «Lassen Sie sich vor den anderen nicht so sehen!» sagte ich. «Gehen Sie erst in Ihr Zimmer und waschen Sie sich das Gesicht. Sie brauchen wirklich nicht zu weinen, es liegt gar kein Grund dafür vor.» Es klopfte an der Tür; Clarice warf mir einen ängstlichen Blick zu. «Wer ist da?» fragte ich. Die Tür öffnete sich, und Beatrice trat ein. Sie kam sofort auf mich zu; sogar jetzt fand ich sie komisch in dieser angeblich orientalischen Aufmachung und den klirrenden, billigen Messingarmbändern. «Meine Liebste», sagte sie, «meine Liebste!» und streckte mir beide Hände entgegen. Clarice schlich sich aus dem Zimmer. Ich fühlte mich plötzlich müde und unfähig, mich weiter aufrecht zu halten. Ich ging durchs Zimmer, setzte mich aufs Bett und nahm die Perücke ab. Beatrice sah mir dabei zu. «Fühlst du dich ganz wohl?» fragte sie. «Du siehst so elend aus.» «Das macht das Licht - in dem Licht hat man niemals viel Farbe.» «Bleib nur ein Weilchen sitzen, dann wirst du dich gleich besser fühlen», sagte sie. «Warte, ich werde dir ein Glas Wasser holen.» Sie ging ins Badezimmer - bei jeder Bewegung klapperten und klirrten ihre Armbänder -, und dann kam sie mit dem vollen Glas in der Hand zurück. Ich trank ein wenig, um ihr einen Gefallen zu tun, obwohl ich gar nichts haben wollte. Es schmeckte schal und warm; sie hatte vergessen, das Wasser ablaufen zu lassen. «Natürlich wußte ich sofort, daß es sich nur um einen unglücklichen Zufall handeln konnte», sagte sie. «Du konntest ja unmöglich eine Ahnung davon haben - woher solltest du auch.» «Ahnung wovon?» fragte ich sie. «Von dem Kostüm, du Ärmste, nach dem Porträt von Caroline de Winter; Rebecca trug nämlich auf dem letzten Ball genau dasselbe, haargenau. Dasselbe Bild, dasselbe Kleid. Und wie du da auf der Treppe standest, dachte ich einen schrecklichen Augenblick lang .» Sie beendete den Satz nicht, sondern klopfte mir auf die Schulter. «Du armer Pechvogel, woher hättest du das wissen sollen?» «Ich hätte es wissen müssen», sagte ich blöde, indem ich sie verständnislos anstarrte, «ich hätte es wissen sollen.» «Unsinn, woher denn? Und wir hätten ja auch nicht im Traum darauf kommen können, daß du denselben Einfall haben würdest. Deshalb war es ja ein solcher Schock für uns alle, und Maxim ...» «Ja, und Maxim?» «Er glaubt, daß du es absichtlich getan hast. Ihr hattet doch gewettet, daß du ihn überraschen würdest. Natürlich war das von dir nur Spaß, und er hat es mißverstanden. Es traf ihn völlig unvorbereitet. Ich sagte ihm gleich, daß es nie in deiner Absicht gelegen haben konnte und daß nur ein geradezu unwahrscheinlich unglücklicher Zufall es so gefügt hat, daß du auch auf dieses Bild verfallen bist.» «Es ist meine Schuld, ich hätte es mir denken können.» «Nein, nein, mach dir keine Sorge, du wirst ihm die Sache schon in aller Ruhe erklären können, und dann ist alles wieder in Ordnung. Die ersten Gäste trafen gerade ein, als ich nach oben ging. Jetzt werden sie beim Cocktail sein. Es wird schon alles gutgehen; ich sagte Frank und Giles, sie sollten irgendeine Geschichte erzählen, daß dein Kostüm nicht gepaßt hätte und wie enttäuscht du wärst.» Ich schwieg und blieb, die Hände im Schoß, sitzen. «Was kannst du statt dessen anziehen?» fragte Beatrice und ging an meinen Kleiderschrank. «Hier, wie ist es mit diesem blauen? Das sieht doch ganz reizend aus. Zieh das an. Kein Mensch wird sich daran stoßen. Komm, schnell, ich werde dir helfen.» «Nein», sagte ich, «nein, ich bleibe hier oben.» Beatrice sah bestürzt mich und dann das blaue Kleid auf ihrem Arm an. «Aber du mußt doch, meine Liebe», sagte sie ganz ratlos, «du kannst doch nicht einfach wegbleiben.» «Nein, Beatrice, ich gehe nicht hinunter. Ich könnte es nicht ertragen nach dem, was vorgefallen ist.» «Aber niemand wird etwas von dem Kleid erfahren», sagte sie. «Frank und Giles halten bestimmt dicht. Wir haben die Geschichte genau zurechtgelegt; der Schneider hat ein falsches Kostüm geschickt, das du nicht verwenden konntest, und deshalb wirst du ein gewöhnliches Abendkleid tragen. Niemand wird etwas dabei finden, und es wird der Stimmung gar keinen Abbruch tun.» «Du verstehst mich nicht», erwiderte ich. «Das Kleid ist mir ganz egal, darum geht's nicht. Sondern um das, was geschehen ist, was ich angerichtet habe. Jetzt kann ich einfach nicht wieder hinunterkommen, Beatrice!» «Aber hör doch, Giles und Frank sind voller Verständnis und Mitgefühl und Maxim auch. Es war ja nur der erste Schock. Ich will versuchen, ihn eine Minute allein zu sprechen, dann kann ich ihm alles erklären.» «Nein», sagte ich, «nein!» Sie legte das blaue Kleid neben mich auf das Bett. «Inzwischen werden fast alle da sein», sagte sie besorgt und aufgeregt. «Es wird einen komischen Eindruck machen, wenn du dich nicht zeigst. Ich kann doch unmöglich sagen, daß du plötzlich Kopfschmerzen bekommen hast.» «Warum nicht?» sagte ich erschöpft. «Was macht das schon? Erzähl irgend etwas. Es ist ihnen bestimmt gleichgültig; die meisten kennen mich ja noch gar nicht.» «Ach, komm schon», drängte sie und streichelte meine Hand. «Auch wenn's dir schwerfällt. Zieh dieses entzük-kende blaue Kleid an. Denk an Maxim. Schon um seinetwillen mußt du einfach mit mir kommen.» «Eben, an Maxim denke ich ja die ganze Zeit», sagte ich. «Aber dann mußt du doch einsehen .» «Nein», sagte ich und biß auf meine Nägel und wiegte mich vor und zurück auf dem Bett, «ich kann nicht, ich kann nicht.» Es klopfte wieder. «Ach, mein Gott, wer ist denn das?» sagte Beatrice und ging zur Tür. «Was ist denn los?» Sie öffnete die Tür. Draußen stand Giles. «Die Gäste sind schon alle da, und Maxim hat mich geschickt, um nachzusehen, wo ihr bleibt», sagte er. «Sie weigert sich, mit hinunterzukommen», erklärte Beatrice. Ich bemerkte, wie Giles einen hastigen Blick auf mich warf. «Mein Gott, was für ein Durcheinander!» flüsterte er und wandte sich verlegen ab, als er meinem Blick begegnete. «Was soll ich Maxim denn ausrichten?» fragte er Beatrice. «Es ist schon fünf nach acht.» «Bestell ihm, sie fühlt sich nicht sehr gut, aber sie will versuchen, später herunterzukommen. Und sie sollen nicht mit dem Essen warten. Ich komme gleich nach und werde die Sache schon in Ordnung bringen.» «Ja, schön, das werde ich tun.» Er warf wieder einen teils neugierigen, teils mitleidigen Blick auf mich. Er schien sich zu wundern, daß ich auf dem Bett saß, und seine Stimme klang so gedämpft, wie Leute sprechen, die nach einem Unfall auf den Arzt warten. «Kann ich sonst noch irgend etwas tun?» fragte er. «Nein, geh nur wieder», sagte Beatrice. «Ich komme in einer Minute nach.» Er verschwand und stapfte in seinem Burnus davon. Dies ist so ein Augenblick, dachte ich, über den ich noch Jahre später lachen und sagen werde: «Erinnerst du dich an Giles als Scheich, und Beatrice trug einen Schleier und klirrende Armbänder?» Die Zeit wird dem Augenblick seine Härte nehmen und ihn zu einer lustigen Erinnerung machen; aber jetzt war mir nicht komisch zumute, jetzt konnte ich nicht lachen. Jetzt war Gegenwart und nicht Zukunft. Das Erlebnis war noch zu frisch, zu wirklich. Ich saß auf dem Bett und zupfte am Kopfkissen und zog eine kleine Feder aus einer Ecke heraus. «Möchtest du vielleicht etwas Cognac?» versuchte Beatrice es noch einmal. «Es ist zwar nur synthetischer Mut, aber manchmal wirkt's doch Wunder.» «Nein, danke», sagte ich. «Ich möchte gar nichts.» «Ich muß jetzt hinuntergehen; Giles sagte ja, sie warten schon mit dem Essen. Bist du sicher, daß ich nichts für dich tun kann?» «Ja, du brauchst keine Sorge zu haben, Beatrice, und ich dank dir auch schön.» «Meine Liebe, du brauchst mir nicht zu danken. Ich wünschte, ich könnte irgend etwas für dich tun.» Sie trat vor meinen Spiegel und puderte sich rasch das Gesicht. «Himmel, wie ich aussehe!» sagte sie, «dieser verfluchte Schleier sitzt schon ganz schief, aber das läßt sich jetzt nicht mehr ändern.» Sie ging klirrend aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Ich fühlte, daß ich mir durch meine Weigerung, hinunterzugehen, ihre Sympathie verscherzt hatte. Ich hatte die weiße Fahne aufgezogen, das konnte sie nicht verstehen. Sie gehörte einem anderen Menschenschlag, einer anderen Rasse an. Die Frauen ihrer Rasse hielten jeder Prüfung auf Herz und Nieren stand; ich glich ihnen nicht. Wenn Beatrice an meiner Stelle gewesen wäre, hätte sie sich umgezogen und wäre hinuntergegangen, um ihre Gäste zu begrüßen. Sie hätte lächelnd neben Giles gestanden und ein paar freundliche Worte mit den Ankommenden gewechselt. Das brachte ich nicht fertig. Ich besaß nicht den Stolz dazu; ich hatte keine Haltung, ich war aus einem anderen Holz geschnitzt. Ich sah immer noch Maxims glühende Augen in seinem weißen Gesicht und hinter ihm Giles und Beatrice und Frank, wie sie mich entgeistert anstarrten. Ich erhob mich von meinem Bett und trat ans Fenster. Die Gärtner prüften gerade die Lampen im Rosengarten, um sich zu vergewissern, daß alle brannten. Ein paar lachsfarbene Wölkchen segelten im Westen über den fahlen Himmel. Sobald es dunkel wurde, sollten die Lampen angezündet werden. Im Garten waren Tische und Stühle aufgestellt, falls jemand draußen sitzen wollte. Ich konnte den Duft der Rosen vom Fenster aus riechen. Die Männer lachten und schwatzten miteinander. «Die hier ist durchgebrannt», hörte ich eine Stimme rufen, «kannst du mir eine Ersatzbirne bringen? Eine von den kleinen blauen, Bill.» Er schraubte die Birne ein und befestigte die Lampe an ihrem Platz. Zufrieden pfiff er eine Schlagermelodie vor sich hin, und ich dachte, daß die Kapelle auf der Galerie heute nacht dieselbe Melodie spielen würde. «So, das hätten wir», sagte der Mann und ließ das Licht an- und ausgehen. «Hier ist jetzt alles in Ordnung. Wir wollen uns jetzt mal auf der Terrasse umsehen.» Sie verschwanden pfeifend um die Hausecke. Ich starrte eine leere Bank an. Die rosa Wölkchen waren grau geworden. Über mir funkelte der Abendstern. Im Wald jenseits des Rosengartens ertönte das letzte schläfrige Zwitschern der Vögel. Eine einsame Möwe flog über den Horizont. Ich wandte mich um und ging wieder zum Bett zurück. Ich hob das weiße Kostüm vom Boden auf und legte es in den Karton mit dem Seidenpapier. Auch die Perücke tat ich wieder in ihre Schachtel. Dann suchte ich in meinem Schrank nach dem kleinen Reisebügeleisen, mit dem ich in Monte Carlo immer die Kleider von Mrs. Van Hopper gebügelt hatte. Es lag hinten in einer Schublade zwischen ein paar Pullovern, die ich lange Zeit nicht getragen hatte. Das Eisen war ein Allstrominstrument, und ich steckte den Stecker in die Steckdose und fing an, das blaue Kleid aufzubügeln, langsam und mit pedantischer Sorgfalt, so wie ich Mrs. Van Hoppers Sachen in Monte Carlo zu bügeln pflegte. Als ich fertig war, legte ich das Kleid aufs Bett. Dann wischte ich die Schminke ab, die ich für das Kostüm hatte auflegen müssen. Ich kämmte mir das Haar, wusch mir die Hände und zog das blaue Kleid und die dazugehörigen Schuhe an. Ich kam mir wieder so wie damals vor, wenn ich mit Mrs. Van Hopper in das Gesellschaftszimmer des Hotels hinunterging. Ich öffnete die Tür und ging den Korridor entlang. Kein Laut war zu hören. Man hätte glauben können, daß kein Mensch im Haus war. Ich ging auf Zehenspitzen bis zum Ende des Korridors. Die Tür zum Westflügel war geschlossen. Als ich durch die Galerie zur Treppe schritt, vernahm ich ein leises Stimmengewirr aus dem Eßzimmer. Man saß also noch bei Tisch. Die große Halle lag verlassen da. Auch die Galerie war leer; die Musiker aßen wohl auch gerade. Ich hatte keine Ahnung, wie für sie gesorgt wurde. Frank hatte das angeordnet - Frank oder Mrs. Danvers. Von dem Treppenabsatz aus konnte ich das Bild der Caroline de Winter in der Galerie sehen, die Locken, die ihr Gesicht umrahmten, und das Lächeln auf ihren Lippen. Mir fiel wieder ein, was die Frau des Bischofs damals gesagt hatte, als ich sie besuchte: «Dieser einzigartige Kontrast zwischen dem lockigen dunklen Haar und dem schneeweißen Kleid.» Daran hätte ich denken müssen, dann hätte ich Bescheid gewußt. Wie merkwürdig sich die Instrumente auf der Galerie ausnahmen, die Pulte und die große Trommel. Einer von den Musikern hatte sein Taschentuch auf seinem Stuhl liegenlassen. Ich beugte mich über das Geländer und blickte in die Halle hinab. Bald würde die Schar der Gäste sie füllen. Ihre froh erregten Stimmen würden von der hohen Decke widerhallen, und die Musik würde von hier oben zum Tanz aufspielen. Dann wäre es um die Stille hier geschehen. Hinter mir knackte es. Ich wandte mich hastig um, aber niemand war da. Die Galerie war menschenleer wie zuvor. Ein Luftzug traf mein Gesicht; jemand mußte ein Fenster im Gang geöffnet haben. Das Stimmengewirr aus dem Eßzimmer schwoll an und ebbte wieder ab. Wie es wohl kam, daß die Dielen geknackt hatten, obwohl ich mich nicht gerührt hatte? Vielleicht arbeitete das alte Holz in der abendlichen Sommerwärme. Ich spürte den Zug immer noch. Ein Notenblatt flatterte von dem einen Pult zu Boden. Ich ging wieder durch die Galerie zurück, und als ich zum Korridor kam, sah ich, daß die Tür zum Westflügel weit offen stand. Es war dunkel in dem angrenzenden Flur, und ich fühlte den Wind durch ein offenes Fenster mir ins Gesicht wehen. Ich tastete nach einem Lichtschalter, konnte aber keinen finden. Jetzt sah ich, welches Fenster es war: das vor dem Knick im Gang; die Vorhänge bauschten sich im Luftzug. Das graue Dämmerlicht zeichnete seltsame Schatten auf den Fußboden. Durch das Fenster hörte ich das Meer, das leise Rauschen, wenn die Wellen bei Ebbe vom Strand zurückfluten. Ich schloß das Fenster nicht. Einen Augenblick lang blieb ich noch fröstelnd in meinem dünnen Kleid stehen und lauschte dem seufzenden Atem der See. Dann drehte ich mich um, schloß hastig die Tür hinter mir zu und ging zur Treppe zurück. Unten klangen die Stimmen jetzt lauter herauf. Die großen Flügeltüren des Eßzimmers waren aufgeschlagen; man hatte die Tafel aufgehoben. Robert stand an der offenen Tür; ich hörte Stühlerücken und lebhaftes Reden und Lachen. Langsam schritt ich die Treppe hinunter, um unsere Gäste zu begrüßen. Wenn ich an jenen Ball von Manderley zurückdenke -meinen ersten und auch meinen letzten -, dann stehen nur unzusammenhängende Momentbilder vor meinem Auge, aber als Ganzes ist er mir keine Erinnerung mehr. Den Hintergrund bildete ein dunstiges Meer von unbekannten Gesichtern, und von der Galerie kam endlos eintönig ein Wimmern und Dudeln im Dreivierteltakt. Dieselben Paare drehten sich im Kreise mit demselben gefrorenen Lächeln, und mir, die ich neben Maxim unten am Fuß der Treppe die Nachzügler unter unseren Gästen begrüßte, kamen die Tanzenden wie Marionetten vor, die eine unsichtbare Hand an unsichtbaren Fäden sich drehen und wenden ließ. Da war eine Frau - ihren Namen habe ich nie erfahren, noch habe ich sie je wiedergesehen: sie trug ein erdbeerfarbenes Krinolinenkleid; welches Jahrhundert es repräsentieren sollte, konnte ich nicht feststellen; und jedesmal, wenn sie an mir vorüberkam, spielte die Kapelle einen besonders schwungvollen Walzertakt, zu dem sie sich wiegend in den Armen ihres Partners zurücklehnte und mich gleichzeitig anlächelte. Das geschah jedesmal, bis es zu einer automatischen Geste wurde, einer regelmäßigen Wiederholung wie jene Begegnungen bei einem Spaziergang an Deck eines Schiffes, bei dem man genau weiß, daß sie immer an der gleichen Stelle stattfinden werden. Ich erinnere mich noch, wie Robert eine Schüssel Halbgefrorenes fallen ließ und was für ein Gesicht Frith machte, als er feststellte, daß Robert der Schuldige war und nicht einer von den Lohndienern. Ich fühlte eine Regung, auf Robert zuzugehen und mich neben ihn zu stellen und zu sagen: sagte sie, und ich antwortete: Sie war schon damals so selbstbewußt wie eine Erwachsene und unterhielt sich mit Männern und Frauen und war so kokett und gescheit wie eine Achtzehnjährige. Sie wickelte ihren Vater um den kleinen Finger, und mit der Mutter hätte sie bestimmt dasselbe getan, wenn sie noch gelebt hätte. Und Einfälle hatte sie, darin konnte sie niemand übertreffen. An ihrem vierzehnten Geburtstag kutschierte sie ganz allein vierspännig, und ihr Vetter, Mr. Jack, kroch zu ihr auf den Bock und versuchte, ihr die Zügel aus der Hand zu nehmen. Wie zwei Wildkatzen haben sie sich gebalgt, während die Pferde durchgingen. Aber sie blieb Siegerin, meine Herrin. Sie knallte ihm die Peitsche um die Ohren, so daß er fluchend und lachend Hals über Kopf vom Wagen stürzte. Das waren mir schon die Richtigen, diese beiden. Mr. Jack haben sie dann in die Marine gesteckt, aber er konnte sich der Disziplin dort nicht fügen; und ich mache ihm keinen Vorwurf daraus. Er hatte viel zuviel Temperament, um gehorchen zu können, genau wie meine Herrin.» Ich beobachtete sie, abgestoßen und fasziniert zugleich; ein eigentümliches schwärmerisches Lächeln umspielte ihre Lippen und ließ ihr faltiges Totengesicht noch älter und unheimlicher erscheinen. «Niemand hat sie jemals klein bekommen», fuhr sie fort. «Sie tat nur, was sie wollte; sie lebte ihr eigenes Leben. Sie war stark wie eine junge Löwin. Ich erinnere mich noch, wie sie sich mit sechzehn Jahren auf eines der Pferde von ihrem Vater schwang, einen riesigen Hengst, von dem der Stallknecht behauptet hatte, er sei zu wild, um geritten zu werden. Aber sie ließ sich nicht abwerfen. Ich sehe noch, wie sie mit fliegenden Haaren auf ihn einschlug und ihm die Sporen in die Seiten trieb, daß das Blut heruntertropfte; und als sie abstieg, zitterte das Tier am ganzen Körper und war mit Schaum und Blut bedeckt. sagte sie und ging, um sich die Hände zu waschen, so kühl wie stets. Und so hat sie auch das Leben angepackt, als sie erwachsen wurde. Ich habe sie gesehen; ich war immer bei ihr. Sie machte sich aus nichts und aus niemand etwas. Und dann wurde sie zum Schluß doch geschlagen. Aber nicht von einem Menschen. Das Meer hat sie besiegt. Das Meer allein war stärker als sie.» Sie brach ab; um ihre Lippen zuckte es, ihre Mundwinkel zogen sich herab. Sie fing an, mit offenem Mund zu weinen, aber ihre Augen blieben trocken. «Mrs. Danvers», sagte ich, «Mrs. Danvers!» Ich stand hilflos vor ihr und wußte nicht, was ich tun sollte. Ich mißtraute ihr nicht länger und hatte keine Angst mehr vor ihr. Aber der Anblick, wie sie da mit trockenen Augen schluchzte, ließ mich schaudern, erregte ein Gefühl von Übelkeit in mir. «Mrs. Danvers», sagte ich. «Sie sind krank, Sie sollten zu Bett gehen. Gehen Sie doch auf Ihr Zimmer und legen Sie sich hin. Wollen Sie sich nicht ausruhen?» Sie sah wütend zu mir auf. «Lassen Sie mich doch zufrieden», rief sie. «Was geht es Sie an, wenn ich meinen Kummer zeige. Ich schäme mich nicht. Ich brauche mich nicht in mein Zimmer einzuschließen, wenn ich weinen will. Ich gehe nicht hinter verschlossenen Türen stundenlang in meinem Zimmer auf und ab, wie Mr. de Winter das tut.» «Was meinen Sie damit?» fragte ich. «Mr. de Winter tut das gar nicht.» «Er hat es getan», sagte sie. «Damals, als sie starb. In der Bibliothek. Ich hörte ihn, auf und ab, auf und ab. Ich habe ihn sogar dabei durch das Schlüsselloch beobachtet, mehr als einmal, hin und her, hin und her, wie ein gefangenes Tier.» «Ich will nichts mehr hören», sagte ich, «ich will es nicht wissen.» «Und dann glauben Sie, daß Sie ihn auf Ihrer Hochzeitsreise glücklich gemacht haben, glücklich gemacht, Sie, ein junges, unerfahrenes Mädchen, das seine Tochter sein könnte! Was wissen Sie schon vom Leben und von den Männern? Sie kommen einfach her und bilden sich ein, Sie könnten Mrs. de Winter ersetzen. Sie - meine Herrin ersetzen! Ha, selbst die Dienstboten haben gelacht, als sie Sie zu sehen bekamen, sogar das kleine Küchenmädchen, dem Sie an Ihrem ersten Morgen hier in den Weg liefen. Ich möchte ja nur wissen, was Mr. de Winter dachte, als er Sie hier nach Ihrer gesegneten Hochzeitsreise anbrachte, und was er gedacht hat, als er Sie zum erstenmal am Eßtisch sitzen sah.» «Hören Sie jetzt auf damit, Mrs. Danvers», sagte ich. «Gehen Sie bitte auf Ihr Zimmer.» «Auf mein Zimmer gehen», äffte sie mich nach, «auf mein Zimmer! Die Dame des Hauses hält es für richtiger, mich auf mein Zimmer zu schicken. Und dann, was geschieht dann? Dann laufen Sie zu Mr. de Winter und sagen: Sie werden wieder zu ihm laufen wie neulich, als Mr. Jack mich besucht hatte.» «Ich habe ihm nichts davon gesagt.» «Sie lügen», sagte sie. «Wer soll es ihm denn sonst gesagt haben? Es war ja niemand hier. Frith und Robert waren aus, und von den anderen Dienstboten wußte es keiner. Damals nahm ich mir fest vor, es Ihnen beiden heimzuzahlen. Soll er leiden, dachte ich, was geht das mich an. Warum soll mich Mr. Jack nicht hier auf Manderley besuchen dürfen? Er ist der einzige Mensch, mit dem ich noch über Mrs. de Winter sprechen kann. , sagte er zu mir, Er hat also seine Eifersucht noch immer nicht vergessen, wie mir scheint.» Ich erinnerte mich, wie ich mich hinter dem Geländer auf der Galerie versteckt hatte, als die Tür der Bibliothek sich öffnete: wie Maxims zornige Stimme zu mir heraufklang und wie ich die Worte hörte, die Mrs. Danvers gerade wiederholt hatte. Eifersüchtig - Maxim eifersüchtig. «Er war eifersüchtig auf sie, als sie lebte, und jetzt ist er immer noch eifersüchtig auf sie, obwohl sie tot ist», sagte Mrs. Danvers. «Er verbietet Mr. Jack das Haus jetzt wie damals. Das zeigt Ihnen doch, daß er sie nicht vergessen hat. Natürlich war er eifersüchtig. Ich war es ja auch. Jeder, der sie kannte, war es. Sie ließ das ganz kalt, sie lachte nur. , sagte sie zu mir. Ein Mann brauchte sie bloß einmal zu sehen, und schon hatte sie ihm den Kopf verdreht. Ich habe es selbst erlebt, wie sie Männer, die sie gerade in London kennengelernt hatte, übers Wochenende herbrachte. Sie fuhren mit dem Boot hinaus zum Baden, und sie veranstalteten Picknicks beim Bootshaus. Natürlich wollten alle ihre Liebhaber werden, das war ja nur verständlich. Und sie lachte und erzählte mir später, was sie gesagt und was sie getan hatten. Es berührte sie alles nicht; sie betrachtete es nur als einen Sport. Und wer sollte da nicht eifersüchtig werden? Alle waren sie eifersüchtig und wie verrückt hinter ihr her. Mr. de Winter, Mr. Jack, Mr. Crawley, jeder, der sie kannte, jeder, der nach Manderley kam.» «Ich will es nicht wissen», sagte ich. «Ich will es nicht wissen.» Mrs. Danvers kam auf mich zu, bis sie ganz dicht vor mir stand. «Es hat keinen Sinn, nicht wahr?» flüsterte sie. «Sie werden sie niemals besiegen können; sie ist immer noch Herrin hier, obwohl sie tot ist. Rebecca ist die richtige Mrs. de Winter. Sie sind der Geist und der Schatten. Sie sind hier unerwünscht und vernachlässigt. Na gut, warum räumen Sie nicht das Feld? Warum gehen Sie nicht?» Ich wich vor ihr zurück, meine alte Furcht und das alte Grauen stiegen wieder in mir hoch. Sie ergriff meinen Arm und umklammerte ihn wie einen Schraubstock. «Warum gehen Sie nicht?» sagte sie. «Niemand will Sie hier haben, er am allerwenigsten. Er kann sie nicht vergessen. Er möchte wieder allein mit ihr im Haus sein. Sie gehören in die Gruft auf den Friedhof, nicht meine Herrin.» Sie stieß mich fast zum Fenster und riß die Läden wieder auf; unter mir konnte ich grau und undeutlich in dem dik-ken Nebel die Terrasse erkennen. «Sehen Sie dort hinunter», zischte sie. «Es ist ganz einfach. Warum springen Sie nicht? Es tut gar nicht weh, wenn man sich das Genick bricht. Es ist ein ganz schneller, freundlicher Tod. Nicht wie Ertrinken. Warum tun Sie es nicht? Springen Sie doch!» Der Nebel quoll feucht und stickig ins Zimmer, beizte mir die Augen und stach mir in die Nase. Ich klammerte mich mit beiden Händen an das Fensterbrett. «Haben Sie keine Angst», sagte Mrs. Danvers. «Ich werde Ihnen keinen Stoß geben. Ich werde Ihnen doch nicht noch helfen. Sie können von selbst springen. Was hat es denn noch für einen Zweck für Sie, hier auf Man-derley zu bleiben? Sie sind nicht glücklich, und Mr. de Winter liebt Sie nicht. Dafür lohnt es sich doch nicht, weiterzuleben. Warum springen Sie nicht und machen allem ein Ende? Dann werden Sie nicht mehr unglücklich sein.» Ich sah die Blumenkübel unter mir und die blauen Hortensien mit ihren runden, schweren Blütenköpfen. Die Steinplatten waren glatt und eben, nicht rauh und zackig. Es war nur der Nebel, der sie so weit weg erscheinen ließ, in Wirklichkeit lag das Fenster gar nicht so hoch. «Springen Sie doch», flüsterte Mrs. Danvers an meinem Ohr, «es tut nicht weh.» Der Nebel wallte noch dichter empor und entzog die Terrasse meinen Blicken. Die Blumen und die Steinplatten waren unsichtbar geworden. Nur der weiße Dunst umgab mich, der nach Tang und Seewasser roch. Das einzig Gegenständliche waren das Fensterbrett unter meinen Händen und Mrs. Danvers' eiserner Griff um meinen Arm. Wenn ich jetzt sprang, würde ich die Steine mir nicht mehr entgegenstürzen sehen, der Nebel würde sie vor mir verbergen. Der Schmerz würde scharf und kurz sein; ich würde mir das Genick brechen, wie sie gesagt hatte. Es würde nicht so lange dauern wie das Ertrinken. Es wäre gleich vorüber. Und Maxim liebte mich ja nicht. Maxim wollte Manderley wieder für sich und Rebecca haben. «Haben Sie keine Angst», hörte ich wieder Mrs. Danvers. «Springen Sie.» Ich schloß die Augen. Mir war schwindlig geworden vom Hinunterstarren, und meine Finger, mit denen ich mich anklammerte, taten weh. Der Nebel stieg mir in die Nase und drang mir in den Mund, erstickend wie ein Wolltuch, wie betäubendes Gas. Ich fing an zu vergessen, daß ich unglücklich war, daß ich Maxim liebte, ich vergaß Rebecca. Bald würde ich nie wieder an Rebecca denken müssen ... Als ich schon mit einem Seufzer meine Finger lösen wollte, zerbarst plötzlich die weiße Nebelwand und das Schweigen, das sie einhüllte, und das Fenster klirrte unter dem Schock einer Explosion. Ich öffnete die Augen und starrte Mrs. Danvers an. Dem Knall folgte ein weiterer, dann ein dritter, ein vierter. Das Echo erschütterte die Luft, und unsichtbare Vogelschwärme schwangen sich vom Wald auf und umkreisten schreiend das Haus. «Was war das?» fragte ich ganz benommen. «Was ist geschehen?» Mrs. Danvers gab meinen Arm frei. Sie blickte starr in den Nebel hinaus. «Die Signalraketen! Es muß ein Schiff in der Bucht gestrandet sein.» Schweigend lauschten wir und blickten in die wirbelnden weißen Schwaden. Und dann hörten wir auf der Terrasse unten eilige Schritte. 19 Es war Maxim; ich konnte ihn nicht sehen, aber ich hörte seine Stimme. Er rief im Laufen nach Frith. Ich hörte Frith aus der Halle antworten und auf die Terrasse hinauskommen. Ihre Gestalten tauchten schattengleich aus dem Nebel auf. «Es ist aufgelaufen», sagte Maxim. «Ich beobachtete es schon von der Landzunge aus und sah es geradewegs in die Bucht und auf das Riff zusteuern. Während der Flut werden sie niemals loskommen. Sie müssen die Bucht mit dem Hafen von Kerrith verwechselt haben. Der Nebel steht da draußen wie eine Wand. Sagen Sie Bescheid, daß etwas Warmes zu essen und zu trinken bereitgehalten wird, falls die Leute etwas haben wollen. Und rufen Sie Mr. Crawley an und sagen Sie ihm, was geschehen ist. Ich gehe zurück zur Bucht. Bringen Sie mir ein paar Zigaretten.» Mrs. Danvers zog sich vom Fenster zurück. Ihr Gesicht war wieder die ausdruckslose weiße Maske, die ich so gut kannte. «Wir gehen jetzt wohl besser hinunter», sagte sie. «Frith wird mich suchen. Vielleicht bringt Mr. de Winter die Leute von dem Schiff ins Haus, wie er andeutete. Vorsicht, Ihre Finger, ich will das Fenster schließen.» Noch immer etwas benommen und taumelig trat ich zurück; ich konnte weder aus ihr noch aus mir selbst klug werden. Ich sah ihr zu, wie sie die Läden festmachte, das Fenster schloß und die Vorhänge zuzog. «Ein Glück, daß das Meer nicht stürmisch ist», meinte sie. «Sonst wären sie wohl kaum mit dem Leben davongekommen. Aber bei so ruhigem Wetter besteht keine Gefahr. Das Schiff wird allerdings verloren sein, wenn es auf das Riff aufgelaufen ist, wie Mr. de Winter sagte.» Sie sah sich im Zimmer um, um sich zu vergewissern, daß alles ordentlich an seinem Platz stand. Sie strich die Decke auf dem breiten Bett glatt. Dann ging sie zur Tür und hielt sie für mich auf. «Ich werde heute lieber ein kaltes Essen anrichten lassen», sagte sie. «Dann spielt es keine Rolle, wann Sie zu Tisch gehen. Mr. de Winter wird nicht um eins schon wieder zum Essen zurückeilen wollen, wenn er dort unten in der Bucht beschäftigt ist.» Ich versuchte ihre Worte zu erfassen und ging dann zur Tür. Ich fühlte mich so steif, als ob meine Glieder aus Holz wären. «Wenn Sie Mr. de Winter sehen, Madam, sagen Sie ihm doch bitte, daß er die Leute von dem Schiff ruhig herschicken soll. Ich werde dafür sorgen, daß sie jederzeit etwas Warmes zu essen bekommen.» «Ja», sagte ich. «Ja, Mrs. Danvers.» Sie wandte mir den Rücken und ging durch den Korridor zur Treppe, die hinunter zu den Küchenräumen führte: eine merkwürdige hagere Gestalt in ihrem schwarzen Kleid, dessen Rock den Boden fegte wie die Röcke, die man vor dreißig Jahren trug. Dann bog sie um eine Ecke und war verschwunden. Ich ging langsam zur Galerie, so verwirrt, als sei ich eben erst aus einem langen Schlaf erwacht. Ich ging die Treppen hinunter, ohne zu wissen, was ich unten tun sollte. Frith durchquerte gerade die Halle auf dem Weg zum Eßzimmer. Als er mich sah, blieb er stehen und wartete, bis ich unten war. «Mr. de Winter war vor ein paar Augenblicken noch hier, Madam», sagte er. «Er holte nur ein paar Zigaretten und ging wieder zum Strand zurück. Ein Schiff soll dort aufgelaufen sein.» «Ja», sagte ich. «Haben Sie die Raketen gehört, Madam?» «Ja», sagte ich. «Das mit dem Schiff ist ja aber auch kein Wunder bei diesem Nebel, Madam. Das habe ich auch gerade zu Robert gesagt. Es ist schon schwer genug, sich auf dem festen Lande zurechtzufinden, wieviel schwieriger muß es dann erst auf dem Wasser sein.» «Ja», sagte ich. «Wenn Sie Mr. de Winter noch einholen wollen, er ist vielleicht vor fünf Minuten gegangen.» «Ja, danke Frith», sagte ich. Ich ging auf die Terrasse hinaus. Die Bäume jenseits der Rasenfläche begannen bereits wieder Gestalt anzunehmen. Der Nebel lichtete sich, er stieg in kleinen Wolken zum Himmel, und um meinen Kopf dampfte und wirbelte es. Ich blickte zu den Fenstern im Westflügel empor. Sie waren alle fest geschlossen und sahen so aus, als ob sie sich nie mehr öffnen würden. An jenem großen Fenster in der Mitte hatte ich vor wenigen Minuten gestanden. Wie hoch es lag, von hier aus gesehen, wie tot und unpersönlich es jetzt wirkte. Die Steinplatten unter meinen Füßen fühlten sich hart und fest an. Ich blickte auf den Boden und dann wieder hinauf zum Fenster, und plötzlich begann sich alles vor meinen Augen zu drehen, und mir wurde ganz heiß. Der Schweiß lief mir von der Stirn. Vor meinen Augen tanzten schwarze Flek-ken. Ich ging wieder in die Halle und ließ mich in einen Sessel fallen. Meine Hände waren feucht. Ich saß ganz still und hielt meine Knie umklammert. «Frith», rief ich. «Frith, sind Sie noch im Eßzimmer?» «Ja, Madam?» Er kam sogleich herbeigeeilt und lief auf mich zu. «Frith, ich würde gern ein Glas Cognac haben.» «Gewiß, Madam.» Ich blieb regungslos sitzen, bis er mit dem Cognac auf einem Silbertablett zurückkehrte. «Fühlen Sie sich nicht wohl, Madam?» fragte Frith. «Soll ich Clarice rufen?» «Nein, danke, Frith, mir wird gleich besser sein», antwortete ich, «die Hitze ist mir vielleicht etwas zuviel geworden.» «Ja, es ist sehr heiß, Madam, wirklich sehr heiß, fast schwül, möchte ich sagen.» «Ja, Frith, richtig schwül.» Ich trank den Cognac aus und stellte das Glas auf das Tablett zurück. «Vielleicht hat Sie der Knall der Raketen erschreckt», meinte Frith. «Es kam so plötzlich.» «Ja, das stimmt», sagte ich. «Und vielleicht hat Sie auch der heiße Morgen nach dem langen Stehen gestern abend etwas angestrengt, Madam.» «Ja, das ist möglich», sagte ich. «Wollen Sie sich nicht eine halbe Stunde hinlegen? In der Bibliothek ist es ganz kühl.» «Nein, nein, ich werde gleich wieder hinausgehen. Es ist schon gut, Frith.» «Sehr wohl, Madam.» Er ging und ließ mich allein in der Halle. Es war angenehm ruhig und kühl dort. Nichts erinnerte mehr an das Kostümfest; als ob der Ball gar nicht stattgefunden hätte. Die Halle sah genauso grau und streng aus wie immer, mit den Stichen und den Waffen an der Wand. Ich konnte es kaum glauben, daß ich gestern abend hier am Fuß der Treppe in meinem blauen Kleid gestanden und fast fünfhundert Menschen die Hand geschüttelt hatte; daß auf der Galerie eine Musikkapelle gesessen und gespielt hatte. Ich erhob mich und trat auf die Terrasse hinaus. Der Nebel zerteilte sich und stieg nach oben bis zu den Baumwipfeln. Ich konnte den Waldrand wieder deutlich erkennen. Die blasse Sonne über mir versuchte die graue Wolkenschicht zu durchdringen. Es war noch heißer geworden. Schwül, wie Frith gesagt hatte. Eine Biene summte an mir vorbei einem Duft zu, laut surrend, und verstummte plötzlich, als sie ihre Blüte gefunden hatte. Auf dem Grashang jenseits des Rasens setzte einer der Gärtner die Mähmaschine in Gang. Ein von dem Klappern aufgescheuchter Hänfling flog zum Rosengarten hinüber. Der Gärtner schob vornübergebeugt seine Maschine langsam vor sich her, das abgeschnittene Gras und die Köpfe der Gänseblümchen stoben hinter den sich drehenden Messern hervor. Der süße warme Grasgeruch zog zu mir herüber, und die Sonne schien jetzt heiß auf mich hernieder. Ich pfiff Jasper, aber er kam nicht. Vielleicht war er Maxim zum Strand hinunter gefolgt. Und da begriff ich erst, daß Maxim nicht fortgegangen war, wie ich befürchtet hatte. Die Stimme, die ich auf der Terrasse gehört hatte, war ruhig und bestimmt gewesen, die Stimme, die ich kannte. Nicht die Stimme von gestern abend, als ich auf der Treppe stand. Maxim war nicht fortgegangen. Er befand sich jetzt da unten irgendwo in der Bucht. Er war wieder ganz der alte, gelassen und beherrscht. Er war nur spazierengegangen, wie Frank angenommen hatte. Er war auf der Landzunge gewesen und hatte von da aus das Schiff bemerkt. Meine Ängste waren grundlos. Ich brauchte mir um Maxim keine Sorgen zu machen. Was ich empfunden hatte, war unwürdig, scheußlich und wahnsinnig gewesen, etwas, was ich auch jetzt noch nicht richtig verstehen konnte, woran ich nicht mehr denken wollte; was ich auf immer tief in den schattigen Winkeln meines Unterbewußtseins vergraben wollte, wo auch die Schrecken meiner Kindheit ruhten. Dies alles war jetzt unwichtig geworden, weil ich Maxim in Sicherheit wußte. Dann ging ich den steilen, gekrümmten Pfad durch den finsteren Wald zur Bucht hinunter. Der Nebel hatte sich fast ganz aufgelöst, und als ich am Strand ankam, erblickte ich sogleich das Schiff, das etwa zwei Meilen entfernt mit dem Bug auf dem Riff aufsaß. Ich schritt über die Mole und lehnte mich am äußersten Ende gegen die steinerne Brüstung. Auf den Felsen wimmelte es bereits von Menschen, die längs der Küste von Kerrith herübergekommen sein mußten. Die Felsen und die Landzunge gehörten zu Manderley, aber der Weg am Meer entlang war seit jeher der öffentlichen Benutzung freigegeben. Einige kletterten die Felsen bis zum Wasserspiegel hinab, um das gestrandete Schiff besser sehen zu können. Es hatte schon schwere Schlagseite; das Heck lag tief im Wasser, und eine Anzahl Ruderboote umkreisten es. Das Rettungsboot war ebenfalls draußen. Ich konnte eine Gestalt darin stehen sehen, die etwas durch ein Megaphon rief. Dort draußen hielt sich der Nebel noch, und ich konnte den Horizont nicht erkennen. Ein Motorboot kam aus dem Nebel ins Licht. Einer von den Insassen trug eine Uniform. Das mußte der Hafenmeister von Kerrith sein, und der Mann neben ihm war wohl ein Vertreter von Lloyd. Ein zweites Motorboot folgte mit einem Schub Feriengästen aus Kerrith. Sie fuhren ganz nahe an das gestrandete Schiff heran, und ich hörte ihre aufgeregten Stimmen über das ruhige Wasser hallen. Ich verließ die Mole und kletterte über die Klippen dorthin, wo die anderen Menschen standen. Maxim konnte ich nirgends sehen, aber Frank war da und sprach mit einem der Männer von der Küstenwache. Ich traute mich zuerst nicht, zu ihm hinzugehen. Ich fühlte mich plötzlich verlegen. Vor kaum einer Stunde hatte ich ihm am Telephon etwas vorgeweint und wußte jetzt nicht, wie ich mich verhalten sollte. Er erblickte mich und winkte mir zu. Ich trat zu ihm. «Wollen Sie sich auch das Theater ansehen, Mrs. de Winter?» fragte der Küstenwächter, der mich kannte, lächelnd. «Ich fürchte, das wird noch ein schweres Stück Arbeit geben. Möglich, daß die Schlepper es loskriegen, aber ich bezweifle es. Das Schiff ist mit voller Fahrt aufgelaufen und sitzt jetzt eisern fest.» «Was wird man denn tun?» «Es wird gleich ein Taucher hinuntersteigen, um nachzusehen, ob der Kiel durchgebrochen ist», antwortete er. «Da, der Mann mit der roten Mütze. Wollen Sie mal durchs Glas sehen?» Ich nahm seinen Feldstecher und stellte ihn auf das Schiff ein. Eine kleine Gruppe Männer stand am Heck über die Reling gebeugt. Einer von ihnen zeigte auf etwas. Der Mann im Rettungsboot rief immer noch durch das Megaphon. Der Hafenmeister von Kerrith gesellte sich zu den Männern am Heck. Der Taucher mit der roten Mütze saß in dem grauen Motorboot der Hafenmeisterei. Das Ausflüglerboot lag jetzt mit abgestelltem Motor vor dem Schiff, und eine von den Frauen photographierte. Ein Möwenschwarm hatte sich auf dem Wasser niedergelassen und schrie hungrig in der Hoffnung auf Abfälle. Ich reichte dem Küstenwächter das Glas zurück. «Es scheint nichts zu passieren», sagte ich. «Sie werden den Taucher gleich hinunterlassen», sagte der Küstenwächter. «Die reden wahrscheinlich nur ein bißchen hin und her wie alle Ausländer. Da kommen die Schlepper.» «Die werden es nie schaffen», sagte Frank. «Sehen Sie doch nur, wie schief das Schiff liegt. Es ist da draußen doch viel flacher, als ich angenommen hätte.» «Ja, das Riff zieht sich ziemlich weit hinaus», bemerkte der Küstenwächter, «normalerweise bemerkt man es nicht, wenn man mit einem Ruderboot dort draußen herumfährt. Aber ein Schiff mit dem Tiefgang kommt natürlich nicht darüber hinweg.» «Ich war drüben in der anderen Bucht, als die Signalraketen abgeschossen wurden», sagte Frank. «Ich konnte kaum drei Schritt weit sehen. Da gingen die Dinger plötzlich mitten aus dem Nebel los.» Ich dachte, wie ähnlich doch die Menschen auf ein ungewöhnliches Ereignis reagieren. Frank erzählte seine Fassung von der Geschichte mit derselben Wichtigkeit wie Frith. Ich wußte, daß er zum Strand hinuntergegangen war, um Maxim zu suchen, und ich wußte, daß er ebenso in Sorge gewesen war wie ich. Und nun war alles vergessen und abgetan: unser Telephongespräch, unsere Angst, die Dringlichkeit, mit der er mich sprechen wollte - und nur, weil ein Schiff im Nebel gestrandet war. Ein kleiner Junge kam auf uns zugelaufen. «Werden die Matrosen alle ertrinken?» fragte er. «Die nicht, mein Sohn, denen geht es wunderbar», sagte der Küstenwächter. «Die See ist so ruhig wie ein Spiegel. Diesmal ist nichts zu befürchten.» «Wenn's gestern nacht passiert wäre, hätten wir sie sicher nicht gehört», sagte Frank. «Wir haben bei dem Feuerwerk ja wenigstens fünfzig große Raketen losgelassen, die kleinen gar nicht gerechnet.» «Aber wir wären schon aufmerksam geworden», meinte der Küstenwächter. «Uns wäre ja die Richtung, aus der Knall und Blitz kamen, aufgefallen. Hier, sehen Sie mal, Mrs. de Winter, der Taucher setzt gerade seinen Helm auf.» «Ich will den Taucher auch sehen», sagte der Junge. «Dort ist er», sagte Frank, indem er sich zu ihm herabbeugte und mit dem Finger zeigte. «Der Mann da mit dem Helm. Er wird gleich ins Wasser gelassen.» «Wird er denn nicht ertrinken?» fragte der Junge. «Taucher ertrinken nicht», erklärte der Küstenwächter. «Vom Schiff aus bekommt er die ganze Zeit Luft zugepumpt. Paß mal auf, wie er untertaucht, da, schon ist er verschwunden.» «Die bekommen heute nichts zu tun», sagte der Küstenwächter. «Nein», sagte Frank, «aber ich glaube, die Schlepper auch nicht. Diesmal wird der Schiffausschlachter den Verdienst einstecken.» Die Möwen flatterten über unseren Köpfen; einige ließen sich auf den Klippen nieder, andere, mutigere, umschwammen das Schiff. Der Küstenwächter nahm seine Mütze ab und wischte sich die Stirn. «Mächtig drückend heute», sagte er. Das Ausflüglerboot nahm jetzt ebenfalls Kurs auf Ker-rith. «Denen ist es zu langweilig geworden», sagte der Küstenwächter. «Ich kann es ihnen nicht verdenken», meinte Frank. «Es kann noch Stunden dauern, bis sich irgend etwas ereignet. Der Taucher muß ja erst Bericht erstatten, bevor sie entscheiden können, ob das Schiff wieder flott zu bekommen ist oder abgewrackt werden muß.» «Ja, das stimmt», sagte der Küstenwächter. «Es hat, glaube ich, nicht viel Sinn, hier herumzustehen», sagte Frank. «Wir können doch nichts ausrichten, und außerdem habe ich Hunger.» Ich schwieg. Er zögerte und blickte mich fragend an. «Was werden Sie tun?» fragte er. «Ich werde doch noch ein bißchen bleiben», sagte ich. «Das Mittagessen kann warten. Ich möchte gern sehen, was mit dem Taucher wird.» Ich wollte nicht mit Frank nach Hause gehen, ich wollte allein sein; der Küstenwächter störte mich nicht. «Sie werden gar nichts zu sehen bekommen», sagte Frank. «Begleiten Sie mich lieber und essen Sie mit mir.» «Nein, danke, Frank», sagte ich, «wirklich nicht.» «Na schön, wie Sie wollen. Sie wissen ja, wo ich zu finden bin, falls Sie mich brauchen. Ich bin den ganzen Nachmittag im Büro.» «Ja», sagte ich. Er nickte dem Küstenwächter zu und ging zum Strand hinunter. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn nicht vielleicht gekränkt hatte. Aber das ließ sich jetzt nicht ändern. Eines Tages würde sich schon alles wieder einrenken. So viel hatte sich ereignet, seitdem wir miteinander gesprochen hatten, und ich wollte jetzt an nichts mehr denken müssen. Ich wollte nur still auf den Felsen sitzen und aufs Schiff hinaussehen. «Ein feiner Kerl, Mr. Crawley», sagte der Küstenwächter. «Ja», sagte ich. «Er würde für Mr. de Winter durchs Feuer gehen.» «Ja, ich glaube, das würde er tatsächlich fertigbringen.» Der kleine Junge sprang immer noch aufgeregt um uns herum. «Wann kommt denn der Taucher wieder?» fragte er. «Noch nicht so bald, mein Sohn», sagte der Küstenwächter. Eine Frau in einem rosa-weiß gestreiften Kleid kam über die Klippen auf uns zu. «Charlie? Charlie? Wo steckst du denn?» rief sie. «Da kommt deine Mutter, jetzt setzt's was!» sagte der Küstenwächter. «Ich hab den Taucher gesehen, Mami», schrie der Junge. Die Frau nickte uns lächelnd zu. Ich kannte sie nicht. Sie war wohl ein Feriengast aus Kerrith. «Es wird wohl jetzt nicht mehr viel zu sehen geben», sagte sie. «Da unten sagen sie, daß das Schiff noch tagelang draußen liegen wird.» «Sie warten erst den Bericht des Tauchers ab», sagte der Küstenwächter. «Ich verstehe nicht, wie ein Mensch dazu zu kriegen ist, so lange unter Wasser zu bleiben», sagte die Frau. «Hoffentlich bezahlt man sie wenigstens gut.» «Das tut man auch», sagte der Küstenwächter. «Ich will ein Taucher werden, Mami», rief der Junge. «Da mußt du deinen Vater fragen, Charlie», sagte die Frau und lachte uns an. «Ein schönes Fleckchen Erde ist das hier, nicht wahr?» wandte sie sich dann an mich. «Wir wollten hier picknicken und ahnten ja nicht, daß wir in den Nebel geraten und sogar noch ein Schiffsunglück erleben würden. Ich persönlich kann ja nichts Aufregendes dabei finden.» «Nein, viel zu sehen ist ja auch nicht», sagte der Küstenwächter. «Das ist ein schöner Wald dort drüben», sagte die Frau. «Aber ich glaube, er gehört zu einem Privatbesitz.» Der Küstenwächter räusperte sich verlegen und sah mich an. Ich kaute an einem Grashalm und blickte zur Seite. «Ja, das ist privater Besitz», sagte er. «Mein Mann hat gesagt, daß alle diese großen Grundstücke eines Tages aufgeteilt und Einfamilienhäuser darauf gebaut werden würden», sagte die Frau. «Ich hätte nichts dagegen, so ein kleines Haus hier an der See zu haben. Aber im Winter stelle ich's mir nicht schön vor.» «Ja, im Winter ist es hier sehr einsam», sagte der Küstenwächter. Ich kaute weiter an meinem Grashalm. Der kleine Junge spielte um uns herum. Der Küstenwächter sah auf seine Uhr. «Es wird Zeit für mich», sagte er, «auf Wiedersehen.» Er grüßte mich und schlug den Pfad nach Kerrith ein. «Komm, Charlie, wir wollen Vater suchen gehen», sagte die Frau. Sie nickte mir freundlich zu und wanderte über den Felsen landeinwärts. Der kleine Junge rannte ihr nach. Ein Mann in kurzen Sporthosen und buntgestreifter Tennisjacke winkte ihr. Sie setzten sich alle neben einen Wacholderbusch, und die Frau fing an, ihren Picknickkorb auszupacken. Ich wünschte, ich hätte einmal vergessen dürfen, wer ich war, und mich zu ihnen setzen und mit ihnen hartgekochte Eier und belegte Brote essen, mich mit ihnen unterhalten und auch so vergnügt und laut lachen können. Und danach würden wir langsam nach Kerrith zurückgehen, unterwegs im Wasser plantschen, über den Sand um die Wette laufen und schließlich im Gasthaus einen ausgedehnten Tee mit Toast und Krabben zu uns nehmen. Statt dessen mußte ich allein durch den Wald nach Manderley gehen und auf Maxim warten. Und ich wußte nicht, was wir miteinander sprechen sollten, wie er mich ansehen, wie seine Stimme klingen würde. Aber ein Weilchen blieb ich noch sitzen. Ich war nicht hungrig, ich mochte nicht essen. Immer mehr Menschen kamen, um sich das Schiff anzusehen. Es war ein Erlebnis, von dem man zu Hause erzählen konnte. Die Gesichter waren mir alle unbekannt. Das Meer lag bleiern schwer und unbeweglich da; die Möwen flogen nicht mehr über meinen Kopf, sie ruhten sich jetzt alle auf dem Wasser aus. Im Laufe des Nachmittags kamen immer neue Boote mit Ausflüglern an der Unglücksstelle an; heute war ein großer Tag für die Bootsvermieter von Kerrith. Der Taucher wurde wieder emporgezogen und stieg dann noch einmal hinunter. Der eine Schlepper dampfte fort, während der andere blieb. Der Taucher blieb das zweitemal nur kurze Zeit unten, und dann fuhren er und der Hafenmeister mit dem grauen Motorboot weg. Die Besatzung des Schiffes vertrieb sich die Zeit damit, die Möwen zu füttern. Nichts ereignete sich. Die Ebbe hatte ihren Tiefstand erreicht, und das Schiff lag gefährlich schief und zeigte fast den ganzen Kiel. Im Westen zogen feine Schäfchenwolken auf, und die Sonne stach nicht mehr so unbarmherzig. Aber es war noch immer sehr heiß. Die Frau im rosagestreiften Kleid nahm ihren kleinen Jungen an die Hand; der Mann ergriff den Picknickkorb, und sie brachen nach Kerrith auf. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Es war drei vorbei. Ich erhob mich und ging über die Klippen in die Bucht hinunter. Dort unten war es still und einsam wie immer. Das Wasser in dem kleinen Hafen glitzerte wie Glas. Meine Füße machten ein knirschendes Geräusch auf dem Kies, als ich über den Strand ging. Die weißen Wölkchen bedeckten jetzt den ganzen Himmel, und die Sonne war hinter ihnen verschwunden. Als ich ein paar Schritte gegangen war, sah ich Ben an einer kleinen Pfütze zwischen den Felsen hocken, wo er Muscheln vom Gestein kratzte. Mein Schatten fiel auf das Wasser, als ich vorüberging, und er blickte auf. «'n Tag!» sagte er. «Guten Tag!» Er stand schwerfällig auf und öffnete das schmutzige Taschentuch, in das er die Muscheln gesammelt hatte. «Mögen Sie Muscheln?» fragte er. Ich wollte ihn nicht verletzen. «Ja, danke», sagte ich. Er schüttete etwa ein Dutzend in meine Hand, und ich steckte sie in meine beiden Rocktaschen. «Die schmecken gut mit Brot und Butter», sagte er. «Man muß sie aber zuerst kochen.» «Gut, das werde ich tun», sagte ich. Er sah mich mit seinem freundlichen blöden Grinsen an. «Haben Sie schon den Dampfer gesehen?» fragte er. «Ja», sagte ich. «Er ist aufgelaufen.» «He?» machte er. «Er ist gestrandet», wiederholte ich. «Es ist eine deutsche Jacht; sie hat sich wahrscheinlich ein Leck gerissen.» Er sah mich verständnislos an. «Ah ja», sagte er, «die liegt da unten, die kommt nicht wieder rauf.» «Vielleicht werden die Schlepper sie losbekommen, wenn die Flut steigt.» Er antwortete nicht. Er starrte zur gestrandeten Jacht hinüber. Von hier aus konnte ich ihre Breitseite sehen mit der rot gemalten Wasserlinie, die sich von ihrer schwarzen Flanke abhob, und den einen Schornstein, der in seiner schiefen Lage fast kokett wirkte. Die Besatzung lehnte immer noch an der Reling und warf den Möwen Futterbrocken zu. Die Ruderboote hatten sich bereits alle entfernt. «Sie ist ein Holländer, nicht wahr?» fragte Ben. «Ich weiß nicht, ich glaube, es ist ein deutsches Schiff.» «Sie wird zerbrechen, wo sie aufsitzt», sagte er. «Ja, ich fürchte, ja», sagte ich. Er grinste wieder und fuhr sich mit der Hand über den Nasenrücken. «Stück für Stück wird sie zerbrechen», sagte er. «Sie wird nicht wie ein Stein untergehen wie das kleine Boot.» Er kicherte geheimnisvoll und bohrte mit dem Finger in der Nase. Ich sagte nichts. «Die Fische werden sie schon aufgefressen haben, nicht wahr?» fragte er. «Wen?» fragte ich. Er deutete mit dem Daumen aufs Wasser hinaus. «Na, die da», sagte er, «die, die da unten liegen.» «Fische essen doch kein Holz, Ben», sagte ich. «He?» fragte er wieder, und wieder zog das blöde Lächeln über sein Gesicht. «Ich muß jetzt gehen», sagte ich. «Auf Wiedersehen.» Ich ließ ihn stehen und ging zum Wald hinauf. Ich blickte nicht zum Bootshaus hin; ich wußte nur, daß es dort an meiner Seite lag, grau und verlassen. Ich ging mit raschen Schritten den Pfad zwischen den Bäumen entlang. Auf halbem Wege sah ich noch einmal zurück und konnte das gestrandete Schiff gerade noch erkennen. Jetzt war auch die Besatzung von Deck gegangen. Eine kleine Brise erhob sich plötzlich und blies mir ins Gesicht. Ein Blatt löste sich von einem Zweig und fiel mir auf die Hand. Ein Schauder lief mir über den Rücken, ich wußte nicht, warum. Die Brise legte sich wieder, und es war heiß und drückend wie zuvor. Das Schiff dort draußen bot einen trostlosen Anblick mit seinem menschenleeren Deck und dem hilflos gen Himmel ragenden Schornstein. Das Meer war so ruhig, daß der Wellenschlag in der Bucht nur wie gedämpftes Flüstern heraufklang. Ich setzte meinen Weg fort. Ich fühlte mich am ganzen Körper zerschlagen, und eine eigentümliche Vorahnung machte mir das Herz schwer. Manderley sah sehr friedlich aus, als ich aus dem Wald herauskam und über den Rasen auf das Haus zuging. Von seinen festen Mauern ging ein starkes Gefühl von Geborgenheit aus; und als ich es dort in seiner einzigartigen Schönheit liegen sah, empfand ich zum erstenmal mit einem seltsamen, verwirrten Stolz, daß dies mein Heim war, daß ich zu Manderley und Manderley zu mir gehörte. Die Bäume und das Gras, die Blumenkübel auf der Terrasse spiegelten sich in den hohen Fenstern wider. Aus einem der Schornsteine stieg eine dünne Rauchfahne auf. Das frisch gemähte Gras duftete süß. Eine Amsel sang in dem Kastanienbaum. Ein Zitronenfalter flatterte wie trunken vor mir her. Ich ging in die Halle und von da ins Eßzimmer. Für mich war noch gedeckt, aber Maxims Platz war schon abgeräumt. Der kalte Braten und die Salatschüssel standen auf dem Büfett. Ich zögerte einen Augenblick, bevor ich läutete. Robert kam aus der Anrichte. «War Mr. de Winter hier?» fragte ich ihn. «Ja, Madam», sagte Robert. «Er kam kurz nach zwei, aß eine Kleinigkeit und ging dann wieder hinaus. Er fragte nach Ihnen, und Frith sagte, er glaubte, Sie seien zum Strand hinuntergegangen, um das Schiff zu sehen.» «Hat er hinterlassen, wann er zurückkommen wird?» «Nein, Madam.» «Er muß den anderen Weg gegangen sein», sagte ich. «Deshalb haben wir uns wohl verfehlt.» «Ja, Madam», sagte Robert. Ich sah auf die Platte mit dem Fleisch. Ich war zwar hungrig, aber ich hatte keinen Appetit auf kalten Braten. «Wollen Sie nicht etwas essen, Madam?» fragte Robert. «Nein, danke», sagte ich. «Aber bringen Sie mir etwas Tee in die Bibliothek. Keinen Kuchen, nur Tee und etwas Toast.» «Sehr wohl, Madam.» Ich ging in die Bibliothek und setzte mich auf die Bank am Fenster. Jasper fehlte mir. Maxim mußte ihn mitgenommen haben. Ich wartete darauf, daß sich irgend etwas ereignen sollte, irgend etwas Unvorhergesehenes. Mein grauenhaftes Erlebnis am Morgen, das gestrandete Schiff und mein Hunger hatten mich in einen Zustand erregter Spannung versetzt, die ich mir selbst nicht deuten konnte. Mir war, als hätte ich einen neuen Abschnitt meines Lebens begonnen, in dem nichts wie früher sein würde. Das Mädchen, das sich gestern abend zum Kostümball angezogen hatte, hatte ich hinter mir gelassen. Das alles war vor langer Zeit geschehen. Jetzt saß ein neues, ganz anderes Ich hier am Fenster. Robert brachte mir den Tee, und ich verschlang heißhungrig den gebutterten Toast. Er hatte außerdem doch noch Sandwiches, Kuchen und kleines Gebäck mitgebracht; er hielt es wohl nicht für schicklich, den Tee allein mit Toast zu servieren, und ich war froh, daß er nicht auf mich gehört hatte. Ich hatte ja nicht einmal richtig gefrühstückt, nur etwas kalten Tee getrunken. Als ich bei meiner dritten Tasse war, trat Robert wieder ein. «Ist Mr. de Winter schon zurückgekommen, Madam?» erkundigte er sich. «Nein», sagte ich, «warum? Möchte ihn jemand sprechen?» «Jawohl, Madam. Captain Searle, der Hafenmeister von Kerrith, ist am Telephon. Er fragt, wann er Mr. de Winter hier antreffen kann.» «Ich weiß nicht, was wir ihm sagen sollen», erwiderte ich. «Es ist ja schließlich möglich, daß er noch Stunden fortbleibt.» «Jawohl, Madam.» «Bestellen Sie ihm, er möchte doch um fünf Uhr noch einmal anrufen», sagte ich. Robert ging aus dem Zimmer, kam aber gleich darauf wieder zurück. «Captain Searle würde Sie auch gern sprechen, wenn es Ihnen recht ist, Madam», sagte er. «Er sagt, es handle sich um eine sehr dringliche Angelegenheit. Er hat schon im Büro angerufen, aber Mr. Crawley war auch nicht da.» «Wenn es so dringend ist, dann soll er nur gleich heraufkommen. Hat er einen Wagen?» «Ja, ich glaube wohl, Madam.» Robert ging aus dem Zimmer. Ich wunderte mich, daß Captain Searle mich sprechen wollte. Wahrscheinlich hatte es irgend etwas mit dem gestrandeten Schiff zu tun, aber ich begriff nicht, was das Maxim anging. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn das Schiff unmittelbar in der Bucht aufgelaufen wäre. Denn die Bucht war Manderley-scher Besitz. In diesem Fall hätten sie Maxims Erlaubnis einholen müssen, um Felsensprengungen vorzunehmen oder was man sonst tat, um ein Schiff wieder flott zu bekommen. Aber das Riff lag doch schon im offenen Meer; Captain Searle würde nur seine Zeit verschwenden. Er mußte gleich losgefahren sein, denn eine Viertelstunde nachdem Robert seinen Anruf gemeldet hatte, trat er schon ins Zimmer. Er trug noch die Uniform, in der ich ihn mittags durch den Feldstecher gesehen hatte. Ich ging ihm entgegen und gab ihm die Hand. «Es tut mir leid, daß mein Mann noch nicht zurück ist, Captain Searle», sagte ich; «er muß wieder zu den Felsen hinuntergegangen sein, und vorher war er in Kerrith. Ich habe ihn selbst den ganzen Tag noch gar nicht zu Gesicht bekommen.» «Ja, ich hörte, daß er nach Kerrith gefahren war, aber leider habe ich ihn dort verfehlt», erwiderte der Hafenmeister. «Er muß zu Fuß zurückgegangen sein, während ich im Boot hinfuhr. Und Mr. Crawley kann ich auch nicht erreichen.» «Ja, das gestrandete Schiff hat uns hier alle ein bißchen durcheinander gebracht», sagte ich. «Ich war auch unten auf den Felsen und habe mein Mittagessen versäumt, und ich weiß, daß Mr. Crawley auch da war. Was wird nun mit dem Schiff geschehen? Werden die Schlepper es wieder losbekommen?» Captain Searle beschrieb mit der Hand einen großen Kreis in der Luft. «Es hat ein so großes Leck unter Wasser», sagte er. «Hamburg wird es nie wieder zu sehen bekommen. Aber das braucht uns ja nicht zu kümmern. Der Besitzer und der Vertreter von Lloyd können das untereinander abmachen. Nein, Mrs. de Winter, ich bin nicht des Schiffes wegen hierhergekommen. Indirekt ist es allerdings die Ursache meines Besuches. Ich habe nämlich Mr. de Winter eine Mitteilung zu machen, die mir verdammt unangenehm ist.» Er sah mich mit seinen hellen blauen Augen offen an. «Worum handelt es sich denn, Captain Searle?» Er zog ein großes weißes Taschentuch hervor und schneuzte sich. «Wissen Sie, Mrs. de Winter, Ihnen gegenüber fällt es mir auch nicht eben leichter, davon zu sprechen. Ich möchte Ihnen und Ihrem Mann um nichts in der Welt Ungelegenheiten bereiten. Wir in Kerrith schätzen Mr. de Winter alle sehr hoch, und Kerrith hat der Familie schon seit jeher viel zu verdanken. Es ist hart für Sie beide, daß wir die Vergangenheit nicht ruhen lassen können, aber wie die Umstände nun einmal sind, sehe ich da keinen Ausweg.» Er hielt inne und steckte das Taschentuch wieder ein. Dann sprach er mit gesenkter Stimme weiter, obwohl wir doch allein im Zimmer waren. «Wir schickten einen Taucher hinunter, um den Schaden zu untersuchen, und dort unten machte er eine Entdeckung. Als er das Leck gefunden hatte, wollte er noch auf die andere Seite hinübergehen, um festzustellen, ob dort auch etwas beschädigt worden sei, und dabei stieß er auf den Rumpf eines kleinen Segelbootes, der noch völlig intakt war. Der Taucher stammt hier aus der Gegend und erkannte das Boot sofort; es war das kleine Segelboot, mit dem Mrs. de Winter verunglückte.» Mein erstes Gefühl war das der Dankbarkeit, weil Maxim nicht da war, um diese Nachricht zu hören. Dieser neue Schlag, so unmittelbar nach meiner Maskerade gestern abend, war wirklich eine grausame Ironie des Schicksals. «Das ist ja ein merkwürdiger Zufall», sagte ich langsam. «Aber ist es denn unbedingt notwendig, Mr. de Winter etwas davon zu sagen? Kann das Boot nicht da liegen bleiben? Es kann doch keinen Schaden anrichten.» «Ja, normalerweise hätte auch kein Hahn danach gekräht, Mrs. de Winter, und ich wäre der letzte gewesen, alte Geschichten aufzurühren; und, wie gesagt, ich würde viel darum geben, Ihrem Mann das zu ersparen. Aber um die Auffindung des Bootes geht es gar nicht. Als nämlich der Taucher den Bootsrumpf etwas näher untersuchte, machte er eine bedeutend schwerwiegendere Entdeckung. Die Kajütentür war fest verschlossen, die Bullaugen ebenfalls, und an dem ganzen Rumpf war kein Kratzer zu sehen. Er brach eins der Bullaugen auf und sah in die Kajüte hinein. Sie war voll Wasser, das wohl durch irgendein unsichtbares Leck am Boden eingedrungen war, und dann fiel sein Blick auf etwas Grauenhaftes.» Captain Searle machte wieder eine Pause und blickte über seine Schulter, um sich zu vergewissern, daß niemand außer uns im Zimmer war. «Auf dem Kajütenboden lag ein Leichnam», sagte er ruhig. «Natürlich war er fast ganz aufgelöst, aber Kopf und Arme waren deutlich zu erkennen. Der Taucher ließ sich gleich wieder hochziehen und berichtete mir, was er entdeckt hatte. Jetzt verstehen Sie wohl, Mrs. de Winter, weshalb ich Ihren Mann sprechen muß.» Ich starrte ihn verständnislos an; ich war nicht sonderlich erschrocken, ich verspürte nur eine leichte Übelkeit. «Sie war nicht allein gesegelt», flüsterte ich. «Sie hatte also jemanden bei sich, und niemand hat davon gewußt?» «Es sieht so aus», sagte der Hafenmeister. «Wer kann das nur gewesen sein?» sagte ich. «Der Betreffende muß doch irgendwelche Verwandte gehabt haben, die ihn vermißten. Damals waren doch die ganzen Zeitungen voll von dem Unglück, und wie kommt es, daß er in der Kajüte eingeschlossen war und Mrs. de Winter Wochen später viele Meilen von dem Unglücksort aufgefunden wurde?» Captain Searle schüttelte den Kopf. «Ich weiß darüber auch nicht mehr als Sie», sagte er. «Fest steht nur, daß dort unten ein Leichnam gefunden wurde und daß ich dies melden muß. Ich fürchte, wir werden es nicht aus den Zeitungen heraushalten können, Mrs. de Winter. Es tut mir leid für Sie beide. Sie haben eben erst geheiratet und wollen hier in Ruhe leben, und dann muß so etwas geschehen.» Jetzt wußte ich auf einmal, was meine Vorahnung zu bedeuten hatte. Nicht das gestrandete Schiff war mir unheilvoll erschienen, noch die kreischenden Möwen und auch nicht der schwarze Schornstein, der wie ein drohender Finger gen Land wies. Das stille schwarze Wasser, das tausend Geheimnisse in seinen Tiefen bergen mochte, hatte dieses Gefühl in mir geweckt, und der Taucher, der hinabstieg und auf Rebeccas Boot stieß. Er hatte das Boot angefaßt und in die Kajüte gesehen, während ich noch unwissend auf den Felsen saß. «Wenn wir ihm doch nur nichts sagen müßten», sagte ich. «Wenn wir es doch verschweigen könnten.» «Sie wissen, ich würde es tun, wenn es mir möglich wäre, Mrs. de Winter», sagte Captain Searle. «Aber in einer solchen Angelegenheit müssen persönliche Rücksichten zurücktreten. Ich muß meine Pflicht tun und die Entdek-kung melden.» Er brach plötzlich ab, denn Maxim war ins Zimmer getreten. «Hallo», sagte er, «was geht denn hier vor? Ich wußte gar nicht, daß Sie hier sind, Captain. Ist irgend etwas los?» Ich hielt es nicht länger aus und verließ das Zimmer, feige, wie ich nun einmal war. Ich hatte nicht einmal gewagt, Maxim anzusehen. Ich hatte nur den undeutlichen Eindruck bekommen, daß er müde und erhitzt aussah. Ich ging in die Halle und stellte mich in die Haustür. Jasper trank geräuschvoll aus seinem Napf. Er wedelte mit dem Schwanz, als er mich sah, ohne im Trinken innezuhalten. Dann kam er in großen Sätzen auf mich zuge-sprungen und richtete sich an mir auf; ich küßte ihn auf den Kopf, und dann ging ich hinaus und setzte mich auf die Terrasse. Der Augenblick, der über meine Zukunft entscheiden mußte, war gekommen. Ich konnte ihm nicht länger ausweichen. Meine alten Ängste, meine Scheu, mein unverbesserlicher Minderwertigkeitskomplex mußten jetzt unterdrückt und besiegt werden. Versagte ich jetzt, dann versagte ich für alle Zeiten. Es war meine letzte Gelegenheit. Ich betete verzweifelt um Mut, und meine Nägel gruben sich in meine Handflächen. Ich saß wohl fünf Minuten dort und starrte auf den grünen Rasen und die Blumenkübel auf der Steintreppe. Ich hörte, wie ein Auto auf der Anfahrt gestartet wurde und abfuhr. Das mußte Captain Searle sein. Er hatte Maxim pflichtgemäß seine Mitteilung gemacht und sich dann verabschiedet. Ich erhob mich und ging langsam durch die Halle in die Bibliothek zurück. Meine Hände spielten mit den Muscheln in meinen Taschen. Maxim stand am Fenster, den Rücken dem Zimmer zugekehrt. Ich wartete an der Tür. Er rührte sich nicht. Ich nahm meine Hände aus den Taschen und trat neben ihn. Ich ergriff seine Hand und legte sie an meine Wange. Er sagte noch immer kein Wort. «Es tut mir so leid», flüsterte ich. «Von ganzem Herzen leid.» Er schwieg. Seine Hand war eiskalt. Ich küßte sie, jeden Finger einzeln. «Ich will nicht, daß du dies Schwere allein trägst», fuhr ich fort. «Ich will es dir tragen helfen. Ich bin in diesen letzten vierundzwanzig Stunden ein anderer Mensch geworden. Du wirst mich nie wieder wie ein Kind behandeln müssen.» Er legte seinen Arm um mich und zog mich dicht an sich. Meine Scheu und meine Unsicherheit waren verflogen. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. «Du hast mir vergeben, nicht wahr?» fragte ich. Endlich sprach er. «Dir vergeben? Was hätte ich dir zu verzeihen?» «Wegen gestern abend», sagte ich. «Du dachtest, ich hätte es absichtlich getan.» «Ach das», antwortete er. «Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. War ich sehr unfreundlich zu dir?» «Ja», sagte ich. Er schwieg wieder, aber er hielt mich noch fest an sich gepreßt. «Maxim», sagte ich, «können wir nicht wieder von vorn beginnen? Einen neuen Anfang machen und Hand in Hand allen Schwierigkeiten begegnen? Ich erwarte nicht, daß du mich liebst. Ich verlange nichts Unmögliches von dir. Ich will dein Freund und dein Kamerad sein. Ich will nur das sein.» Er nahm meinen Kopf zwischen seine Hände und sah mich an. Es fiel mir auf, wie mager sein Gesicht war, wie müde und vergrämt. Und unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. «Wie sehr liebst du mich?» fragte er. Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Ich konnte ihn nur sprachlos anstarren, seine dunklen gequälten Augen, seinen blassen Mund. «Es ist zu spät, Liebste, zu spät», sagte er. «Ich habe meine Chance, glücklich zu sein, verpaßt.» «Nein, Maxim, nein», bat ich. «Doch», sagte er. «Jetzt ist es damit vorbei. Jetzt ist das eingetreten, was ich befürchtete.» «Was denn nur?» «Es mußte so kommen, es hat Tag und Nacht auf mir gelastet. Du und ich, wir sollten eben nicht glücklich werden.» Er setzte sich auf die Bank am Fenster, und ich kniete vor ihm, meine Hände auf seinen Schultern. «Wovon redest du?» Er legte seine Hände auf meine und blickte mir ins Gesicht. «Rebecca hat gewonnen», sagte er. Ich starrte ihn mit aufgerissenen Augen an; das Herz klopfte mir zum Zerspringen; meine Hände waren plötzlich eisig kalt geworden. «Ihr Schatten hat die ganze Zeit zwischen uns gestanden», sagte er. «Ihr verfluchter Schatten hat uns getrennt. Wie durfte ich dich denn so halten, mein Liebling, meine kleine Liebste, während ich ständig diese Furcht mit mir herumtrug? Ich erinnere mich an ihre Augen, wie sie mich ansah, als sie starb. Ich sehe noch ihr heimtückisches Lächeln. Sie wußte genau, wie alles kommen würde, sie wußte, daß sie mich zuletzt doch besiegen würde.» «Maxim», flüsterte ich. «Wovon sprichst du? Was willst du mir sagen?» «Man hat ihr Boot gefunden», sagte er. «Der Taucher hat es heute nachmittag entdeckt.» «Ich weiß, Captain Searle hat mir davon erzählt. Du denkst an die Leiche, die in der Kajüte gesehen wurde?» «Ja», erwiderte er. «Sie war also damals nicht allein», sagte ich. «Irgend jemand ist mit ihr gesegelt, und du mußt jetzt versuchen, herauszubekommen, wer es war - das ist es doch, nicht wahr, Maxim?» «Nein», entgegnete er, «nein, du verstehst nicht.» «Ich möchte dir so gern helfen, Maxim.» «Rebecca war damals allein im Boot, es war niemand bei ihr», sagte er. Ich beobachtete stumm sein Gesicht. «Es ist Rebeccas Leiche, die dort in der Kajüte liegt.» «Nein», stammelte ich, «nein.» «Die Frau, die in unserer Familiengruft beigesetzt wurde, war nicht Rebecca», fuhr er fort. «Es war der Leichnam einer Unbekannten, die kein Mensch vermißte, nach der niemand fragte. Es hat gar kein Bootsunglück gegeben; Rebecca ist nicht ertrunken. Ich habe sie getötet. Ich erschoß Rebecca da drüben im Bootshaus. Ich trug ihre Leiche in die Kajüte und versenkte das Boot. Es ist Rebecca, die man heute gefunden hat. Und jetzt schau mir in die Augen und sag mir, daß du mich noch liebst!» 20 Es war sehr still in der Bibliothek. Der einzige Laut kam von Jasper, der seine Pfote leckte. Er mußte sich einen Dorn eingetreten haben, denn er biß und rieb seine Ballen unaufhörlich. Dann hörte ich das Ticken von Maxims Armbanduhr dicht an meinem Ohr. Kleine Alltagsgeräusche. Aus irgendeinem Grunde kam mir das Sprichwort aus meiner Schulzeit in den Sinn: «Zeit und Gezeiten warten auf keinen.» Wenn jemand einen großen Schmerz erleidet, den Tod eines nahestehenden Menschen oder den Verlust eines Gliedes, dann empfindet er ihn zunächst gar nicht, glaube ich. Wenn einem die Hand amputiert wird, dann weiß man zuerst noch nicht, daß man sie verloren hat. Man fühlt immer noch die Finger. Man streckt sie aus und krümmt sie, einen nach dem anderen, und das, was man fühlt, ist doch gar nicht mehr da. Ich kniete dort neben Maxim, dicht an ihn geschmiegt, meine Hände auf seinen Schultern, und ich empfand nichts, weder Schmerz noch Furcht, und mein Herz kannte kein Entsetzen. Ich überlegte mir, daß ich den Dorn aus Jaspers Fuß ziehen müßte, und ob Robert bald kommen würde, um das Teegeschirr abzuräumen. Ich wunderte mich über mich selber, daß ich in diesem Augenblick an solche Belanglosigkeiten denken konnte, an Jaspers Pfote, Maxims Uhr, Robert und das Teegeschirr. Meine Empfindungslosigkeit und diese merkwürdige Herzenskälte erschreckten mich. Allmählich werde ich wieder anfangen zu fühlen, sagte ich mir, allmählich werde ich zu verstehen lernen. Alles, was er mir erzählt hat und was geschehen ist, wird sich zu einem Ganzen zusammenfügen wie die verschiedenen Teilchen eines Puzzlespiels und sich mir dann in einem klaren Muster präsentieren. Aber noch bin ich ein Schemen; ich habe kein Herz und keine Gedanken und kein Gefühl. Ich bin eine leblose Form in Maxims Arm. Dann fing Maxim an, mich zu küssen. So hatte er mich noch nie geküßt. Ich umklammerte seinen Kopf mit meinen Händen und schloß die Augen. «Ich liebe dich so sehr», flüsterte er. Das hatte ich Tag und Nacht von ihm zu hören gehofft, und jetzt sagte er es endlich. Darauf hatte ich in Monte Carlo, in Italien und hier in Manderley gewartet. Jetzt sagte er es. Ich öffnete die Augen und sah hinter seinem Kopf ein Stück des Vorhangs. Er fuhr fort, mich zu küssen, hungrig, verzweifelt, während er immer wieder meinen Namen flüsterte. Ich betrachtete den Vorhang, und es fiel mir auf, daß der Stoff an einer Stelle von der Sonne ausgebleicht war. Wie ruhig ich bin, dachte ich, wie kühl. Hier beobachte ich ein gleichgültiges Stück Vorhang, während Maxim mich küßt und mir zum ersten Mal sagt, daß er mich liebt. Plötzlich hielt er inne, schob mich von sich und stand auf. «Siehst du, ich hatte recht», sagte er. «Es ist zu spät. Du liebst mich nicht mehr. Und warum solltest du auch?» Er ging durchs Zimmer und lehnte sich an den Kaminsims. «Wir wollen das eben vergessen», sagte er. «Es wird nicht wieder vorkommen.» Das Verstehen brandete in mir empor, und mein Herz begann wild in panischem Schrecken zu klopfen. «Es ist nicht zu spät», rief ich und lief zu ihm hin und warf meine Arme um ihn. «So darfst du nicht sprechen, du verstehst nicht. Ich liebe dich mehr als alles in der Welt. Aber eben war ich noch zu benommen und erschüttert, um etwas fühlen zu können, als du mich küßtest. Ich begriff gar nichts. Jede Empfindung hatte mich verlassen.» «Ja», sagte er, «du liebst mich nicht mehr, deshalb hast du nichts gefühlt. Ich verstehe sehr gut. Ich habe zu lange gewartet, nicht wahr?» «Nein», sagte ich. «Ich hätte nicht so lange warten dürfen», sagte er. «Ich hätte daran denken müssen, daß Frauen anders sind als Männer.» «Bitte küß mich wieder, Maxim, bitte!» «Nein», sagte er, «es hat keinen Sinn mehr.» «Jetzt können wir einander nie mehr verlieren», sagte ich. «In Zukunft werden wir immer zusammen sein, und kein Schatten, kein Geheimnis wird zwischen uns stehen. Bitte, Liebster, bitte!» «Für uns gibt es keine Zukunft», sagte er. «Wir haben nur noch ein paar Tage, vielleicht nur Stunden. Wie können wir jetzt noch zusammenbleiben? Ich erzählte dir doch, daß man das Boot gefunden hat. Man hat Rebecca gefunden.» Ich starrte ihn verständnislos an. «Und was wird geschehen?» fragte ich. «Man wird die Leiche identifizieren», sagte er, «und sie werden alles in der Kajüte finden, was ihnen diese Aufgabe erleichtert: ihre Kleider, ihre Schuhe, die Ringe an ihren Fingern. Und dann wird man sich jener anderen Frau erinnern, die an Rebeccas Stelle begraben wurde.» «Und was wirst du tun?» flüsterte ich. «Ich weiß nicht», sagte er. «Ich weiß nicht.» Ich fühlte, wie mein Empfindungsvermögen wieder zurückkehrte, ganz allmählich, wie ich es erwartet hatte. Meine Hände waren nicht mehr kalt, sondern warm und feucht. Ich fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg. Meine Wangen glühten. Ich dachte an Captain Searle, den Taucher, den Agenten von Lloyd, an alle die Männer, die sich über die Reling des gestrandeten Schiffes gelehnt und in die Tiefe gestarrt hatten; ich dachte an die Ladenbesitzer von Kerrith, an die Laufburschen, die pfeifend durch die Straßen gingen, an den Pfarrer in der Kirche, an Lady Crowan beim Rosenschneiden in ihrem Garten, an die Frau mit dem rosagestreiften Kleid und ihren kleinen Jungen. Bald würden sie es alle wissen, in wenigen Stunden. Eine Leiche in der Kajüte. Rebecca lag in der Kajüte auf dem Boden, nicht in der Familiengruft. Dort lag eine andere Frau. Maxim hatte Rebecca getötet. Rebecca war gar nicht ertrunken. Maxim hat sie getötet. Er hatte sie in dem Bootshaus am Waldrand erschossen. Er hatte die Tote in das Boot getragen und das Boot draußen in der Bucht versenkt. Die einzelnen Stücke des Puzzlespiels drängten sich jetzt, das Muster zu vervollständigen. Unzusammenhängende Bilder zogen blitzartig durch meine verwirrten Gedanken. Maxim neben mir im Wagen in Südfrankreich. «Vor einem Jahr ereignete sich etwas, was mein Leben von Grund auf geändert hat. Ich mußte ganz von vorn anfangen ...» Maxims Schweigen, Maxims Stimmungen. Wie er es vermied, von Rebecca zu sprechen, Rebeccas Namen zu nennen. Maxims Ärger, als ich zum ersten Mal in die andere Bucht hinüberkletterte. «Wenn du meine Erinnerungen hättest, würdest du auch nicht dorthin gehen wollen.» Wie er den Pfad durch den Wald hinaufgestürmt war, ohne sich umzusehen. Maxim, wie er nach Rebeccas Tod in der Bibliothek auf- und abgegangen war, auf und ab, hin und her. «Ich bin ziemlich überstürzt abgereist», hatte er zu Mrs. Van Hopper gesagt, während eine messerscharfe Falte sich zwischen seinen Brauen eingrub. «Man behauptet, er könne den Tod seiner Frau nicht verwinden.» Der Kostümball gestern abend, und ich in demselben Kleid wie Rebecca oben auf dem Treppenabsatz. «Ich habe Rebecca getötet», hatte Maxim gesagt. «Ich erschoß Rebecca in dem Bootshaus am Waldrand.» Und der Taucher hatte sie dort unten auf dem Boden der Kajüte entdeckt . «Was sollen wir tun?» fragte ich. «Was sollen wir sagen?» Maxim antwortete nicht. Er stand an den Kaminsims gelehnt und starrte mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin. «Weiß noch jemand davon?» fragte ich. «Irgend jemand?» Er schüttelte den Kopf. «Nein», sagte er. «Nur du und ich?» «Ja, nur du und ich.» «Und Frank?» sagte ich plötzlich. «Bist du sicher, daß Frank nichts davon ahnt?» «Wie könnte er?» sagte Maxim. «Es war finstere Nacht, und niemand wußte, daß ich zum Bootshaus gegangen war.» Er hielt inne, ließ sich in einen Sessel fallen und stützte seinen Kopf in die Hände. Ich ging zu ihm und kniete bei ihm nieder. Er saß regungslos still. Ich zog seine Hände vom Gesicht und blickte ihm in die Augen. «Ich liebe dich», flüsterte ich. «Ich liebe dich. Willst du mir nicht glauben?» Er bedeckte mein Gesicht und meine Hände mit Küssen. Wie ein Kind, das Schutz sucht, hielt er meine beiden Hände umklammert. «Ich dachte, ich würde wahnsinnig», sagte er. «Wie ich hier untätig sitzen mußte, Tag für Tag, und darauf wartete, daß sich etwas ereignete. Dort am Schreibtisch sitzen zu müssen und auf die Kondolenzbriefe zu antworten. Die Nachrufe in den Zeitungen, die Pressereporter, das ganze Nachspiel eines Unglücksfalles. Und dann sich zu zwingen, normal und natürlich zu erscheinen, zu essen und zu trinken. Und Frith und Robert und das ganze Personal. Und Mrs. Danvers. Mrs. Danvers, die ich nicht zu entlassen wagte, denn bei ihrer Liebe zu Rebecca hätte sie vielleicht etwas ahnen, etwas vermuten können . Und Frank, der Freund, der sich nie aufdrängte, aber mir auch nie von der Seite wich. » Er sah mich betroffen an, als habe er meine Worte nicht richtig verstanden. «Hatte ich denn nicht recht?» fragte ich. «O mein Gott!» sagte er. Er schob mich von sich fort, stand wieder auf und begann von neuem im Zimmer hin-und herzugehen. «Was ist denn? Was hast du denn?» Er schnellte herum und starrte mich an. «Du dachtest, ich liebe Rebecca?» fragte er mit leiser Stimme. «Du dachtest, daß ich sie getötet habe, obgleich ich sie liebte? Ich haßte sie, will ich dir sagen; unsere Ehe war von Anfang an eine Farce. Sie war durch und durch verdorben und böse und verkommen. Wir haben einander nie geliebt, wir sind nicht einen Tag glücklich zusammen gewesen. Rebecca war unfähig zu lieben; Zärtlichkeit und Anstand waren ihr fremd. Sie war nicht ganz normal.» Ich saß auf dem Boden, die Arme um meine Knie geschlungen, und sah ihn entgeistert an. «Klug war sie allerdings», sagte er. «Verdammt klug. Niemand, der sie kannte, hätte etwas anderes gedacht, als daß sie eine große Dame und die Liebenswürdigkeit und die Güte in Person sei. Sie wußte genau, wie sie die Menschen zu nehmen hatte, und verstand es, sich jeder Stimmung anzupassen. Wenn sie dich kennengelernt hätte, dann wäre sie Arm in Arm mit dir in den Garten gegangen, hätte Jasper gerufen und sich mit dir über Blumen, Musik und Malerei unterhalten, über irgend etwas, wofür sie ein Interesse bei dir vermuten durfte; und du wärst genau wie die anderen ihrem Reiz erlegen. Du hättest zu ihren Füßen gesessen und sie angebetet.» Mit ruhelosen Schritten durchquerte er die Bibliothek, auf und ab, auf und ab. «Als ich sie heiratete, hieß es, ich sei der glücklichste Mensch auf der Welt. Sie war so schön, so begabt und so geistreich. Selbst Granny, die damals noch an jedem jungen Menschen etwas auszusetzen hatte, war von Anfang an von ihr bezaubert. , sagte sie zu mir, Ich glaubte ihr oder zwang mich wenigstens, ihr zu glauben; aber ein leiser Zweifel regte sich schon damals in meinem Unterbewußtsein. Etwas in Rebeccas Augen ...» Stück für Stück ging das Puzzlespiel seiner Vollendung entgegen, und die wahre Rebecca nahm vor meinen Augen Gestalt an und trat aus ihrem Schattendasein wie ein totes Porträt, das plötzlich zum Leben erweckt wird. Rebecca, mit blutigen Sporen den Hengst bändigend; Rebecca, das Leben mit beiden Händen anpackend; Rebecca, wie sie sich mit einem triumphierenden Lächeln über die Galeriebrüstung beugt. Und ich sah mich wieder am Strand neben dem armen erschrockenen Ben stehen. «Sie sind so freundlich», hatte er gesagt, «gar nicht wie die andere. Sie werden mich doch nicht in die Anstalt sperren lassen, nicht wahr?» Durch den Wald wanderte des Nachts eine hohe schlanke Gestalt; man fürchtete sie wie eine Schlange . Maxim sprach noch. Maxim ging in der Bibliothek auf und ab. «Ich bin schnell klug geworden», sagte er. «Fünf Tage nach unserer Hochzeit. Du erinnerst dich an den Berg über Monte Carlo, zu dem wir gefahren sind? Ich wollte wieder dort stehen und mich erinnern. Sie hatte lachend dort oben gesessen, und ihr schwarzes Haar flatterte im Wind. Sie erzählte mir von sich selbst, Dinge, die ich keiner Menschenseele wiedererzählen kann. Da erkannte ich, was ich getan, wen ich geheiratet hatte. Schönheit, Geist und gute Kinderstube - mein Gott!» Er brach unvermittelt ab. Er stellte sich ans Fenster und blickte in den Garten hinaus. Plötzlich fing er an zu lachen. Er stand dort und lachte hemmungslos. Mich schauderte, ich konnte es nicht ertragen, ich fürchtete mich. «Maxim!» rief ich, «Maxim!» Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte schweigend. Dann wandte er sich wieder zu mir um. «Damals hätte ich sie beinahe schon getötet», sagte er. «Es wäre so leicht gewesen. Ein einziger falscher Schritt. Du erinnerst dich gewiß an den Abgrund. Ich erschreckte dich, nicht wahr? Du dachtest wahrscheinlich, ich sei wahnsinnig. Vielleicht war ich es auch. Vielleicht bin ich es noch. Es ist schwer, normal zu bleiben, wenn man mit einem Teufel zusammenleben muß.» Ich folgte mit den Augen seinen nervösen Schritten hin und her, hin und her. «Da oben am Rand des Abgrundes traf sie ein Abkommen mit mir. , sagte sie zu mir. , sagte sie, Sie saß da am Wegrand und wollte sich ausschütten vor Lachen.» Maxim warf seine halbgerauchte Zigarette in den Kamin. «Aber damals brachte ich sie noch nicht um», sagte er. «Ich beobachtete sie und ließ sie lachen und sagte nichts. Wir stiegen ins Auto und fuhren wieder hinunter. Und sie wußte, daß ich auf ihren Vorschlag eingehen würde, nach Manderley zurückkehren, ein großes Haus führen und unsere Ehe als vorbildlich hinstellen lassen würde. Sie wußte, daß ich Stolz und Ehre und jede anständige Eigenschaft lieber opfern würde, als eine Woche nach der Hochzeit schon vor unsere kleine Welt treten zu müssen und ihr das preiszugeben, was Rebecca mir erzählt hatte. Sie wußte, ich würde nie einen Scheidungsprozeß auf mich nehmen und sie bloßstellen und uns in den Zeitungen mit Schmutz bewerfen und es dazu kommen lassen, daß alle unsere Nachbarn zu tuscheln anfingen, wenn mein Name fiel, und daß die Parktore zum Ausflugsziel für die Kleinbürger aus Kerrith wurden. Sie wußte, ich würde es nicht ertragen können, die Leute sagen zu hören: » Er blieb vor mir stehen und hielt mir seine Hände hin. «Du verachtest mich, nicht wahr?» sagte er. «Du kannst meinen Ekel und meinen Abscheu, meine Beschämung nicht verstehen.» Ich sagte nichts. Ich preßte seine Hände an mein Herz. Was bekümmerte mich jetzt, was vergangen war? Nichts von all dem, was er mir erzählt hatte, beeindruckte mich. Ich klammerte mich nur an eins, und ich wiederholte es mir immer wieder: Maxim liebt Rebecca gar nicht. Er hat sie nie geliebt, niemals. Sie sind nicht einen einzigen Tag zusammen glücklich gewesen. Maxim sprach, und ich hörte ihm zu, aber seine Worte blieben nicht in mir haften, sie waren mir gleichgültig. «Ich habe zuviel an Manderley gedacht», sagte er. «Ich hatte Manderley vor alles andere gestellt. Und eine solche Liebe gedeiht nicht. Eine solche Liebe wird auch nicht in der Kirche gepredigt. Christus hat nichts von Steinen und Ziegeln und Mauern gesagt, nichts von der Liebe, die ein Mann für seinen Acker, seinen Besitz, sein kleines Königreich empfindet. Das christliche Glaubensbekenntnis nennt diese Liebe nicht.» «Mein Liebster», sagte ich, «Maxim, mein Geliebter.» Ich legte mein Gesicht in seine Hände und küßte sie. «Verstehst du?» sagte er. «Kannst du verstehen?» «Ja», sagte ich, «mein einziger, mein Geliebter!» Aber ich wandte mein Gesicht ab, damit er es nicht sehen konnte. Was machte es schon, ob ich ihn verstand oder nicht. Das Herz war mir so leicht wie eine Feder im Wind. Er hatte Rebecca niemals geliebt. «Ich will nicht mehr an jene Jahre zurückdenken», sagte er langsam. «Ich möchte dir nicht einmal davon erzählen. Die Schande und die Erniedrigung! Die Lüge, die wir zusammen lebten, sie und ich. Diese jämmerliche unwürdige Komödie, die wir vor Freunden und Verwandten, selbst vor den Dienstboten, vor dem alten treuen Frith aufführten. Alle glaubten an sie, alle bewunderten sie; sie ahnten nicht, wie sie sich hinter ihrem Rücken über sie lustig machte, sie verspottete, sie nachäffte. Ich erinnere mich noch an Tage, als das Haus voller Gäste war; wir veranstalteten irgendein Fest, einen Gartentee oder eine Maske-rade; und sie ging mit dem Lächeln eines Engels an meinem Arm umher und verteilte Geschenke an die Kinder; und am Tag danach fuhr sie bereits im Morgengrauen nach London in ihre kleine Wohnung, wie ein Tier, das in seine Höhle flieht. Und erst nach fünf Tagen unbeschreiblicher Ausschweifungen kehrte sie zurück. Aber ich hielt mich an unsere Abmachung; ich ließ mir nie etwas anmerken. Ihr verdammter Geschmack hat Manderley zu dem gemacht, was es heute ist. Die Gärten, die Ziersträucher, selbst die Azaleen im Glücklichen Tal - glaubst du, daß das alles schon so ausgesehen hat, als mein Vater noch lebte? Mein Gott, nein, damals war Manderley eine Wildnis, wunderbar wild und einsam, von einer ganz eigenen Schönheit, das wohl, aber es schrie geradezu nach sorgfältiger Pflege und nach dem Geld, das mein Vater nie dafür ausgeben wollte und das auch ich nie daran gewandt hätte, wäre Rebecca nicht gewesen. Die Hälfte von all den Sachen hier ist gar kein Familienbesitz. Der Salon, das Morgenzimmer, wie diese Räume heute aussehen - alles Re-beccas Werk. Die Stühle da, die Frith den Besuchern immer mit besonderem Stolz zeigt, die Gobelins - wieder Rebecca. O natürlich, ein paar Sachen hat sie auch hier aufgetrieben, die irgendwo in Bodenkammern und Hinterzimmern verstaut gewesen waren; denn Vater verstand nichts von Möbeln oder Bildern, aber das meiste hat Rebecca erst gekauft. Die Schönheit von Manderley, die du heute bewunderst, das Manderley, von dem man spricht, das man photographiert und malt, das ist nur ihr, nur Re-beccas Werk.» Ich schwieg und hielt ihn fest in meinen Armen. Ich wollte, daß er weitersprach, damit seine Bitterkeit sich löste und mit den Worten all der aufgespeicherte Haß, der Widerwillen und der Schlamm seiner verlorenen Jahre fortgeschwemmt wurde. «Und so lebten wir», sagte er, «Monat auf Monat, Jahr um Jahr. Ich nahm alles hin um Manderleys willen. Was Rebecca in London tat, berührte mich nicht, weil es Man-derley nicht schadete. Und sie war sehr vorsichtig in jenen ersten Jahren. Nicht einmal ein Flüstern wurde über sie laut. Aber allmählich ließ sie sich gehen. Weißt du, so, wie ein Mann zu trinken anfängt. Zuerst nur ein wenig, vielleicht nur alle fünf Monate eine richtige Trunkenheit. Und dann wird der Zwischenraum immer kürzer. Bald kommt es jeden Monat vor, dann alle zwei Wochen und schließlich fast täglich. Und damit verliert er jeden Halt und auch die vorgetäuschte Haltung. So ging es auch Rebecca. Es fing damit an, daß sie ihre Freunde hierher einlud. Erst einen oder zwei, die unter den anderen Wochenendgästen nicht auffielen, so daß ich zunächst nicht ganz sicher war. Dann veranstaltete sie Picknicks unten im Bootshaus. Ich kam einmal von einer Jagdtour aus Schottland zurück und überraschte sie dort mit einem halben Dutzend Leute, die ich vorher nie gesehen hatte. Ich warnte sie, aber sie zuckte nur mit den Schultern. sagte sie. Ich erklärte ihr, in London könne sie ihre Freunde sehen, so viel sie wolle, aber Manderley gehöre mir. Sie müsse sich an unsere Abmachung halten. Sie lächelte, ohne etwas zu entgegnen. Dann hatte sie es plötzlich auf Frank abgesehen, den armen, schüchternen Frank. Er kam eines Tages zu mir, er wollte Manderley verlassen und sich eine neue Stellung suchen. Wir redeten hier in der Bibliothek zwei Stunden lang hin und her, und dann verstand ich. Er brach zusammen und erzählte mir alles. Sie ließe ihn nie in Ruhe, sagte er, sie komme ständig zu ihm ins Haus und versuche, ihn mit sich ins Bootshaus zu locken. Der gute Frank war ganz verzweifelt, er begriff es einfach nicht; er hatte doch immer geglaubt, wir seien wirklich das glücklichste Paar. Ich stellte Rebecca deswegen zur Rede, und sie brauste sofort auf und beschimpfte mich mit all den gemeinen Unflätigkeiten ihres Sprachschatzes. Es war ein scheußlicher Auftritt. Sie fuhr am nächsten Tag nach London und blieb einen Monat. Als sie zurückkam, verhielt sie sich zuerst ganz ruhig, so daß ich schon glaubte, sie habe endlich Vernunft angenommen. Am Wochenende darauf kamen Bee und Giles zu Besuch. Bei dieser Gelegenheit bemerkte ich, was ich schon längere Zeit vermutet hatte, daß nämlich Bee Rebecca nicht mochte. Wahrscheinlich hat sie sie mit ihrer komischen unverblümten Art durchschaut oder jedenfalls erraten, daß etwas nicht in Ordnung war. Es war ein ungemütliches, nervöses Wochenende. Giles ging mit Rebecca segeln, Bee und ich faulenzten auf dem Rasen in unseren Liegestühlen. Und als die beiden zurückkamen, erkannte ich sofort an Giles' übertrieben lärmender Herzlichkeit und an Rebeccas Augen, daß sie mit ihm angefangen hatte wie mit Frank. Ich sah, wie Bee ihren Giles beim Essen beobachtete, der lauter als sonst lachte und etwas zu viel sprach. Und Rebecca saß am Kopfende der Tafel mit dem unschuldigen Gesicht eines Engels.» Sie fügten sich gut ineinander, die einzelnen Stückchen dieses Puzzlespiels, die merkwürdig verzerrten Formen, die meine ungeschickten Finger niemals zusammengebracht hatten. Franks sonderbares Gesicht, als ich von Rebecca sprach. Beatrice und ihre gleichgültig abweisende Miene, wenn Rebeccas Name fiel. Das Schweigen, das ich immer für Trauer und Zuneigung gehalten hatte, war ein Schweigen der Verlegenheit und der Scham gewesen. Es schien mir jetzt unfaßlich, daß ich es vorher nicht verstanden hatte. Ich dachte, wie viele Menschen in der Welt wohl litten und nicht aufhörten zu leiden, weil sie dem Netz ihrer eigenen Scheu und Zurückhaltung nicht entrinnen konnten und statt dessen in ihrer törichten Blindheit eine hohe Mauer um sich errichteten, die die Wahrheit verbarg. «Das war das letzte Wochenende, das Bee und Giles auf Manderley verbrachten», sprach Maxim weiter. «Ich lud sie auch nie wieder allein ein. Sie kamen nur noch bei offiziellen Gelegenheiten, Gartenfesten und Bällen. Bee ließ mir gegenüber kein Wort darüber verlauten, und ich sprach auch nicht mit ihr darüber. Aber ich glaube, sie erriet, was für ein Leben ich führte. Ebenso wie Frank. Rebecca wurde wieder vorsichtig. Nach außen hin war ihr Benehmen untadelig. Aber wenn ich einmal von Mander-ley abwesend sein mußte und sie allein zurückblieb, konnte ich nie sicher sein, worauf sie verfallen würde. Mit Frank und Giles hatte es angefangen. Ihr nächstes Opfer konnte einer der Gutsangestellten oder jemand aus Kerrith sein, irgend jemand ... Dann wäre die Bombe geplatzt; der Klatsch, die Öffentlichkeit, die ich fürchtete, wären über Manderley hergefallen.» In Gedanken stand ich wieder am Bootshaus, hörte das Trommeln des Regens auf dem Dach, sah den Staub auf den Schiffsmodellen, die Rattenlöcher im Sofa und Bens irre, starrende Idiotenaugen. «Sie werden mich doch nicht in die Anstalt stecken?» «Sie hatte einen Vetter», sagte Maxim. «Ein Bursche, der sich lange im Ausland herumgetrieben hatte und wieder nach England gekommen war. Er pflegte regelmäßig herzukommen, wenn ich verreiste. Frank sah ihn oft. Jack Favell heißt er.» «Ich kenne ihn», unterbrach ich Maxim. «Er war damals hier, als du nach London fahren mußtest.» «Du hast ihn auch gesehen? Warum hast du mir's denn nicht gesagt? Ich erfuhr es von Frank, der seinen Wagen in die Anfahrt einbiegen sah.» «Ich tat es absichtlich nicht», sagte ich. «Ich hatte Angst, er könnte dich an Rebecca erinnern.» «Mich an sie erinnern?» flüsterte Maxim. «Mein Gott, als ob es dazu einer Erinnerung bedurft hätte!» Er starrte eine Zeitlang schweigend vor sich hin, und ich fühlte, daß er ebenso wie ich an jene überflutete Kajüte auf dem Meeresgrund dachte. «Sie pflegte diesen Favell unten im Bootshaus zu empfangen», sagte er dann. «Hier im Haus gab sie bekannt, sie würde eine Segeltour machen und erst am nächsten Morgen zurück sein. Und dann verbrachte sie die ganze Nacht mit ihm im Bootshaus. Wieder warnte ich sie. Ich sagte ihr, ich würde ihn erschießen, wenn ich ihn irgendwo auf meinem Grund und Boden anträfe. Seine Vergangenheit war eine Kette von Laster und Ausschweifung . Der bloße Gedanke, er könnte den Wald von Manderley betreten, vielleicht gar das Glückliche Tal, ließ mich rot sehen. Sie zuckte die Schultern und vergaß ihr übliches Geschimpfe. Und mir fiel auf, wieviel blasser sie aussah als sonst, so abgespannt und verstört. So ging es eine Weile, ohne daß sich etwas ereignet hätte. Dann fuhr sie eines Tages nach London und kam ganz gegen ihre Gewohnheit noch an demselben Abend zurück. Ich hatte sie nicht erwartet und aß drüben bei Frank, weil wir noch eine Menge Arbeit zu erledigen hatten.» Er redete jetzt in kurzen, abgehackten Sätzen. Ich hielt seine Hände fest in den meinen. «Ich kam erst um halb elf nach Hause und entdeckte ihren Schal und ihre Handschuhe auf einem Stuhl in der Halle. Ich wunderte mich, warum sie wohl so rasch zurückgekommen sei. Ich ging ins Morgenzimmer, aber dort war sie nicht. Ich nahm an, daß sie in die Bucht zu ihrem Bootshaus gegangen war. Und mit einem Mal wurde mir klar, daß ich dieses Leben der Lüge, der Täuschung und der Erniedrigung nicht länger aushalten konnte. Die Angelegenheit mußte bereinigt werden, so oder so. Ich steckte einen Revolver ein, um den Burschen zu erschrecken, um ihnen beiden einen Schrecken einzujagen. Ich ging geradewegs durch den Wald zum Bootshaus. Von den Dienstboten hatte niemand gemerkt, daß ich überhaupt im Haus gewesen war; ich hatte mich ungesehen in den Garten geschlichen und eilte zum Strand hinunter. Ich sah Licht im Bootshaus brennen und trat ohne zu zögern ein. Zu meiner Überraschung war Rebecca allein. Sie lag auf dem Sofa, und neben ihr stand ein Aschenbecher voller Zigarettenstummel. Sie sah müde und angegriffen aus. Ich stellte sie gleich wegen Favell zur Rede, und sie hörte mir schweigend zu. Sie drückte ihre Zigarette aus, erhob sich und streckte sich und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. , sagte sie. , sagte sie, ; aber ich war für immer von ihr befreit. Ich durfte jetzt mit Maxim Zusammensein, ihn berühren, ihn in meinen Armen halten und ihn lieben. Ich würde nie mehr ein Kind sein. Nicht ich, ich, ich würde es in Zukunft heißen, sondern wir und uns. Wir würden zusammen sein, wir würden alles, was uns bevorstand, gemeinsam meistern, er und ich. Captain Searle und der Taucher und Mrs. Danvers und all die neugierigen Zeitungsleser aus Kerrith konnten uns jetzt nicht mehr einschüchtern. Unser Glück war nicht zu spät gekommen. Ich würde um Maxim kämpfen. Ich würde Lügen und Meineide schwören. Ich würde fluchen und beten. Rebecca hatte nicht gewonnen, Rebecca hatte verloren. Robert hatte inzwischen den Tisch abgeräumt, und Maxim kam wieder herein. «Das war Oberst Julyan», sagte er. «Er hat gerade mit Searle gesprochen. Er wird uns morgen begleiten. Searle hat ihm Bericht erstattet.» «Warum Oberst Julyan, warum der?» fragte ich. «Er ist der Polizeirichter von Kerrith. Er muß dabei sein.» «Was sagt er denn?» «Er fragte mich, ob ich eine Vermutung hätte, wessen Leiche das sein könne.» «Und was sagtest du?» «Ich sagte, daß ich es nicht wisse und daß ich immer angenommen hätte, Rebecca sei allein gewesen. Und dann sagte ich, ich wüßte von keinem Menschen, der an dem Abend mit ihr hätte segeln können.» «Und erwiderte er etwas darauf?» «Ja.» «Was denn?» «Er fragte mich, ob ich es für möglich hielte, daß mir bei der Identifizierung in Edgecoombe ein Irrtum unterlaufen sei.» «Das sagte er? Das hat er dich jetzt schon gefragt?» «Ja.» «Und du?» «Ich sagte, es sei nicht ausgeschlossen, ich wüßte nicht genau.» «Er wird also morgen dabei sein, wenn ihr das Boot zu heben versucht? Er und Captain Searle und der Gerichtsarzt?» «Und Inspektor Welch.» «Inspektor Welch?» «Ja.» «Aber warum Inspektor Welch?» «Das ist eine polizeiliche Maßnahme, die in solchen Fällen üblich ist.» Ich sagte nichts dazu. Wir starrten einander an. In meinem Innern krampfte sich etwas zusammen. «Vielleicht gelingt es ihnen nicht, das Boot zu heben», sagte ich dann. «Vielleicht.» «Dann würden sie doch auch die Leiche nicht untersuchen können, nicht wahr?» «Ich weiß nicht», sagte Maxim. Er blickte aus dem Fenster. Der Himmel war noch immer von einer weißen Wolkenschicht verhangen. Kein Lüftchen regte sich. «Ich dachte, ein Südwest würde aufkommen, aber es ist völlig windstill», bemerkte er. «Ja», sagte ich. «Der Taucher wird morgen ein spiegelglattes Meer für seine Arbeit vorfinden.» Das Telephon klingelte wieder. Der grelle Ton hatte etwas Furchteinflößendes. Maxim und ich sahen einander an. Dann ging er in den Nebenraum und schloß wieder die Tür hinter sich. Der krampfartige Schmerz wollte mich nicht verlassen, er verstärkte sich sogar, als das Klingeln eingesetzt hatte. Maxim kam wieder zurück. «Es fängt schon an», sagte er leise. Mich fröstelte beim Klang seiner Stimme. «Was meinst du?» «Es war ein Reporter», sagte er, «vom County Chroni-cle. Er fragte, ob es stimme, daß Mrs. de Winters Boot gefunden worden sei.» «Und was hast du geantwortet?» «Ich sagte, ja, ein Boot sei gefunden worden, aber Nähe-res wisse man darüber noch nicht. Es sei nicht sicher, ob es sich um Rebeccas Boot handle.» «Sonst hat er nichts gefragt?» «Doch. Er wollte wissen, ob in dem Boot tatsächlich eine Leiche gefunden worden sei.» «Nein!» «Doch. Jemand muß nicht dichtgehalten haben. Searle ist zuverlässig, das weiß ich. Es wird wohl der Taucher gewesen sein oder einer von seinen Freunden. Solche Leute können ihren Mund nicht halten. Bis morgen früh wird ganz Kerrith Bescheid wissen.» «Was sagtest du, als er wegen der Leiche fragte?» «Ich sagte, ich wüßte nichts. Ich könnte ihm keine Auskunft geben, und er solle mich gefälligst mit seinen Anrufen verschonen.» «Du wirst die Leute dadurch nur verärgern und sie gegen dich aufbringen.» «Das kann ich nicht ändern. Ich lasse mich nicht interviewen. Ich will mich nicht von diesen Burschen mit neugierigen Fragen belästigen lassen.» «Wir werden sie aber vielleicht brauchen können.» «Wenn es hart auf hart kommt, werde ich meine Sache schon allein ausfechten», sagte er. «Ich verzichte auf solchen Beistand.» «Der Reporter wird jetzt bestimmt jemand anders anrufen - Oberst Julyan oder Captain Searle.» «Bei denen wird er auch nicht mehr Erfolg haben.» «Wenn wir nur etwas tun könnten», sagte ich. «Wir haben noch so viele Stunden vor uns, und wir sitzen hier und vertrödeln die Zeit und warten auf morgen früh.» «Wir können nichts tun», sagte Maxim. Wir blieben in der Bibliothek sitzen. Maxim nahm ein Buch vom Tisch, aber ich wußte, daß er nicht darin las. Hin und wieder sah ich ihn seinen Kopf lauschend heben, als horche er auf das Läuten des Telephons. Aber kein weiterer Anruf erfolgte. Niemand störte uns. Zum Abendessen zogen wir uns wie gewöhnlich um. Es kam mir so unwahrscheinlich vor, daß ich gestern um diese Zeit mein weißes Kostüm angezogen und dort vor dem Spiegel die Lockenperücke aufgesetzt hatte. Frith, der seinen freien Nachmittag gehabt hatte, servierte. Sein Gesicht war ausdruckslos wie immer. Ich hätte gern gewußt, ob er wohl in Kerrith gewesen war und dort irgend etwas gehört hatte. Nach dem Essen gingen wir wieder in die Bibliothek. Wir sprachen nicht viel. Ich saß zu Maxims Füßen und lehnte meinen Kopf an seine Knie. Seine Finger spielten in meinem Haar, aber nicht mehr so mechanisch wie früher. Es war nicht mehr das Streicheln, mit dem er Jasper bedachte. Ich fühlte seine Fingerspitzen auf meiner Kopfhaut. Hin und wieder beugte er sich zu mir herab und küßte mich. Oder er sagte etwas zu mir. Zwischen uns stand kein Schatten mehr, und wenn wir schwiegen, dann war es ein Schweigen der Zugehörigkeit. Ich wunderte mich, daß ich mich so glücklich fühlen konnte, obwohl unsere Zukunft im Finstern lag. Es war ein eigenartiges Glücksgefühl, nicht das, von dem ich geträumt und das ich erwartet hatte. Es war nicht das Glück, das ich mir in einsamen Stunden ausmalte, wenn ich nachts nicht schlafen konnte. Es war ein ruhiges, stilles Glück. Die Fenster in der Bibliothek standen weit offen, und ein düsterer Abendhimmel schaute zu uns herein. Es mußte nachts geregnet haben, denn als ich am nächsten Morgen aufwachte, kurz nach sieben, und aus dem Fenster blickte, sah ich, daß die Rosen die Köpfe hängen ließen und der Rasen silbrig naß glänzte. Maxim hatte mich nicht geweckt, als er um fünf aufstand. Er mußte sich ganz geräuschlos in sein Ankleidezimmer geschlichen haben. Jetzt war er dort unten in der Bucht mit Captain Searle und Oberst Julyan und den Arbeitern vom Leichter. Der Kran würde Rebeccas Boot vom Meeresboden heben. Ich konnte ganz kühl und ruhig daran denken. Ich stellte sie mir alle da unten in der Bucht vor, und wie der kleine, dunkle Schiffskörper an die Oberfläche kam, verquollen und mit Tang und Muscheln bedeckt. Und wenn der Kran ihn dann in die Luft hob, würde das Wasser zu beiden Seiten herab ins Meer strömen. Die Planken würden ein graues weiches, an einigen Stellen sogar schwammiges Aussehen haben und nach Schlamm und den glatten schwarzen Algen riechen, die nur tief unten im Wasser wachsen, wo Ebbe und Flut ihnen nichts anhaben können. Vielleicht hing das Namensschild noch am Bug. - die grünen Buchstaben fast ausgewaschen, die Nägel verrostet. Und unten auf dem Boden der Kajüte sah ich Rebecca liegen. Ich nahm ein Bad, zog mich an und frühstückte wie gewöhnlich um neun. Auf meinem Teller lag ein Haufen Briefe. Dankschreiben von den Gästen des Kostümballes. Ich durchflog sie, ohne mich länger dabei aufzuhalten. Frith erkundigte sich, ob er das Frühstück für Maxim warmstellen sollte. Ich sagte ihm, ich wüßte nicht, wann er zurückkäme. Er sei schon sehr früh fortgegangen. Frith erwiderte nichts darauf. Er blickte nur sehr ernst und würdig drein. Wieder fragte ich mich, ob er wohl etwas erfahren habe. Nach dem Frühstück ging ich mit dem Stoß Briefe ins Morgenzimmer hinüber. Es war nicht gelüftet worden und roch etwas stickig. Ich riß die Fenster weit auf und ließ die frische Luft herein. Die Blumen auf dem Kaminsims waren verwelkt. Einzelne Blütenblätter lagen auf dem Boden. Ich läutete, und Maud, eines der Hausmädchen, kam herbeigeeilt. «Hier ist heute morgen nicht aufgeräumt worden», sagte ich. «Nicht einmal die Fenster haben Sie aufgemacht. Und die Blumen sind verwelkt. Nehmen Sie sie bitte mit hinaus.» Maud sah mich schuldbewußt an. «Es tut mir sehr leid, Madam», sagte sie. Dann nahm sie die Vasen vom Kaminsims. «Ich möchte nicht, daß das noch einmal vorkommt», sagte ich. «Ja, Madam», sagte sie und ging mit den Vasen hinaus. Ich hatte nicht gedacht, daß es so leicht wäre, streng zu sein, und ich begriff nicht, warum es mir früher so schwergefallen war. Mrs. Danvers' Menüzettel lag auf dem Schreibtisch. Kalter Lachs in Mayonnaise, Kalbskoteletts in Aspik, Huhn in Gelee und ein Souffle. Lauter Überbleibsel von dem kalten Büffet vom Ball. Offenbar beabsichtigte Mrs. Danvers, uns nur die Reste vorzusetzen, die sie schon gestern aufgetischt hatte. Die Küche schien es sich sehr leicht zu machen. Ich strich die Liste durch und klingelte nach Robert. «Sagen Sie Mrs. Danvers, wir möchten etwas Warmes zu essen haben», sagte ich. «Wenn vom Kostümfest noch so viel übrig ist, so ist das kein Grund, es uns immer wieder vorzusetzen.» «Sehr wohl, Madam», sagte Robert. Ich folgte ihm hinaus und ging in das kleine Blumenzimmer, um die Blumenschere zu holen. Dann ging ich in den Rosengarten und schnitt ein paar Knospen ab. Die Luft hatte sich inzwischen erwärmt. Es drohte ein ebenso heißer und schwüler Tag zu werden wie gestern. Ob sie wohl noch alle in der Bucht oder ob sie schon nach Kerrith zurückgefahren waren? Ich würde es ja bald erfahren. Bald würde Maxim nach Hause kommen und mir erzählen. Was auch geschehen mochte, ich mußte ruhig und gefaßt bleiben. Ich durfte keine Furcht in mir aufkommen lassen. Ich schnitt die Rosen und kehrte ins Morgenzimmer zurück. Der Teppich war inzwischen gebürstet und die Blumenblätter entfernt worden. Ich ordnete die Blumen in den Vasen, die Robert mit frischem Wasser gefüllt hatte. Als ich damit fertig war, klopfte es. «Herein!» rief ich. Es war Mrs. Danvers. Sie hielt den Menüzettel in der Hand. Unter ihren Augen lagen schwarze Ringe, und sie sah müde und auffallend bleich aus. «Guten Morgen, Mrs. Danvers», sagte ich. «Ich verstehe nicht», fing sie an. «Warum haben Sie das ganze Menü durchgestrichen und mich durch Robert benachrichtigt?» Ich sah von meinen Rosen auf. «Die Koteletts und der Lachs waren gestern schon auf dem Tisch», sagte ich. «Ich möchte heute eine warme Mahlzeit haben. Wenn man diese kalten Reste nicht in der Küche essen will, dann werfen Sie sie lieber fort. In diesem Haus wird eine solche Verschwendung getrieben, daß es auf ein bißchen mehr wirklich nicht ankommt.» Sie starrte mich sprachlos an. Ich machte mir mit den Rosen zu schaffen. «Sagen Sie mir nicht, daß Sie nichts anderes wüßten, Mrs. Danvers», fuhr ich fort. «Im Laufe der Jahre müssen Sie ja schließlich eine Unmenge Menüs zusammengestellt haben.» «Ich bin es nicht gewohnt, mir etwas von Robert sagen zu lassen», entgegnete sie. «Wenn Mrs. de Winter etwas am Menü geändert haben wollte, pflegte sie es mir direkt durch das Haustelephon mitzuteilen.» «Es interessiert mich leider nicht sehr, was Mrs. de Winter zu tun pflegte», sagte ich. «Wie Sie wissen, bin ich jetzt Mrs. de Winter. Und wenn ich Ihnen etwas durch Robert bestellen lassen will, dann werde ich das auch tun.» In diesem Augenblick trat Robert wieder ins Zimmer und meldete: «Der County Chronicle möchte Sie sprechen, Madam.» «Sagen Sie, ich sei nicht zu Hause.» «Sehr wohl, Madam.» «Also, Mrs. Danvers, gibt es sonst noch etwas?» sagte ich, als Robert gegangen war. Sie starrte mich immer noch wortlos an. «Wenn Sie nichts mehr zu fragen haben, dann gehen Sie bitte jetzt und besprechen Sie das warme Essen mit der Köchin», sagte ich. «Ich habe noch zu tun.» «Was wollte der County Chronicle von Ihnen?» fragte sie. «Ich habe nicht die geringste Ahnung, Mrs. Danvers.» «Ist es wahr», sagte sie langsam, «was Frith gestern in Kerrith gehört hat? Daß Mrs. de Winters Boot gefunden sein soll?» «So, erzählt man sich das?» sagte ich. «Ich habe noch nichts davon gehört.» «Aber Captain Searle, der Hafenmeister von Kerrith, war doch gestern nachmittag hier», entgegnete sie. «Robert erzählte es mir. Und Frith sagt, daß man in Kerrith behauptet, der Taucher, der das gestrandete Schiff untersuchte, sei auf Mrs. de Winters Boot gestoßen.» «Möglich», sagte ich. «Aber warten Sie lieber, bis Mr. de Winter zurückkommt, dann können Sie ihn fragen.» «Warum ist Mr. de Winter heute so früh fortgegangen?» «Das dürfte Sie ja wohl nichts angehen», sagte ich. Ihr Blick ließ mich nicht los. «Frith sagt, es gehe sogar ein Gerücht um, in der Kajüte befinde sich eine Leiche», beharrte sie. «Wie kann das denn möglich sein? Mrs. de Winter war doch bestimmt allein.» «Es hat keinen Zweck, daß Sie mich fragen, Mrs. Danvers, ich weiß auch nicht mehr als Sie.» «Nicht?» erwiderte sie, ohne den Blick von mir abzuwenden. Ich drehte mich um und trug die eine Vase zum Tisch am Fenster. «Ich werde in der Küche wegen des Essens Bescheid sagen», sagte sie und blieb einen Augenblick zögernd stehen. Ich schwieg. Da verließ sie das Zimmer. Sie kann mich nicht mehr erschrecken, dachte ich. Sie hat gleichzeitig mit Rebecca ihre Macht über mich verloren. Was sie jetzt auch sagen oder tun mochte, es würde mich nicht mehr berühren. Wenn sie jedoch die Wahrheit über die Leiche im Boot herausbekommen sollte und auch Maxims Feindin wurde - was dann? Ich mußte daran denken, was Maxim jetzt wohl tat. Warum der County Chronicle wohl wieder angerufen hatte? Das alte Übelkeitsgefühl kehrte zurück. Ich trat ans Fenster und lehnte mich hinaus. Es war sehr heiß, und es lag ein Gewitter in der Luft. Die Gärtner waren wieder beim Grasschneiden. Ich hielt es nicht länger im Haus aus, und ich ging auf die Terrasse. Jasper trottete hinter mir her. Er hoffte wohl, wir würden einen Spaziergang machen. Langsam schritt ich auf der Terrasse hin und her, bis Frith gegen halb zwölf herauskam und mir mitteilte, Mr. de Winter sei am Telephon. Ich ging durch die Bibliothek in das kleine Zimmer nebenan. Meine Hände zitterten, als ich den Hörer aufnahm. «Bist du es?» fragte er. «Hier ist Maxim. Ich spreche vom Büro aus. Ich bin mit Frank zusammen.» «Ja?» sagte ich. Eine kleine Pause. «Ich bringe Frank und Oberst Julyan um ein Uhr zum Essen mit», sagte er dann. «Ja», sagte ich. Ich wartete. Ich wartete, daß er weitersprach. «Man hat das Boot heben können», sagte er. «Ich komme gerade aus Kerrith.» «Ja», sagte ich. «Searle war da und Oberst Julyan und Frank und die anderen», sagte er. Ich vermutete, daß Frank neben ihm stand und daß seine Stimme deshalb so kühl und fremd klang. «Also du weißt Bescheid», sagte er. «Wir kommen um eins.» Ich legte den Hörer auf. Er hatte mir nichts erzählt. Ich wußte noch immer nicht, was geschehen war. Ich ging wieder zur Terrasse zurück und sagte Frith, daß wir zwei Gäste haben würden. Die nächste Stunde schleppte sich endlos hin. Ich ging nach oben und zog mir ein dünneres Kleid an. Dann ging ich wieder hinunter und setzte mich in den Salon und wartete. Um fünf vor eins hörte ich einen Wagen vorfahren und dann Stimmen in der Halle. Ich strich mir das Haar vor dem Spiegel glatt. Mein Gesicht war totenblaß. Ich kniff mir die Wangen, um etwas Farbe zu bekommen, und wartete, daß sie eintreten würden. Maxim kam als erster ins Zimmer, gefolgt von Frank und Oberst Julyan. Ich erinnerte mich, Oberst Julyan auf dem Kostümball als Cromwell gesehen zu haben. Er ging gebeugt und sah jetzt ganz anders, kleiner aus. «Guten Tag», sagte er. Er sprach mit der ruhigen Stimme eines Arztes. «Laß Frith den Sherry bringen», sagte Maxim. «Ich möchte mir noch mal die Hände waschen.» «Das will ich auch tun», sagte Frank. Bevor ich klingeln konnte, erschien Frith bereits mit dem Sherry. Oberst Julyan lehnte mit einer Handbewegung ab. Ich schenkte mir ein wenig ein, um etwas in der Hand halten zu können. Oberst Julyan trat neben mich ans Fenster. «Das ist wirklich eine ganz fatale Geschichte, Mrs. de Winter», sagte er freundlich. «Ich habe das größte Mitgefühl für Sie und Ihren Gatten.» «Das ist sehr lieb von Ihnen», sagte ich und begann an meinem Glas zu nippen. Dann stellte ich es hin, weil ich fürchtete, er könnte bemerken, wie meine Hand zitterte. «Die Sache wäre gar nicht so kompliziert, wenn Ihr Mann nicht vor einem Jahr jene andere Leiche identifiziert hätte», sagte er. «Ich verstehe nicht ganz», sagte ich. «Haben Sie denn noch nicht gehört, was wir heute morgen gefunden haben?» fragte er. «Ich weiß nur, daß der Taucher eine Leiche in der Kajüte entdeckte.» «Ja», sagte er. Und dann fuhr er mit einem Blick über die Schulter zur Tür hin fort: «Ich fürchte, es kann kein Zweifel mehr bestehen, daß es sich um Rebecca de Winter handelt. Ich will Sie nicht mit Einzelheiten quälen, aber Doktor Phillips und Ihr Mann fanden genügend Anhaltspunkte, um diesmal jeden Irrtum auszuschließen.» Er brach plötzlich ab und trat von mir weg. Maxim und Frank kamen wieder ins Zimmer. «Das Essen ist angerichtet, wollen wir gleich hinübergehen?» sagte Maxim. Ich ging ihnen durch die Halle voraus ins Eßzimmer. Mein Herz war schwer wie Blei. Oberst Julyan saß zu meiner Rechten, Frank zu meiner Linken. Ich wagte nicht, Maxim anzusehen. Frith und Robert begannen den ersten Gang zu servieren. Wir sprachen vom Wetter. Frith stand hinter meinem Stuhl. Wir dachten alle an ein und dasselbe, aber Friths Anwesenheit zwang uns, Theater zu spielen. Wahrscheinlich dachte Frith auch daran, und der Gedanke ging mir durch den Kopf, daß es doch viel einfacher gewesen wäre, die Regeln der Konvention in den Wind zu schlagen und ihn mitsprechen zu lassen, falls er etwas zu sagen hätte. Robert brachte den Wein. Unsere Teller wurden ausgewechselt und der zweite Gang serviert. Mrs. Danvers hatte meine Anordnung, für ein warmes Gericht zu sorgen, befolgt. Es gab einen Pot au feu. «Ich glaube, der Kostümball hat allen großen Spaß gemacht», sagte Oberst Julyan. «Mrs. Lacy sah blendend aus.» «Ja», sagte ich. «Und wie gewöhnlich machte sie sich ihr Kostüm selber», sagte Maxim. «Es muß verdammt schwer sein, mit solchen orientalischen Gewändern fertig zu werden», sagte Oberst Julyan. «Und doch hört man immer wieder, daß sie viel bequemer und kühler sind als irgend etwas, was die europäischen Frauen tragen.» «Wirklich?» sagte ich. «Ja, man behauptet es wenigstens. Wahrscheinlich halten diese faltenreichen Dinger die Sonnenstrahlen besser ab.» «Wie merkwürdig», sagte Frank. «Man sollte annehmen, daß gerade das Gegenteil der Fall ist.» «Offenbar nicht», sagte Oberst Julyan. «Kennen Sie den Osten?» fragte Frank. «Ja, den Fernen Osten kenne ich. Ich war fünf Jahre in China stationiert und danach in Singapore.» «Kommt da nicht der Curry her?» fragte ich. «Doch, ja, in Singapore haben wir sehr gute Curryspeisen bekommen.» «Ich esse Curry auch sehr gern», sagte Frank. «Ach, was man in England bekommt, ist gar kein richtiger Curry, das ist nur ein kümmerlicher Ersatz.» Die Teller wurden weggenommen, und Frith reichte uns das Souffle und Fruchtsalat. «Mit den Himbeeren ist es wohl für dieses Jahr vorbei», sagte Oberst Julyan. «Wir haben eine ungewöhnlich gute Ernte gehabt. Meine Frau hat mehr Marmelade eingekocht als je zuvor.» «Ich kann mich nicht so recht für Himbeermarmelade begeistern», sagte Frank, «ich finde, es sind immer zuviel Kerne drin.» «Sie müssen einmal unser Eingemachtes probieren», sagte Oberst Julyan. «Ich glaube, bei uns werden Sie sich nicht über zuviel Kerne beklagen müssen.» «Die Apfelbäume sind in diesem Jahr zum Brechen voll», sagte Frank. «Ich habe erst vor ein paar Tagen zu Maxim gesagt, wir würden eine Rekordernte erzielen. Wir werden eine ganze Menge nach London schicken können.» «Finden Sie denn, daß sich das lohnt?» fragte Oberst Julyan. «Nachdem man die Extraarbeit und die Verpackung und die Fracht bezahlt hat, schaut dann überhaupt noch etwas dabei heraus?» «Himmel, ja!» «Wie interessant, das muß ich meiner Frau erzählen.» Das Souffle und der Fruchtsalat hielten uns nicht lange auf. Robert reichte Käse und Salzgebäck, und gleich darauf brachte Frith den Kaffee und Zigaretten. Danach ver-ließen beide das Zimmer. Wir tranken schweigend unseren Kaffee. Ich sah nicht von meiner Tasse auf. «Ich sagte Ihrer Frau schon, bevor wir zu Tisch gingen, de Winter», fing Oberst Julyan in dem früheren vertraulichen Ton an, «daß das einzig Dumme an der ganzen unerfreulichen Geschichte ist, daß Sie seinerzeit die Leiche jener fremden Frau identifizierten.» «Ja, eben», bestätigte Maxim. «Unter den damaligen Umständen finde ich den Irrtum nur zu begreiflich», warf Frank schnell ein. «Als die Behörde ihn aufforderte, nach Edgecoombe zu kommen, schrieb sie ihm bereits so, als sei gar kein Zweifel mehr an der Identität möglich. Und Maxim war überdies noch krank. Ich wollte ihn begleiten, aber er bestand darauf, allein zu fahren. Er war gar nicht in dem Zustand, ein klares Urteil abgeben zu können.» «Das ist Unsinn», sagte Maxim. «Mir fehlte gar nichts.» «Na ja, das ist jetzt unwichtig», unterbrach Oberst July-an. «Sie haben nun einmal diesen Irrtum begangen, und jetzt bleibt nichts anderes übrig, als ihn zuzugeben. Diesmal ist ein Zweifel wohl tatsächlich ausgeschlossen.» «Ja», sagte Maxim. «Ich wünschte, ich könnte Ihnen die Formalitäten und die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung ersparen», sagte Oberst Julyan. «Aber ich fürchte, das wird nicht möglich sein.» «Natürlich nicht», sagte Maxim. «Jedenfalls glaube ich nicht, daß es sehr lange dauern wird; Sie brauchen ja nur Ihre Identifizierung zu bestätigen, und dann muß Tabb, der ja das Boot überholte, als Ihre Frau es aus Frankreich mitbrachte, eine Erklärung abgeben, daß das Boot seetüchtig und in Ordnung war, als er es zuletzt auf seiner Werft hatte. Es handelt sich ja bei all dem nur um Formalitäten, die wir allerdings nicht umgehen können. Nein, was mich am meisten bekümmert, ist, daß es durch alle Zeitungen gehen wird. Das ist sehr unerquicklich für Sie und Ihre Frau.» «Na ja, das läßt sich nun nicht ändern», sagte Maxim. «Zu dumm, daß dieses deutsche Schiff ausgerechnet hier stranden mußte», sagte Oberst Julyan. «Sonst wäre alles beim alten geblieben, und kein Hahn hätte danach gekräht.» «Ja», sagte Maxim. «Der einzige Trost ist nur, daß wir jetzt wissen, daß Mrs. de Winter einen schnellen und barmherzigen Tod hatte und sich nicht so lange hat quälen müssen, wie wir ja bisher annehmen mußten. An Schwimmen war ja unter diesen Umständen gar nicht zu denken.» «Nein», sagte Maxim. «Sie ist wahrscheinlich in die Kajüte gegangen, um etwas zu holen, und als das Boot sich dann in einer Bö umlegte, verklemmte sich die Tür, so daß sie nicht rechtzeitig ans Steuer konnte», sagte Oberst Julyan. «Schrecklich!» «Ja», sagte Maxim. «Halten Sie das nicht auch für die wahrscheinlichste Lösung, Mr. Crawley?» wandte sich Oberst Julyan an Frank. «O ja, zweifellos», sagte Frank. Ich sah hoch und erhaschte den Blick, den Frank Maxim zuwarf. Er wandte seine Augen gleich wieder ab, aber nicht so schnell, daß ich nicht den Ausdruck in ihnen lesen und deuten konnte. Frank wußte alles. Und Maxim wußte nicht, daß Frank alles wußte. Ich rührte in meiner Kaffeetasse. Meine Hände waren feucht und heiß. «Früher oder später unterläuft uns allen mal ein Irrtum», sagte Oberst Julyan. «Und dann müssen wir das eben aus-baden. Mrs. de Winter muß doch ebensogut wie wir gewußt haben, wie unbeständig der Wind dort in der Bucht bläst und daß man das Steuer nicht unbeaufsichtigt lassen darf. Schließlich segelte sie nicht zum erstenmal dort draußen. Sie muß das Risiko gekannt haben, und als sie es trotzdem wagte, hat es sie eben getötet. Eine bittere Lehre für jeden.» «Ein Unglück kann so leicht passieren», sagte Frank. «Selbst den erfahrensten Leuten. Denken Sie doch nur an die vielen Jagdunglücke.» «Gewiß, aber meistens ist es da das Pferd, das bei einem Sprung stürzt. Wenn Mrs. de Winter nicht die Unvorsichtigkeit begangen hätte, das Steuer sich selbst zu überlassen, wäre das Unglück niemals passiert. Es ist mir wirklich ganz unbegreiflich, wie sie das tun konnte. Ich habe sie so oft bei den Sonnabendregatten von Kerrith beobachtet, und ich habe sie niemals einen wirklichen Fehler machen sehen. So etwas würde man doch nur einem Anfänger zutrauen, und dazu dort am Riff!» «Es war eine sehr böige Nacht», bemerkte Frank. «Irgend etwas in der Takelage mag in Unordnung geraten sein. Vielleicht klemmte etwas, und sie wollte nur schnell ein Messer holen.» «Selbstverständlich ist das möglich, aber Gewißheit werden wir nie erlangen, und sie würde uns ja auch nicht viel nützen. Wie gesagt, ich wünschte, ich könnte Ihnen diese Gerichtsverhandlung ersparen, aber ich kann es wirklich nicht. Ich will versuchen, sie bereits auf Dienstagmorgen zu legen und es so kurz wie möglich zu machen. Eine reine Formalität. Ich fürchte nur, wir werden die Zeitungsleute nicht ausschließen können.» Ein neuerliches Schweigen. Ich fand, daß es an der Zeit war, meinen Stuhl zurückzuschieben und mich zu erheben. «Wollen wir in den Garten gehen?» fragte ich und ging voraus auf die Terrasse. Oberst Julyan streichelte Jasper. «Er hat sich gut herausgemacht», lobte er. «Ja», sagte ich. «Diese Rasse ist sehr anhänglich», meinte er. «Ja», sagte ich. Wir standen schweigend herum. Dann zog er seine Uhr. «Ich möchte Ihnen für das ausgezeichnete Mittagsmahl danken», sagte er. «Ich habe heute noch ziemlich viel zu erledigen, und ich hoffe, Sie entschuldigen mich, wenn ich jetzt so hastig aufbreche.» «Aber natürlich», sagte ich. «Es tut mir so leid, daß sich dies ereignen mußte. Ich habe das größte Mitgefühl für Sie. Ich finde, Sie trifft es fast noch härter als Ihren Mann. Aber wenn diese Verhandlung erst vorbei ist, dann müssen Sie alles schleunigst vergessen.» «Ja», sagte ich, «das wollen wir versuchen.» «Mein Wagen steht auf der Anfahrt. Vielleicht kann ich Mr. Crawley mitnehmen. Crawley, wenn Sie wollen, kann ich Sie vor Ihrem Büro absetzen.» «Sehr freundlich von Ihnen, Oberst», sagte Frank. Er trat auf mich zu und gab mir die Hand. «Ich sehe Sie hoffentlich bald wieder», sagte er. «Ja», sagte ich. Ich sah ihn nicht an, denn ich fürchtete, auch er könnte in meinen Augen lesen, und ich wollte ihm nicht verraten, was ich wußte. Maxim begleitete unsere Gäste zum Wagen. Als sie abgefahren waren, kehrte er zu mir zurück und nahm meinen Arm. Wir standen nebeneinander und blickten über den grünen Rasen zum Meer und zu dem Leuchtturm auf der Landzunge hinunter. «Es wird schon alles gutgehen», sagte er. «Ich bin ganz ruhig und zuversichtlich. Du hast ja selbst gesehen, wie Julyan sich bei Tisch verhielt. Die Gerichtsverhandlung wird keinerlei Schwierigkeiten bieten. Es wird bestimmt alles gutgehen.» Ich schwieg und klammerte mich an seinen Arm. «Es bestand von Anfang an gar kein Zweifel, wer die Leiche war», fuhr er fort. «Doktor Philips hätte die Identität auch ohne mich feststellen können. Es war ein ganz einfacher, klarer Fall. Von dem Schuß war keine Spur mehr zu sehen. Die Kugel hatte keinen Knochen gestreift.» Ein Schmetterling flatterte auf seinen taumelnden Wegen an uns vorüber. «Du hörtest ja, was sie sagten; man nimmt an, daß das Unglück sie in der Kajüte überraschte. Das Gericht wird zu derselben Ansicht kommen. Phillips wird es ihnen so darlegen.» Maxim hielt inne. Ich schwieg immer noch. «Mir macht es nur deinetwegen etwas aus», sagte er. «Sonst bereue ich nichts. Und wenn sich alles wiederholte, würde ich nicht anders handeln. Ich bin froh, daß ich Rebecca tötete. Mein Gewissen wird sich deshalb niemals regen. Aber du - was du darunter zu leiden hast, das bedrückt mich. Ich habe dich während des Essens dauernd angesehen und nur an dich gedacht. Der drollige, rührend junge Ausdruck in deinem Gesicht, den ich so liebte, ist für immer verschwunden. Er wird nie wiederkehren. Den habe ich auch getötet, als ich dir von Rebecca erzählte. Innerhalb eines einzigen Tages hast du ihn verloren. Du bist so viel älter geworden ...» 22 Das Lokalblatt, das Frith mir am Abend brachte, trug bereits große Schlagzeilen. Er legte es vor mich auf den Tisch. Maxim war nicht im Zimmer; er war schon frühzeitig hinaufgegangen, um sich zum Essen umzuziehen. Frith blieb noch zögernd in der Tür stehen, als erwartete er, daß ich etwas sagen würde, und es kam mir dumm und auch unfreundlich vor, diese Angelegenheit, die allen Bewohnern des Hauses nahegehen mußte, einfach zu übergehen. «Ist das nicht eine scheußlich unangenehme Geschichte, Frith?» sagte ich. «Ja, Madam, in der Küche herrschte auch große Bestürzung darüber», erwiderte er. «Es ist vor allem so traurig, daß Mr. de Winter das alles noch einmal durchmachen muß.» «Ja, Madam, sehr traurig. Schrecklich, zum zweitenmal eine Leiche identifizieren zu müssen. Es besteht jetzt offenbar kein Zweifel mehr, daß das, was man im Boot gefunden hat, wirklich die sterblichen Überreste der verstorbenen Mrs. de Winter sind.» «Nein, Frith, diesmal scheint ein Irrtum ausgeschlossen.» «Als wir draußen darüber sprachen, fanden wir es alle sonderbar, daß sie sich vom Wetter so überraschen ließ. Sie war doch eine so erfahrene Seglerin.» «Ja, Frith, der Ansicht sind wir auch. Aber Unglücksfälle kommen ja vor. Und wie es sich genau abgespielt hat, das werden wir wohl niemals erfahren.» «Nein, wahrscheinlich nicht, Madam. Aber es war doch ein großer Schock für uns. Die Nachricht hat uns sehr mitgenommen. Und dazu noch so unmittelbar nach dem Ball; es traf jeden unvorbereitet. Und wird es tatsächlich zu einer Gerichtsverhandlung kommen, Madam?» «Ja, die üblichen Formalitäten.» «Selbstverständlich, Madam. Ob einer von uns als Zeuge verhört werden wird?» «Ich glaube nicht, Frith.» «Ich wäre nur zu froh, etwas für Mr. de Winter tun zu können; das weiß Mr. de Winter ja auch.» «Ja, Frith, das weiß er sicher.» «Ich habe natürlich in der Küche sofort gesagt, daß über die Angelegenheit nicht weiter gesprochen werden soll; aber es ist so schwer, ihnen den Mund zu verbieten, besonders den Mädchen. Mit Robert werde ich natürlich leicht fertig. Ich fürchte, die Nachricht hat Mrs. Danvers sehr schwer getroffen.» «Ja, Frith, das glaube ich auch.» «Sie ging gleich nach dem Essen auf ihr Zimmer und ist seitdem nicht wieder heruntergekommen. Alice brachte ihr gerade eine Tasse Tee und die Zeitung hinauf, und sie sagt, Mrs. Danvers sähe sehr elend aus.» «Es ist sicher am besten, wenn sie in ihrem Zimmer bleibt», sagte ich. «Es hat keinen Zweck, zu arbeiten, wenn sie sich nicht wohl fühlt. Alice soll ihr das bestellen. Die Köchin und ich werden uns schon einig werden.» «Ja, Madam. Ich glaube ja nicht, daß sie richtig krank ist; es ist vermutlich nur die Aufregung, daß Mrs. de Winter gefunden worden ist. Sie hat so sehr an ihr gehangen.» «Ja», sagte ich, «ich weiß.» Als Frith gegangen war, überflog ich schnell die Zeitung, bevor Maxim herunterkam. Eine ganze Spalte auf der Titelseite war dem Ereignis gewidmet; und darüber hatten sie eine fast unkenntliche Photographie von Maxim gebracht, die mindestens fünfzehn Jahre alt sein mußte. Es war gräßlich, ihn aus einer Zeitung herausstarren zu sehen. Und am Schluß des Artikels standen ein paar Zeilen über mich, die zweite Frau von Maxim, und daß wir gerade einen Kostümball auf Manderley gegeben hätten. Es nahm sich in dem schwarzen Zeitungsdruck so roh und gefühllos aus. Dort stand, wie Rebecca, die als geistreiche Schönheit geschildert und deren allgemeine Beliebtheit besonders hervorgehoben wurde, vor einem Jahr ertrunken sei, und wie Maxim schon im Frühjahr darauf zum zweitenmal geheiratet und seine junge Frau unmittelbar nach der Hochzeit (behauptete der Schreiber) nach Manderley gebracht habe, wo ihr zu Ehren ein großes Kostümfest gegeben worden sei. Und wie dann am Morgen darauf die Leiche seiner ersten Frau in der Kajüte ihres Segelbootes auf dem Meeresgrund von dem Taucher entdeckt worden sei. Im großen und ganzen stimmte das alles ja, aber die kleinen Ungenauigkeiten, die die Geschichte aufpulverten, verliehen dem Artikel erst den Kitzel, den der große Leserkreis für seine Pennies verlangen durfte. Die Darstellung machte aus Maxim nahezu einen Lüstling, der seine nach Manderley brachte und ihr zu Ehren ein rauschendes Fest veranstaltete, nur um sein Glück vor der Welt zur Schau zu stellen. Ich versteckte die Zeitung unter einem Kissen, damit Maxim sie nicht zu Gesicht bekam. Aber die Morgenausgaben konnte ich nicht vor ihm verbergen. Die Londoner Blätter hatten die Geschichte ebenfalls aufgegriffen. Beide brachten ein Bild von Manderley über dem Text. Mander-ley und Maxim waren allerletzte Neuigkeit. Er wurde Max de Winter genannt. Es klang schrecklich salopp und mondän. Alle Zeitungen hoben besonders hervor, daß die Entdeckung am Tag nach dem Kostümfest gemacht worden sei. Als erblicke man darin etwas Schicksalhaftes. Und in beiden Artikeln kam der Ausdruck . Ich konnte nichts sehen. Ein Frauenhut versperrte mir die Sicht. Maxim stand jetzt auf. Ich wagte es nicht, ihn anzusehen. Ich durfte ihn nicht ansehen. Ich hatte schon einmal dieses Gefühl gehabt. Wann war das nur gewesen? Ich weiß nicht, ich kann mich nicht erinnern; doch, ja, es war neulich, als ich mit Mrs. Danvers oben am Fenster stand. Mrs. Danvers befand sich jetzt auch in diesem Raum und hörte auf das, was der Vorsitzende sagte. Da vorn stand Maxim. Die Hitze stieg vom Boden in stickigen Wellen zu mir auf. Sie berührte meine feuchten Hände, kroch mir in den Hals und legte sich auf mein Gesicht. «Mr. de Winter, Sie haben die Aussage von Mr. Tabb, dem die Pflege des Bootes Ihrer verstorbenen Gattin anvertraut war, gehört. Wissen Sie etwas über diese Löcher in den Planken?» «Nicht das geringste.» «Können Sie sich erklären, wo die Löcher herrühren?» «Nein, natürlich nicht.» «Und Sie haben jetzt zum erstenmal davon gehört?» «Ja.» «Das ist also ein schwerer Schock für Sie?» «Es war schon ein großer Schock, als ich erfahren mußte, daß ich mich damals bei der Identifizierung geirrt habe; und jetzt muß ich hören, daß meine Frau nicht ertrank, weil das Boot kenterte, sondern weil es angebohrt war, daß es also absichtlich zum Sinken gebracht wurde. Und da fragen Sie noch, ob das ein schwerer Schock für mich ist?» Nein, Maxim, nein. Nicht so. Du wirst ihn gegen dich aufbringen. Du hast doch gehört, was Frank sagte. Du darfst ihn nicht gegen dich einnehmen. Nicht den Ton, nicht diese zornige Stimme, Maxim. Er wird dich nicht verstehen. Bitte, Liebster, bitte! Lieber Gott, laß ihn nicht in Wut geraten, laß Maxim nicht wütend werden! «Mr. de Winter, bitte glauben Sie, daß wir alle das tiefste Mitgefühl für Sie haben. Zweifellos hat es Sie sehr hart getroffen, als Sie erfuhren, daß Ihre Frau nicht im offenen Meer, sondern in ihrer Kajüte ertrunken ist. Aber ich führe diese Untersuchung ja in Ihrem eigenen Interesse; ich versuche schließlich nicht zu meinem eigenen Vergnügen, ausfindig zu machen, wie und warum Ihre Gattin den Tod fand.» «Das ist doch wohl bereits geklärt.» «Ich hoffe, daß Sie recht haben. Mr. Tabb hat uns soeben erzählt, daß das Boot, in dem der Leichnam der verstorbenen Mrs. de Winter aufgefunden wurde, durch drei gewaltsam verursachte Löcher beschädigt ist. Und daß außerdem die Flutventile offenstanden. Wollen Sie seine Aussage in Zweifel ziehen?» «Gewiß nicht. Als Bootsbauer weiß er ja, wovon er spricht.» «Welchem Ihrer Angestellten oblag die Wartung des Bootes?» «Meine Frau hat alles, was mit dem Boot zu tun hatte, selbst gemacht.» «Ohne irgendwelche Hilfe?» «Ja.» «Das Boot lag im allgemeinen in dem kleinen Privathafen von Manderley?» «Ja.» «Ein Fremder, der sich an dem Boot zu schaffen machen wollte, wäre gesehen worden? Führt kein öffentlicher Fußweg zu dem Hafen?» «Nein, keiner.» «Der Hafen liegt sehr einsam und ist von Bäumen umgeben, nicht wahr?» «Ja.» «Es besteht also die Möglichkeit, daß ein Unbefugter zum Hafen gelangte, ohne gesehen zu werden?» «Ja.» «Mr. Tabb hat uns erzählt - und wir dürfen ihm wohl glauben -, daß das Boot sich in dem Zustand, in dem es gefunden wurde, höchstens fünfzehn Minuten über Wasser halten konnte.» «Jawohl.» «Deshalb brauchen wir uns von vornherein gar nicht mit der Theorie zu befassen, daß das Boot in böser Absicht beschädigt worden sein könnte, bevor Mrs. de Winter die Segelfahrt antrat. Wäre das der Fall gewesen, müßte es ja bereits an der Boje gesunken sein.» «Zweifellos.» «Deshalb müssen wir von der Annahme ausgehen, daß derjenige, der das Boot hinaussegelte, auch die Löcher in die Planken geschlagen und die Hähne aufgedreht hat.» «Das nehme ich auch an.» «Laut Ihrer Aussage war die Kajütentür verriegelt; die Bullaugen waren geschlossen, und die Überreste der Leiche lagen auf dem Boden. Dasselbe haben Doktor Phillips und Captain Searle auch gesagt.» «Ja.» «Und zu diesen Aussagen kommt jetzt die Aussage von Mr. Tabb, daß die Planken mit einem Brecheisen oder Bootshaken durchbrochen und die Flutventile geöffnet waren. Kommt Ihnen das nicht sehr sonderbar vor?» «Allerdings.» «Und Sie können sich das gar nicht erklären?» «Nein, in keiner Weise.» «Mr. de Winter, so unangenehm es mir ist, ich muß jetzt eine sehr persönliche Frage an Sie richten.» «Bitte.» «War das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrer verstorbenen Frau völlig ungetrübt und glücklich?» Diese schwarzen Flecke, die vor meinen Augen tanzten und kreuz und quer durch die flimmernde Luft schossen -natürlich mußten sie jetzt kommen, und es war so heiß, so schrecklich heiß, und all die Menschen und die Gesichter um mich herum, und niemand öffnete ein Fenster. Die Tür, die mir so nahe gewesen war, erschien jetzt doch weiter fort, als ich gedacht hatte, und der Boden begann unter meinen Füßen zu schwanken. Und dann vernahm ich plötzlich Maxims Stimme klar und ruhig aus dem trüben Dunst, der meine Augen verschleierte: «Bitte, helfen Sie meiner Frau hinaus; sie wird ohnmächtig.» 23 Ich saß wieder in dem kleinen Wartezimmer. Derselbe Polizist beugte sich über mich und reichte mir ein Glas Wasser, und jemand hatte seine Hand auf meinen Arm gelegt. Ich saß ganz still und ließ den Fußboden, die Wände und die Gestalten von Frank und dem Polizisten wieder feste Form vor meinen Augen annehmen. «Wie dumm von mir», sagte ich. «Aber es war so heiß da drinnen.» «Ja, die Luft verbraucht sich da drinnen sehr schnell», sagte der Polizist. «Es ist schon oft über die mangelhafte Lüftung geklagt worden, aber getan wurde bisher nichts dagegen. Es ist schon mehr als eine Dame in dem Zimmer in Ohnmacht gefallen.» «Fühlen Sie sich jetzt besser, Mrs. de Winter?» fragte Frank. «Ja, danke, viel besser. Mir wird gleich wieder ganz wohl sein. Warten Sie bitte nicht hier auf mich.» «Ich werde Sie nach Manderley zurückfahren.» «Nein.» «Doch, Maxim hat mich darum gebeten.» «Nein, Sie müssen bei ihm bleiben.» «Maxim bat mich, Sie nach Manderley zurückzubringen.» Er nahm meinen Arm und half mir auf. «Glauben Sie, daß Sie bis zum Wagen gehen können, oder soll ich lieber vorfahren?» «Oh, gehen kann ich schon, aber ich möchte hier bleiben. Ich will auf Maxim warten.» «Maxim wird aber vielleicht noch längere Zeit aufgehalten werden.» Warum sagte er das? Was meinte er damit? Warum sah er mich nicht an? Er führte mich einfach durch den Korridor und die Stufen hinunter auf die Straße. Maxim wird vielleicht noch längere Zeit aufgehalten werden . Ohne zu sprechen, gingen wir zum Marktplatz. Frank öffnete die Tür seines kleinen Morris', half mir hinein, setzte sich hinter das Steuer und ließ den Motor an. Wir fuhren durch die leeren Straßen aus dem Städtchen hinaus, bis wir auf die offene Landstraße kamen, die nach Kerrith führte. «Warum kann es noch lange dauern? Was kann denn jetzt noch geschehen?» «Es ist möglich, daß die verschiedenen Zeugen noch einmal aussagen müssen.» Frank blickte starr vor sich auf die staubigweiße Straße. «Aber da ist doch gar nichts mehr zu sagen, ich verstehe das nicht.» «Man kann nicht wissen», entgegnete Frank. «Der Vorsitzende kann vielleicht noch irgendwelche Fragen haben. Tabbs Aussage hat der ganzen Sache eine neue Wendung gegeben. Der Vorsitzende muß infolgedessen seine Fragen aus einem neuen Gesichtswinkel stellen.» «Wieso eine neue Wendung? Was meinen Sie damit?» «Sie haben doch Tabbs Aussage gehört und was er von dem Zustand des Bootes sagte. Man zweifelt jetzt natür-lich daran, daß es sich um einen Unglücksfall gehandelt hat.» «Aber das ist doch töricht, Frank, das ist doch geradezu albern. Die hätten diesen Tabb gar nicht anhören sollen. Wie kann er denn nach so vielen Monaten feststellen, wo die Löcher herrühren? Was soll denn damit bewiesen werden?» «Ich weiß nicht.» «Dieser Horridge wird noch so lange auf Maxim herumhacken, bis er seine Selbstbeherrschung verliert und Dinge sagt, die er gar nicht meint. Maxim wird sich das bestimmt nicht gefallen lassen, Frank, diese sinnlose Fragerei.» Frank antwortete nicht. Er fuhr so schnell, wie sein kleiner Morris es zuließ. Zum erstenmal, seit ich ihn kannte, hatte er keine konventionelle Phrase zur Hand. Das konnte nur bedeuten, daß er sich große Sorgen machte. Und sonst war er auch ein so übertrieben vorsichtiger Fahrer, hielt an jeder Kreuzung an, sah sich nach rechts und links um und hupte vor jeder Kurve. «Der Mann, der damals Mrs. Danvers besuchte, war übrigens auch da», sagte ich. «Sie meinen Favell?» sagte Frank. «Ja, ich habe ihn gesehen.» «Er saß neben Mrs. Danvers.» «Ja, ich weiß.» «Warum war er bloß da? Was hatte er bei dieser Verhandlung zu suchen?» «Er ist ja schließlich Rebeccas Vetter.» «Aber ich finde es nicht richtig, daß er und Mrs. Danvers da sitzen und sich die Aussagen mit anhören. Ich traue den beiden nicht, Frank.» «Nein.» «Womöglich hecken sie sich etwas aus, und dann gibt es nur noch mehr Schwierigkeiten.» Wieder antwortete Frank nicht. Ich verstand, daß seine Freundschaft zu Maxim so weit ging, daß er sich nicht einmal mit mir in eine Diskussion einlassen wollte. Er konnte ja nicht wissen, wie weit ich von Maxim eingeweiht worden war, und ich konnte ja auch nicht mit Gewißheit sagen, wieviel er wußte. Wir waren zwar Verbündete und zogen am gleichen Strang, aber wir wagten es nicht, einander anzusehen. Wir wagten beide nicht, dem anderen zu viel anzuvertrauen. Endlich kamen wir zum Haus und nahmen die letzte Kurve. «Kann ich Sie jetzt allein lassen?» fragte Frank. «Vielleicht legen Sie sich ein bißchen hin.» «Ja, vielleicht tue ich das», sagte ich. «Ich will nach Lanyon zurück», sagte er. «Maxim wird mich vielleicht brauchen.» Das war alles, was er sagte. Er stieg rasch in seinen Wagen und fuhr wieder los. Maxim konnte ihn vielleicht brauchen. Warum glaubte er, daß Maxim ihn brauchen könnte? Vielleicht würde der Vorsitzende Frank auch noch ausfragen wollen. Ihn über jenen Abend vor mehr als einem Jahr befragen, an dem Maxim bei ihm zu Abend gegessen hatte. Er würde sich nach der genauen Zeit erkundigen, zu der Maxim sein Haus verlassen hatte. Er würde wissen wollen, ob irgend jemand ihn nach Hause habe kommen sehen. Ob die Dienstboten gewußt hatten, daß er da war. Ob jemand bezeugen konnte, daß Maxim unverzüglich in sein Zimmer gegangen war. Vielleicht würde dieser Horridge auch Mrs. Danvers vernehmen. Und Maxim, der sich kaum noch hatte beherrschen können, Maxims weißes Gesicht ... Ich trat in die Halle und ging in mein Zimmer hinauf und warf mich auf mein Bett, wie Frank es mir geraten hatte. Ich bedeckte meine Augen mit den Händen, aber ich sah immer noch jenen Raum mit den vielen starrenden Gesichtern vor mir, das runzlige, aufreizende Pedantengesicht des Vorsitzenden mit dem goldenen Kneifer auf der Nase. Andere Frauen hatten so etwas schon durchgemacht, Frauen, über die ich in den Zeitungen gelesen hatte. Sie schickten Briefe an den Innenminister, aber es nützte nichts. Der Innenminister pflegte immer zu antworten, der Gerechtigkeit müsse Genüge getan werden. Die Freunde sammelten Unterschriften für ein Gnadengesuch, aber der Innenminister konnte nicht helfen. Und der kleine Bürger, der von dem Fall in der Zeitung gelesen hatte, sagte sich: warum soll denn so ein Kerl straflos ausgehen? Schließlich hat er doch seine Frau umgebracht. An die arme Ermordete denkt wohl keiner, wie? Diese sentimentalen Leute, die die Todesstrafe abschaffen wollen, leisten dem Verbrechen ja geradezu Vorschub. Mein Gott, laß mich nicht mehr daran denken! Laß mich an etwas anderes denken. An Mrs. Van Hopper in Amerika zum Beispiel. Sie wird jetzt bei ihrer Tochter sein. Sie haben ein Sommerhaus auf Long Island. Wahrscheinlich spielen sie viel Bridge und besuchen Pferderennen. Mrs. Van Hopper war eine leidenschaftliche Rennbesu-cherin. Ob sie wohl noch den kleinen gelben Hut trägt? Er war ihr viel zu klein, viel zu klein für ihr breites Gesicht. Mrs. Van Hopper in ihrem Garten auf Long Island mit Romanen, Magazinen und Zeitungen auf ihrem Schoß. Mrs. Van Hopper, die ihr Lorgnon an die Augen hebt und ihrer Tochter zuruft: «Hör mal zu, Helen, hier steht, daß Max de Winter seine erste Frau umgebracht hat. Ich habe ja immer gesagt, daß er etwas Unheimliches an sich hatte. Und ich habe diese kleine Närrin auch gewarnt, daß sie ei-ne große Dummheit begehe. Aber sie wollte ja keine Vernunft annehmen. Na, die hat sich eine schöne Suppe eingebrockt. Aber wahrscheinlich bekommt sie schon Riesenangebote aus Hollywood.» Etwas berührte meine Hand. Es war Jasper, der seine kalte, feuchte Nase in meine Hand bohrte. Er war mir aus der Halle nach oben gefolgt. Warum kamen einem eigentlich die Tränen, wenn man einen Hund ansah? Sie bewiesen ihr Verständnis und Mitgefühl auf eine so rührend hilflose Art. Jasper wußte, daß etwas nicht in Ordnung war. Hunde spüren das. Wenn Koffer gepackt werden, das Auto vorfährt, dann stehen die Hunde mit eingekniffenem Schwanz und melancholischen Augen dabei und schleichen mit gesenktem Kopf in ihren Korb zurück, sobald das Geräusch des Motors in der Ferne verklingt. Ich mußte wohl eingeschlafen sein, denn beim ersten Donnerschlag schrak ich plötzlich hoch. Ich sah auf die Uhr. Es war fünf. Ich erhob mich und ging ans Fenster. Kein Lüftchen rührte sich. Die Blätter hingen regungslos, wie erwartungsvoll, an den Zweigen. Der Himmel war schiefergrau. Ein zackiger Blitz zerriß die Wolkenwand. Es grollte leise; das Gewitter war noch weit weg. Noch regnete es nicht. Ich trat auf den Flur hinaus und lauschte. Nichts war zu hören. Ich ging zur Treppe. Niemand war zu sehen. Die drohenden Gewitterwolken hatten die Halle verfinstert. Ich ging hinunter auf die Terrasse. Ein neuer Donnerschlag ertönte. Ein Regentropfen fiel auf meine Hand, ein einziger Tropfen, nicht mehr. Es war sehr dunkel. Das Meer lag wie ein schwarz glänzender See hinter der Talsenke. Noch ein Tropfen berührte jetzt meine Hand, und wieder donnerte es. Ich hörte, wie die Mädchen oben die Fenster schlossen. Robert kam und machte die Glastüren im Salon hinter mir zu. «Die Herren sind noch nicht zurück, nicht wahr, Robert?» fragte ich. «Nein, Madam, noch nicht. Ich dachte, Sie wären mit ihnen fortgefahren.» «Ich bin schon eher zurückgekommen.» «Soll ich Ihnen Ihren Tee bringen, Madam?» «Nein, ich warte noch etwas.» «Ich glaube, mit dem schönen Wetter ist es jetzt vorbei, Madam.» «Ja.» Noch immer kein Regen, nur die beiden Tropfen auf meiner Hand. Ich ging in die Bibliothek und setzte mich. Um halb sechs kam Robert ins Zimmer. «Der Wagen ist gerade vorgefahren, Madam», sagte er. «Welcher Wagen?» «Mr. de Winters Wagen, Madam», sagte er. «Hat Mr. de Winter selbst gesteuert?» «Ja, Madam.» Ich versuchte mich zu erheben, aber meine Beine knickten ein, als ob sie aus Stroh wären. Ich lehnte mich gegen das Sofa. Mund und Kehle waren wie ausgetrocknet. Gleich darauf kam Maxim herein und blieb an der Tür stehen. Er sah erschöpft und alt aus. Um seinen Mund hatten sich Falten gebildet, die ich vorher nie gesehen hatte. «Es ist alles vorüber», sagte er. Ich wartete. Ich konnte noch immer nicht sprechen oder mich bewegen. «Selbstmord», sagte er. «Ohne Anhaltspunkte für den Beweggrund. Die Geschworenen waren natürlich völlig am Ende ihrer Weisheit und wußten schließlich gar nicht mehr, was sie sagen sollten.» Ich setzte mich auf das Sofa. «Selbstmord!» sagte ich. «Ohne Begründung? Was hat man denn als Begründung angenommen?» «Gott weiß», sagte er. «Sie schienen eine Begründung nicht für notwendig zu halten. Der alte Horridge sah mich mißtrauisch an und wollte wissen, ob Rebecca vielleicht Geldsorgen gehabt habe. Geldsorgen - du guter Gott!» Er trat ans Fenster und blickte auf den Rasen hinaus. «Es wird gleich regnen», sagte er. «Gott sei Dank, daß wir endlich Regen bekommen.» «Wie war es denn?» fragte ich. «Was hat Horridge denn noch alles gefragt? Warum hat es noch so lange gedauert?» «Er ist immer wieder auf jede Einzelheit zurückgekommen», sagte Maxim. «Auf Nebensächlichkeiten, die keinen Menschen interessierten. Ob die Flutventile schwer aufzudrehen seien? Wo sich das erste Loch im Verhältnis zum zweiten befinde? Woraus der Ballast bestehe? Welche Wirkung es auf die Stabilität des Bootes habe, wenn man den Ballast verschiebe? Ob eine Frau das allein tun könne? Ob die Tür der Kajüte fest geschlossen werden konnte? Welcher Wasserdruck notwendig sei, um die Kajütentür aufzubrechen? Ich dachte, ich würde wahnsinnig. Aber ich hielt mich im Zaum. Dein Anblick dort an der Tür erinnerte mich an meine Pflicht. Wenn du nicht ohnmächtig geworden wärst, hätte ich es niemals bis zum Ende durchgehalten. So aber riß ich mich zusammen. Ich wußte genau, was ich sagen mußte. Ich wandte meine Augen nicht eine Sekunde von Horridge ab, von diesem spitzen, kleinlichen Gesicht und dem goldenen Kneifer. An das Gesicht werde ich mein Lebtag denken. Aber jetzt bin ich müde, Liebste, so müde, daß ich kaum noch sehen oder hören und fühlen kann.» Er ließ sich schwer auf die Bank am Fenster fallen und stützte den Kopf in die Hände. Ich eilte an seine Seite. Nach ein paar Minuten erschienen Frith und Robert mit dem Tee. Die feierliche Zeremonie nahm ihren alltäglichen Verlauf, die Tischklappen wurden hochgestützt, das schneeweiße Tuch wurde aufgelegt, die silberne Teekanne griffbereit hingestellt und der Wasserkessel über das Spiri-tusflämmchen gehängt. Dazu wie üblich Sandwiches, Teegebäck und dreierlei Kuchen. Jasper saß auf seinem gewohnten Platz neben dem Tisch, klopfte dann und wann mit dem Schwanz auf den Boden und sah mich erwartungsvoll an. Komisch, dachte ich, wie das tägliche Leben weiterläuft, ganz gleich, was geschieht. Wir tun immer dasselbe: wir essen, wir waschen uns, wir schlafen. Kein noch so kritisches Ereignis kann die Macht der Gewohnheit brechen. Ich schenkte Maxim Tee ein, brachte ihm die Tasse und etwas Gebäck zum Fenster und nahm mir selbst ein Sandwich. «Wo ist denn Frank?» fragte ich. «Er ist zum Pfarrer gefahren. Ich hätte ihn vielleicht begleiten sollen, aber ich wollte so schnell wie möglich zu dir zurückkommen. Ich mußte immer an dich denken, wie du hier allein saßest und dir Gedanken machtest.» «Warum zum Pfarrer?» fragte ich. «Heute findet eine kleine Feier in der Kirche statt», sagte er. Ich starrte ihn verständnislos an. Dann begriff ich plötzlich. Rebecca sollte heute abend begraben werden. Rebecca würde nach Manderley zurückkehren. «Um halb sieben», sagte er. «Außer Frank, Oberst July-an, dem Pfarrer und mir weiß niemand davon. Es wird also keine Neugierigen geben. Wir haben das gestern so besprochen; die Gerichtsverhandlung hätte daran in keinem Fall etwas geändert.» «Wann mußt du denn fort?» «Wir wollen uns um fünfundzwanzig Minuten nach sechs in der Kirche treffen.» Ich fragte nicht weiter und trank schweigend meinen Tee. Maxim legte sein Sandwich wieder auf den Teller zurück. «Es ist noch furchtbar heiß, nicht wahr?» sagte er. «Ja, Gewitterstimmung. Es scheint sich nicht entschließen zu können, anzufangen. Nur ein paar Tropfen hier und da. Deshalb ist es so drückend.» «Als ich aus Lanyon fortfuhr, donnerte es schon», sagte er, «und der Himmel war schwarz wie Tinte. Wenn es doch nur endlich regnen wollte!» Die Vögel in den Bäumen waren verstummt. Es war immer noch sehr dunkel. «Ich wünschte, du müßtest nicht noch einmal fort», sagte ich. Er antwortete nicht. Er sah so müde, so todmüde aus. «Wir wollen heute abend, wenn ich wieder da bin, über alles sprechen», sagte er schließlich. «Wir haben so viel nachzuholen, nicht wahr? Wir müssen ja ganz von vorn anfangen. Ich bin dir wirklich ein sehr schlechter Ehemann gewesen.» «Nein», protestierte ich, «nein.» «Doch. Aber wir wollen einen ganz neuen Anfang machen, sobald dies alles hinter uns liegt. Wir sind ja nicht mehr allein; du und ich zusammen werden es schon schaffen. Wenn wir zusammen sind, kann uns die Vergangenheit nichts mehr anhaben. Und Kinder wollen wir auch haben.» Nach einer Weile sah er auf die Uhr. «Es ist schon zehn nach sechs», sagte er. «Ich muß jetzt gehen. Aber es wird nicht lange dauern, höchstens eine halbe Stunde. Wir gehen gleich in die Familiengruft hinunter.» Ich faßte nach seiner Hand. «Ich werde dich begleiten, es macht mir wirklich nichts aus. Laß mich mitkommen.» «Nein», sagte er. «Ich möchte nicht, daß du mitkommst.» Er ging aus dem Zimmer, und gleich darauf hörte ich den Wagen starten; allmählich verklang das Geräusch. Robert kam, um den Teetisch abzuräumen. Es war ein Tag wie jeder andere. Alles lief seinen gewohnten Gang. Unwillkürlich fragte ich mich, ob sich auch dann nichts geändert hätte, wenn Maxim nicht aus Lanyon zurückgekehrt wäre. Ob Robert dann auch mit diesem hölzernen Ausdruck in seinem jungen Gesicht die Krumen vom Tischtuch gefegt, den Tisch dann zusammengeklappt und in die Ecke gestellt hätte? Es war sehr still in der Bibliothek, nachdem er gegangen war. Ich dachte an die vier Männer dort in der Kirche, wie sie durch die kleine Tür die Stufen der Gruft hinuntergingen. Ich war nie drinnen gewesen; ich hatte nur die Tür gesehen. Ich überlegte mir, wie es wohl in der Gruft aussehen mochte. Ob viele Särge drin standen? Maxims Vater und Mutter. Und ich fragte mich auch, was mit dem Sarg jener anderen Frau geschehen würde, der unrechtmäßig dort aufgestellt worden war. Wer sie wohl gewesen war, diese arme Seele, die niemand vermißt hatte? Jetzt würde noch ein Sarg darin stehen. Rebecca würde bei den anderen de Winters in der Familiengruft ruhen. Vielleicht las der Pfarrer gerade die Totenmesse, Maxim, Frank und Oberst Julyan neben sich? Asche zu Asche, Staub zu Staub. Rebecca war nur noch ein Name; die Rebecca, die ich gefürchtet hatte, war gestorben, als man die Leiche in der Kajüte fand. Das, was dort in der Gruft im Sarg lag, war nicht Rebecca, es war nur Staub. Kurz nach sieben fing es an zu regnen. Zuerst nur ein schwaches leises Tropfen in den Bäumen, so dünn, daß es kaum zu sehen war. Dann immer lauter und schneller, ein Sturzbach, der sich sturmgetrieben aus den schiefergrauen Wolken ergoß wie das Wasser über ein Wehr. Ich öffnete die Fenster weit und atmete tief die kalte klare Luft ein. Der Regen sprühte mir ins Gesicht und auf die Hände. Ich konnte gerade noch den Rasen unterscheiden; der Wolkenbruch legte sich wie eine Wand zwischen mich und die Außenwelt. Ich hörte es oben in den Regenrinnen pladdern und auf die Terrasse herunterrauschen. Aber es blitzte und donnerte nicht mehr. Ich hatte Frith nicht kommen hören. Ich stand am Fenster und sah in den Regen hinaus und bemerkte ihn erst, als er neben mir stand. «Verzeihung, Madam», sagte er. «Können Sie mir sagen, ob Mr. de Winter sehr lange fortbleiben wird?» «Nein», sagte ich, «nicht sehr lange.» «Ein Herr wünscht ihn nämlich zu sprechen, Madam», sagte Frith etwas zögernd, «und ich weiß nicht recht, was ich ihm sagen soll. Er ist so hartnäckig, er läßt sich nicht abweisen.» «Wer ist es denn?» fragte ich. «Jemand, den Sie kennen?» Frith sah verlegen aus. «Jawohl, Madam», sagt er. «Es ist ein Herr, der früher, als Mrs. de Winter noch lebte, häufig zu Besuch kam. Ein gewisser Mr. Favell.» Ich kniete mich auf die Fensterbank und zog das Fenster zu. Der Regen hatte die Kissen durchnäßt. Dann wandte ich mich um und sah Frith an. «Führen Sie Mr. Favell nur herein», sagte ich. Ich ging zum Kamin hinüber, in dem heute kein Feuer brannte. Vielleicht war es mir möglich, Favell loszuwerden, bevor Maxim zurückkam. Ich wußte noch nicht, was ich sagen würde, aber ich hatte keine Angst. Frith führte Favell gleich darauf herein. Er sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte, nur etwas unordentli-cher. Auch trat er noch polternder auf. Er gehörte zu den Männern, die Sommer und Winter ohne Hut herumlaufen, und sein Haar war von der Sonne gebleicht und sein Gesicht ganz braungebrannt. Seine Augen sahen so blutunterlaufen aus, daß ich mich fragte, ob er getrunken hatte. «Maxim ist leider nicht zu Hause, und ich weiß auch nicht, wann er wiederkommt», sagte ich. «Wäre es nicht das beste, Sie riefen ihn morgen im Büro an und verabredeten sich?» «Oh, mir macht es nichts aus zu warten», entgegnete Favell. «Und ich hab so 'ne Ahnung, ich werde gar nicht lange zu warten brauchen. Ich hab nämlich eben einen Blick ins Eßzimmer geworfen und gesehen, daß dort schon für Maxim gedeckt ist.» «Ja», sagte ich. «Aber Maxim mußte plötzlich noch einmal wegfahren, und es ist durchaus möglich, daß er heute abend gar nicht mehr nach Hause kommt.» «Davongelaufen, wie?» fragte Favell mit einem spöttischen Lächeln, das mir unangenehm war. «Ich bezweifle, ob das stimmt. In seiner Lage wäre es allerdings das Gescheiteste, was er tun könnte. Es gibt nun mal Leute, die gegen Klatsch sehr empfindlich sind; es ist auch bequemer, sich dem nicht auszusetzen.» «Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen.» «Sie wollen das nicht wissen? Sie können doch nicht im Ernst von mir verlangen, daß ich Ihnen das glauben soll. Aber sagen Sie, fühlen Sie sich jetzt besser? Es hat mir so leid getan, daß Sie heute bei der Verhandlung ohnmächtig wurden. Ich wollte Ihnen gerade zu Hilfe eilen, da sah ich, daß sich schon ein anderer Ritter Ihrer angenommen hatte. Ich wette, daß es Frank Crawley großen Spaß gemacht hat. Durfte er Sie auch nach Hause fahren? Zu mir wollten Sie damals nicht in den Wagen steigen.» «Weswegen wollten Sie Maxim sprechen?» fragte ich. Favell beugte sich über den Tisch und nahm sich eine Zigarette. «Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich rauche? Ihnen wird doch hoffentlich nicht übel davon? Bei jungen Frauen kann man das ja nie wissen.» Er betrachtete mich mit zusammengekniffenen Augen, während er seine Zigarette ansteckte. «Sie sind ja ganz erwachsen geworden seit dem letztenmal», sagte er. «Wie haben Sie das denn fertiggebracht? Mondscheinspaziergänge mit Frank Crawley?» Er blies eine Rauchwolke in die Luft. «Sagen Sie, würde es Ihnen etwas ausmachen, Frith einen Whisky und Soda für mich holen zu lassen?» Ich läutete, ohne etwas zu erwidern. Er saß mit übergeschlagenen Beinen auf der Sofalehne und wippte mit dem Fuß und fuhr fort, mich spöttisch anzulächeln. Robert kam auf das Klingeln herein. «Ein Whisky Soda für Mr. Favell», sagte ich. «Hallo, Robert», sagte Favell. «Ich habe Sie ja ewig nicht gesehen. Knicken Sie immer noch fleißig Mädchenherzen in Kerrith?» Robert errötete und sah mich in tödlicher Verlegenheit an. «Schon gut, alter Freund, ich verrate nichts. Gehen Sie und holen Sie mir einen doppelten Whisky, und zwar ein bißchen plötzlich.» Robert verschwand, und Favell lachte und ließ seine Asche auf den Boden fallen. «Ich bin einmal an seinem freien Abend mit ihm ausgegangen», erzählte er. «Rebecca hatte um fünf Pfund mit mir gewettet, daß ich es nicht wagen würde, ihn aufzufordern. Ich habe die fünf Pfund gewonnen und einen der komischsten Abende meines Lebens verbracht. Mein Gott, hab ich gelacht! Robert auf dem Kriegspfad ist einfach nicht zu überbieten. Aber das muß ihm der Neid lassen, in Weiberdingen kennt er sich aus. Von dem ganzen Mädchenhaufen, mit dem wir uns an dem Abend umgaben, ist er mit der Hübschesten verschwunden.» Robert brachte den Whisky auf einem Tablett herein. Er sah immer noch sehr rot und verlegen aus. Favell beobachtete ihn lächelnd, während er ihm einschenkte, und lehnte sich dann lachend zurück. Er pfiff ein paar Takte eines Liedes, ohne Robert aus den Augen zu lassen. «Die Melodie war es doch, was?» sagte er. «So ging sie doch. Haben Sie immer noch eine Schwäche für rotes Haar, Robert?» Robert versuchte ein geradezu mitleiderregendes Lächeln. Favell lachte noch lauter, während Robert sich umdrehte und aus dem Zimmer ging. «Der arme Bursche», sagte Favell. «Es war wahrscheinlich das letzte Mal, daß er über die Stränge schlagen durfte. Frith, dieser alte Esel, läßt ihn jetzt nicht mehr vom Gängelband.» Er hob das Glas an die Lippen, sah sich im Zimmer um und warf mir hin und wieder einen Blick zu. «Wenn ich es mir recht überlege, dann ist es mir gar nicht so unangenehm, wenn Max nicht zum Essen nach Hause kommt», sagte er. «Was meinen Sie?» Ich antwortete nicht. Ich stand mit den Händen auf dem Rücken vor dem Kamin. «Sie würden doch das zweite Gedeck im Eßzimmer nicht unbenutzt lassen wollen?» fragte er und sah mich mit schräggeneigtem Kopf aus den Augenwinkeln an. «Mr. Favell», sagte ich, «ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich bin wirklich sehr müde. Ich habe einen sehr langen und ziemlich anstrengenden Tag hinter mir. Wenn Sie mir nicht sagen können, was Sie von Maxim wollen, dann hat es gar keinen Sinn, noch länger hier zu bleiben. Sie täten viel besser daran, ihn morgen früh im Verwaltungsbüro aufzusuchen.» Er glitt von der Lehne herunter und kam mit dem Glas in der Hand auf mich zu. «Nein, nein», sagte er, «so gemein dürfen Sie nicht sein. Ich habe auch einen anstrengenden Tag hinter mir. Sie dürfen mich jetzt nicht allein lassen. Ich bin wirklich ein ganz harmloser Mensch, ich schwöre es Ihnen. Ich habe so das Gefühl, als ob Maxim Ihnen wunder was für Märchen über mich erzählt hat.» Ich schwieg. «Sie glauben wahrscheinlich, ich sei der große böse Wolf, nicht wahr?» fuhr er fort. «Aber das stimmt gar nicht; ich bin ein ganz gewöhnlicher harmloser Bursche. Und ich finde Ihre Haltung in dieser Angelegenheit wirklich bewundernswert, ganz fabelhaft; da kann man nur den Hut vor Ihnen abnehmen, wirklich, meine Hochachtung!» Seine letzten Worte wollten ihm schon kaum mehr über die schwere Zunge. Ich wünschte jetzt, ich hätte ihn nicht hereinführen lassen. «Hier kommen Sie als junge Frau nach Manderley», sagte er mit einer schlappen Handbewegung. «Sie übernehmen diesen großen Haushalt, treffen Hunderte von fremden Gesichtern, nehmen es mit Max und seinen Launen auf, pfeifen auf die ganze Welt und leben Ihren eigenen Stiebel. Eine verdammt gute Leistung nenne ich das, und es ist mir ganz egal, wer mich das sagen hört. Eine verdammt gute Leistung!» Er schwankte ein wenig, wie er da vor mir stand. Dann riß er sich zusammen und stellte sein Glas hin. «Das kann ich Ihnen verraten, diese Angelegenheit ist mir verflucht an die Nieren gegangen, höllisch nahe ist sie mir gegangen. Rebecca war nämlich meine Cousine, und ich habe sie verdammt gern gehabt.» «Ja», sagte ich, «es tut mir auch sehr leid für Sie.» «Wir sind zusammen aufgewachsen», redete er weiter, «immer riesig gute Freunde gewesen, haben dieselben Sa-chen und dieselben Menschen gern gehabt, haben jeden Schmerz miteinander geteilt. Ich habe Rebecca bestimmt lieber gehabt als irgend jemand sonst. Und sie hat mich auch gemocht. Verdammt noch mal, was das für ein Schlag für mich gewesen ist!» «Ja», sagte ich, «das kann ich verstehen.» «Und was ich wissen will, ist, was Max jetzt zu tun gedenkt. Glaubt er etwa, er kann den lieben Gott so ganz einfach einen guten Mann sein lassen, jetzt, wo diese Verhandlungskomödie überstanden ist? Können Sie mir das sagen?» Er lächelte jetzt nicht mehr und beugte sich zu mir vor. «Ich werde dafür sorgen, daß Rebecca zu ihrem Recht kommt», sagte er mit immer lauterer Stimme. «Selbstmord ... Jesus Christus, dieser alte Tapergreis von einem Vorsitzenden bringt es wahrhaftig fertig, den Geschworenen Selbstmord einzureden. Aber Sie und ich wissen, daß es kein Selbstmord war, nicht wahr?» sein Gesicht kam immer näher. «Oder wissen wir das etwa nicht?» fragte er lauernd. In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Maxim trat ins Zimmer, Frank dicht hinter ihm. Maxim blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen und starrte Favell an. «Was zum Teufel hast du denn noch hier zu suchen?» sagte er. Favell drehte sich um und steckte die Hände in die Hosentaschen. Und dann fing er an zu lächeln. «Das will ich dir sagen, Max, alter Freund. Ich wollte dich zu der schönen Verhandlung heute nachmittag beglückwünschen.» «Möchtest du gütigst mein Haus verlassen», sagte Maxim. «Oder ziehst du es vor, rausgeworfen zu werden?» «Moment mal, Moment mal», sagte Favell. Er zündete sich noch eine Zigarette an und setzte sich wieder auf die Sofalehne. «Du willst wohl unbedingt Frith mit anhören lassen, was ich dir jetzt sagen werde, wie? Das wird er nämlich, wenn du die Tür nicht zumachst.» Maxim rührte sich nicht. Ich sah, wie Frank die Tür leise schloß. «So, nun hör mal her, Max», fing Favell an. «Du hast dich da glänzend aus der Affäre gezogen, viel besser, als du es erwartet hattest. Ja, ich war heute nachmittag auch dort; ich nehme an, du hast mich gesehen. Ich war von Anfang an dabei und habe auch deine Frau ohnmächtig werden sehen, gerade, als es kritisch wurde, und das kann ich ihr auch nicht verübeln, denn da hing es an einem Faden, mein lieber Max, zu welcher Auffassung sich das Gericht entschließen würde. Du hast verdammtes Glück gehabt, daß es so gegangen ist. Oder hast du etwa diese Holzköpfe, die sich als Geschworene aufspielten, geschmiert? Es hat verdammt danach ausgesehen.» Maxim machte eine Bewegung auf Favell zu, aber Favell hielt seine Hand abwehrend hoch. «Warte doch, was soll denn die Hast», sagte er. «Ich bin noch lange nicht fertig. Du bist dir doch darüber klar, mein guter Max, daß ich dir die Hölle verdammt heiß machen kann, wenn's mir Spaß macht, so heiß, daß es brenzlig für dich werden dürfte.» Ich saß auf dem Stuhl neben dem Kamin und umklammerte krampfhaft die Lehne. Frank kam herüber und stellte sich hinter mich. Maxim rührte sich noch immer nicht. Er wandte den Blick nicht von Favell ab. «So?» sagte er kühl. «Du machst mich ja beinahe neugierig.» «Hör mal her, Max», sagte Favell. «Ich nehme an, zwischen dir und deiner Frau gibt es keine Geheimnisse, und nach Crawleys Gesicht zu schließen, ist er der Dritte im glücklichen Bunde. Ich kann also so offen reden, wie es mir paßt. Ihr wißt ja alle über Rebecca und mich Bescheid und daß wir ein Verhältnis hatten. Das habe ich nie geleugnet und werde ich auch nie leugnen. Also gut. Bis vor kurzem glaubte ich noch wie all die anderen Idioten, daß Rebecca beim Segeln in der Bucht ertrank und daß es ihre Leiche war, die Wochen später in Edgecoombe an Land geschwemmt wurde. Es traf mich damals verflucht hart, aber ich sagte mir, das ist genau der Tod, den Rebecca sich gewünscht hätte.» Er hielt inne und sah uns alle der Reihe nach an. «Und dann las ich vor ein paar Tagen in der Zeitung, daß der Taucher zufälligerweise Rebeccas Boot entdeckt habe und daß sich eine Leiche in der Kajüte befinde. Ich konnte es einfach nicht fassen. Wen sollte Rebecca sich denn an dem Abend als Segelpartner mitgenommen haben? Es wollte mir gar nicht in den Kopf. Ich reiste her und stieg in einem kleinen Gasthof kurz vor Ker-rith ab und setzte mich mit Danny in Verbindung. Sie erzählte mir, daß die Leiche in der Kajüte Rebeccas Leiche war. Selbst da glaubte ich noch wie alle anderen, daß die erste Identifizierung nur auf einem Irrtum beruhte und daß Rebecca nicht rechtzeitig genug aus der Kajüte herausgekommen war, und alles ging auch wunderbar glatt, bis Tabb seine Aussage machte. Und dann - also frei heraus, Max, wie erklärst du dir diese Löcher im Schiffsrumpf und die aufgedrehten Hähne nun wirklich?» «Bildest du dir etwa ein», sagte Maxim langsam, «daß ich mich nach dem Nachmittag noch in eine Diskussion einlassen werde und dazu noch mit dir? Du hast die Aussagen gehört, und du hast das Urteil gehört. Der Vorsitzende hat sich damit zufriedengegeben, da wirst du dich wohl auch damit zufriedengeben müssen.» «Ja, Selbstmord», sagte Favell, «Rebecca und Selbstmord begehen! Genau das, was man von ihr erwartet hätte, wie? Von dem Zettelchen hast du wohl noch nichts gehört, was? Ich habe es aufgehoben, weil es das Letzte war, was sie mir geschrieben hatte. Ich werde es dir mal vorlesen. Ich glaube, es wird dich interessieren.» Er nahm ein Stück Papier aus seiner Brieftasche. Selbst aus der Entfernung konnte ich die auffallend schräge Schrift erkennen. «Ich versuchte, Dich von meiner Wohnung aus anzurufen, aber niemand antwortete», las Favell. «Ich fahre jetzt wieder nach Manderley zurück. Ich bin heute abend im Bootshaus, und wenn Du das hier beizeiten erhältst, komme mir bitte im Wagen nach. Ich werde heute nacht auch im Bootshaus schlafen und die Tür für Dich offenlassen. Ich muß Dir etwas Wichtiges sagen und möchte Dich so bald wie möglich sehen. Rebecca.» Er steckte das Zettelchen wieder ein. «So etwas schreibt man doch wohl nicht, wenn man Selbstmord begehen will, oder was meinst du?» sagte er. «Ich fand den Zettel erst morgens um vier, als ich nach Hause kam, vor. Ich hatte keine Ahnung, daß Rebecca an dem Tag nach London kommen wollte, sonst hätte ich mich natürlich für sie freigehalten. Aber wie der Zufall es wollte, war ich am Abend auf einer Gesellschaft. Als ich den Zettel dann las, war es ja schon zu spät, um die Sechsstundenfahrt nach Mander-ley zu unternehmen. Ich ging zu Bett und beschloß, Rebecca am Vormittag anzurufen. Das tat ich auch gegen zwölf Uhr und erfuhr, daß Rebecca ertrunken war.» Er starrte Maxim an, und keiner von uns sprach. «Wenn nun der alte Horridge heute nachmittag diesen Zettel zu Gesicht bekommen hätte, glaubst du dann nicht auch, daß die Sache nicht ganz so reibungslos verlaufen wäre?» sagte Favell schließlich. «Warum hast du ihm den Zettel denn nicht gegeben?» entgegnete Maxim. «Immer mit der Ruhe, alter Junge, nur nichts überstürzen. Ich will dich ja nicht ruinieren, Max. Du bist zwar nie mein Freund gewesen, weiß Gott, aber das trage ich dir nicht nach. Alle Ehemänner, die eine hübsche junge Frau haben, sind eifersüchtig, und einige von ihnen spielen dann eben mal den Othello. Sie sind nun mal so gebaut, und man kann es ihnen nicht verübeln. Mir tun sie höchstens leid. In gewisser Hinsicht bin ich nämlich Sozialist, weißt du; ich verstehe nicht, warum solche Männer ihre Frauen lieber umbringen, als sie mit anderen zu teilen. Was macht das schon aus? Man kann ja trotzdem seinen Spaß an ihnen haben. So, Max, ich hab jetzt alle meine Karten aufgedeckt. Sollten wir nicht zu irgendeiner Verständigung kommen können? Ich bin kein reicher Mann, dazu wette und spiele ich zu gern. Aber was mich stört, ist, daß ich nicht einmal einen kleinen Notgroschen im Hintergrund habe. Sollte ich aber eine Lebensrente von jährlich, sagen wir, zwei- bis dreitausend Pfund erhalten, dann würde ich damit schon auskommen. Und ich würde dich nie wieder behelligen. Ich schwöre es dir bei Gott!» «Ich habe dich eben schon einmal gebeten, das Haus zu verlassen», sagte Maxim, «und ich werde dich nicht ein drittes Mal bitten. Da ist die Tür, ich werde sie dir hoffentlich nicht selbst öffnen müssen.» «Eine Sekunde, Maxim», sagte Frank. «So einfach läßt sich das vielleicht doch nicht abmachen.» Er wandte sich an Favell. «Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Leider stimmt es, daß Sie die Geschichte so verdrehen können, daß es für Maxim jedenfalls weitere Unannehmlichkeiten gäbe. Ich glaube, er überblickte das nicht so wie ich. Wie hoch ist die Summe, die Sie verlangen?» Ich sah, wie Maxim leichenblaß wurde und wie das Blut durch seine kleine Stirnader pulste. «Misch dich nicht hier ein, Frank», sagte er. «Das ist einzig und allein meine An-gelegenheit. Ich denke gar nicht daran, mich erpressen zu lassen.» «Ich kann mir nicht denken, daß deine Frau Wert darauf legt, als die Witwe eines Mörders herumzulaufen, eines Gehängten», sagte Favell. Er lachte und warf einen Blick auf mich. «Du glaubst wohl, du kannst mich einschüchtern, Favell?» sagte Maxim. «Da hast du dich aber getäuscht. Du kannst tun, was du willst, mich interessiert es nicht. Dort nebenan ist das Telephon. Soll ich Oberst Julyan anrufen und ihn herüberbitten? Er ist ja unser Polizeirichter. Ihn dürfte deine Geschichte schon eher interessieren.» Favell starrte ihn sprachlos an, dann zuckte er die Achseln. «Guter Bluff», sagte er. «Zieht aber bei mir nicht. Du würdest es nicht wagen, Julyan anzurufen. Ich habe genügend Beweise, um dich an den Galgen zu bringen, Max.» Maxim ging langsam durch die Bibliothek und verschwand in dem kleinen Nebenraum. Ich hörte das kleine , als er den Hörer abhob. «Hindern Sie ihn daran, Frank», flüsterte ich. «Um Himmels willen, hindern Sie ihn daran!» Frank erwiderte meinen Blick und ging hastig auf die Tür zum Nebenzimmer zu. Ich hörte Maxims Stimme sehr ruhig und gelassen. «Ich möchte Kerrith 17», sagte er. Favells Blick war mit einer merkwürdigen Spannung auf die Tür gerichtet. «Laß mich zufrieden», hörte ich Maxim zu Frank sagen, und dann gleich darauf: «Ist dort Oberst Julyan? Ja, hier spricht de Winter. Ich möchte Sie bitten, sofort hierher zu kommen; jawohl, nach Manderley. Es ist sehr dringend. Ich kann es Ihnen nicht am Telephon erklären, aber hier erfahren Sie alles Nähere. Tut mir sehr leid, Sie noch einmal stören zu müssen. Jawohl. Vielen Dank. Auf Wiedersehen.» Er kam wieder zurück. «Julyan wird in wenigen Minuten hier sein», sagte er. Er durchquerte den Raum und öffnete das Fenster. Es regnete noch in Strömen. Er stand mit dem Rücken zu uns da und atmete in vollen Zügen die kühle Luft ein. «Maxim», sagte Frank leise, «Maxim!» Er reagierte gar nicht darauf. Favell lachte laut auf und zündete sich wieder eine Zigarette an. «Wenn du unbedingt gehängt werden willst, lieber Freund, soll es mir auch recht sein», sagte er. Er nahm eine Zeitung vom Tisch und ließ sich auf das Sofa fallen, schlug die Beine übereinander und fing an, die Seiten umzublättern. Frank blickte zögernd von mir zu Maxim. Dann trat er zu mir. «Können Sie denn nicht irgend etwas tun?» flüsterte ich ihm zu. «Können Sie nicht Oberst Julyan entgegengehen und ihn bitten, umzukehren, es beruhe alles auf einem Irrtum?» Maxim unterbrach mich, ohne sich umzudrehen. «Frank wird dieses Zimmer jetzt nicht verlassen», sagte er. «Ich werde mit dieser Angelegenheit allein fertig. Oberst Julyan wird in genau zehn Minuten hier sein.» Darauf schwiegen wir alle. Favell las weiter in seiner Zeitung. Von draußen drang das monotone Geräusch des niederrauschenden Regens herein; er fiel pausenlos, senkrecht, in schweren Tropfen. Ich fühlte mich hilflos, ohne Kraft. Ich konnte nichts tun. Auch Frank konnte nichts mehr ausrichten. Ich durfte nicht einmal zu Maxim gehen und ihn auf den Knien anflehen, Favell das Geld zu geben. Ich mußte mit den Händen im Schoß sitzen bleiben, dem Regen lauschen und Maxim ansehen, der mir den Rücken zukehrte. Der heftige Regen übertönte das Geräusch des vorfahrenden Wagens. Wir wußten nicht, daß Oberst Julyan schon angekommen war, bis die Tür sich öffnete und Frith ihn anmeldete. Maxim wandte sich rasch um und ging ihm entgegen. «Guten Abend», sagte er. «Es ist noch nicht lange her, seit wir uns verabschiedeten. Sie müssen sehr schnell gefahren sein.» «Ja», sagte Oberst Julyan. «Da Sie mir sagten, es sei dringend, bin ich sofort aufgebrochen. Glücklicherweise hatte mein Chauffeur den Wagen noch nicht eingestellt. Was für ein Wetter!» Er warf einen forschenden Blick auf Favell, trat dann auf mich zu und gab mir die Hand, während er Frank mit einem Nicken begrüßte. «Es war aber auch höchste Zeit», sagte er, «daß wir Regen bekamen, er hatte schon reichlich lange auf sich warten lassen. Ich hoffe, es geht Ihnen wieder besser?» Ich murmelte irgendeine Antwort, ich weiß nicht mehr, was, und er sah von einem zum anderen und rieb sich die Hände. «Es wird Ihnen natürlich klar sein», sagte Maxim, «daß ich Sie an einem solchen Abend nicht aus dem Haus gelockt habe, um eine halbe Stunde vor dem Essen mit Ihnen verplaudern zu können. Das ist Jack Favell, der Vetter meiner ersten Frau. Ich weiß nicht, ob Sie sich schon kennen.» Oberst Julyan nickte. «Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor. Vermutlich habe ich Sie früher einmal hier getroffen.» «Sehr wahrscheinlich», sagte Maxim. «Also schieß los, Favell.» Favell erhob sich vom Sofa und warf die Zeitung auf den Tisch zurück. Er schien in den zehn Minuten, die wir auf Oberst Julyan gewartet hatten, etwas nüchterner geworden zu sein; er schwankte nicht mehr und lächelte jetzt auch nicht. Ich hatte den Eindruck, daß ihm diese unerwartete Wendung nicht recht gefallen wollte und daß ihn das Erscheinen von Oberst Julyan unvorbereitet traf. Er fing mit lauter, übertrieben selbstsicherer Stimme zu sprechen an. «Hören Sie zu, Oberst», sagte er, «ich will gar nicht wie die Katze um den heißen Brei herumreden. Der Grund meines Hierseins ist kurz gesagt der, daß das Ergebnis der heutigen Gerichtsverhandlung mich nicht befriedigt hat.» «Ach», sagte Oberst Julyan, «ist das nicht eine Äußerung, zu der nur Mr. de Winter berechtigt ist?» «Nein, ich glaube nicht», erwiderte Favell. «Ich habe das gleiche Recht, nicht nur als Vetter der Verstorbenen, sondern auch als ihr zukünftiger Mann, wenn sie am Leben geblieben wäre.» Oberst Julyan machte ein verdutztes Gesicht. «Ach so», sagte er, «dann allerdings. Stimmt das, Mr. de Winter?» Maxim zuckte mit den Achseln. «Das erste, was ich höre.» Oberst Julyan ließ einen mißtrauischen Blick von dem einen zum anderen gehen. «Also heraus damit, Mr. Favell», sagte er, «was haben Sie auf dem Herzen?» Favell starrte ihn einen Augenblick an, ohne zu antworten. Ich sah ihm an, daß er sich einen Plan zurechtzulegen versuchte, aber noch nicht nüchtern genug war, um mit sich ins reine zu kommen. Er steckte seine Hand langsam in die Innentasche seiner Jacke und holte Rebeccas Zettel hervor. «Das hier hat Rebecca mir geschrieben, und zwar nur wenige Stunden, bevor sie ihre angeblich selbstmörderische Segelfahrt antrat. Hier haben Sie den Zettel. Bitte lesen Sie ihn und sagen Sie mir dann, ob Sie der Meinung sind, daß sich die Frau, die ihn schrieb, mit Selbstmordabsichten trug.» Oberst Julyan nahm seine Brille heraus, setzte sie umständlich auf und las den Zettel. Dann gab er ihn Favell zurück. «Nein», sagte er, «der äußere Anschein spricht dagegen. Aber ich weiß nicht, wovon darin die Rede ist. Vielleicht können Sie es mir sagen. Oder vielleicht Mr. de Winter?» Maxim antwortete nicht. Favell rollte das Stück Papier um seinen Finger und sah Oberst Julyan überlegen an. «Meine Cousine hat doch wohl eine ganz unmißverständliche Verabredung mit mir treffen wollen», sagte er. «Sie hat mich ausdrücklich gebeten, möglichst noch am selben Abend nach Manderley zu kommen, weil sie mir etwas Wichtiges mitzuteilen hatte. Worum es sich gehandelt hat, werden wir wahrscheinlich nie erfahren, aber das ist jetzt auch unwesentlich. Sie bat mich um meinen Besuch und wollte die Nacht im Bootshaus verbringen, ausdrücklich zu dem Zweck, mich allein zu sprechen. Daß sie abends noch hinaussegelte, hat mich nicht weiter überrascht. Das war so ihre Gewohnheit nach einem heißen Tag in London. Aber das Boot anzubohren und sich vorsätzlich in den Grund zu segeln - das mag irgendein hysterisches Weib im Affekt tun, aber sie - o nein, Oberst, sie doch nicht.» Das Blut war ihm ins Gesicht gestiegen, und die letzten Worte schrie er fast. Sein Benehmen sprach nicht eben für ihn, und Oberst Julyans zusammengepreßte Lippen verrieten mir, daß Favell sein Mißfallen erregt hatte. «Mein lieber Mr. Favell», sagte er. «Es hat gar keinen Zweck, mich anzuschreien. Ich bin weder der Vorsitzende, der heute nachmittag die Verhandlung leitete, noch einer der Geschworenen, die den Urteilsspruch fällten. Ich bin nur der Polizeirichter von Kerrith. Selbstverständlich will ich Ihnen helfen, genau wie Mr. de Winter. Sie sagen also, Sie glauben nicht an den Selbstmord Ihrer Cousine. Andererseits haben Sie ebenso wie wir die Aussage des Bootsbauers gehört. Die Flutventile waren offen, der Bootsrumpf war angebohrt. Das steht fest. Wie ist denn Ihrer Ansicht nach der Unglücksfall zu erklären?» Favell drehte sich zu Maxim um. Er spielte immer noch mit dem Zettel in seiner Hand. «Rebecca hat nie im Leben die Flutventile geöffnet und auch nicht die Löcher in die Planken geschlagen. Rebecca hat nicht Selbstmord begangen. Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt, und Sie sollen sie bei Gott jetzt auch hören: Rebecca ist ermordet worden. Und wenn Sie jetzt auch wissen wollen, wer der Mörder ist - da steht er, dort am Fenster, mit seinem gottverfluchten hochmütigen Gesicht. Er hatte nicht einmal den Anstand, ein Jahr zu warten, bevor er das erste beste Mädchen heiratete, das ihm unter die Augen kam. Da steht er, ihr Mörder, Mr. Maximilian de Winter! Sehen Sie sich ihn genau an. Er wird sich gut ausnehmen am Galgen, wie?» Und Favell brach in Lachen aus, in das gellende, krampfhafte und blöde Lachen eines Betrunkenen, und nicht einen Augenblick hörten seine Finger auf, mit Rebeccas Zettel zu spielen. 24 Dem Himmel sei Dank, daß Favell lachte. Dem Himmel sei Dank für seinen anklagend erhobenen Finger, sein gerötetes Gesicht und seine verglasten, blutunterlaufenen Augen. Dem Himmel sei Dank für seine schwankende, schlappe Haltung. Denn dadurch stimmte er Oberst Julyan mißtrauisch und feindlich und machte ihn zu unserem Verbündeten. Ich sah den Widerwillen in Oberst July-ans Gesicht, den verächtlichen Zug um seine Lippen. Oberst Julyan glaubte Favell nicht. Oberst Julyan hielt zu Maxim. «Der Kerl ist ja betrunken», sagte er ruhig. «Er weiß ja nicht, was er sagt.» «Betrunken soll ich sein?» schrie Favell. «Nein, nein, mein sauberer Freund, Sie mögen Polizeirichter sein und meinetwegen auch noch Oberst dazu, aber bei mir können Sie damit keinen Blumentopf gewinnen. Diesmal habe ich zur Abwechslung das Recht auf meiner Seite, und ich werde auch auf meinem Recht bestehen! Sie sind ja nicht der einzige Polizeirichter in dieser finsteren Provinz. Es gibt noch andere, Männer, die etwas im Gehirnkasten haben und wissen, was Gerechtigkeit ist. Keine Spielzeugsoldaten, die schon vor Jahren wegen Unfähigkeit den Dienst quittieren mußten und jetzt ihre Blechorden spazieren führen. Max de Winter hat Rebecca ermordet, und ich werde den Beweis dafür erbringen.» «Einen Augenblick, Mr. Favell», sagte Oberst Julyan völlig gelassen. «Sie waren doch heute nachmittag bei der Verhandlung, nicht wahr? Ich erinnere mich sogar, Sie dort gesehen zu haben. Wenn die Ungerechtigkeit Sie so tief berührt, warum sagten Sie es dann nicht gleich den Geschworenen oder dem Vorsitzenden selbst? Warum legten Sie den Zettel da nicht dem Gericht vor?» Favell starrte ihn nur an und lachte wieder. «Warum?» sagte er. «Weil es mir nicht in den Kram paßte, deshalb. Ich zog es vor, Max de Winter höchst persönlich auf den Zahn zu fühlen.» «Deswegen rief ich Sie auch an», sagte Maxim und trat vom Fenster weg ins Zimmer. «Favell hat seine Anklagen vorhin schon einmal zum besten gegeben, und ich stellte ihm dieselbe Frage wie Sie. Er antwortete mir, er sei nicht reich, und wenn ich ihm eine Lebensrente von jährlich zwei- bis dreitausend Pfund aussetzte, würde er mich nicht wieder behelligen. Frank war dabei und meine Frau auch. Beide haben es gehört. Sie können sie fragen.» «Ja, das stimmt, Sir», sagte Frank. «Ein ganz klarer, sauberer Fall von Erpressung.» «Zweifellos», bemerkte Oberst Julyan. «Nur ist Erpressung niemals ein klarer, sauberer Fall. Es kann zu endlosen Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten führen, selbst wenn der Erpresser schließlich im Gefängnis landet. Es kommt vor, daß auch Unschuldige Bekanntschaft mit dem Gefängnis machen müssen, und das wollen wir doch vermeiden, nicht wahr? Ich weiß nicht, ob Sie nüchtern genug sind, Favell, um meine Fragen beantworten zu können; und wenn Sie Ihr unsachliches Geschimpfe unterlassen würden, dann kämen wir bestimmt rascher zum Ziel. Sie haben soeben eine sehr schwerwiegende Beschuldigung gegen Mr. de Winter vorgebracht. Können Sie diese durch einen Beweis erhärten?» «Beweis? Was, zum Teufel, brauchen Sie noch Beweise? Sind Ihnen die Löcher im Boot nicht Beweis genug?» «Allerdings nicht», erwiderte Oberst Julyan, «falls Sie nicht einen Augenzeugen nennen können. Haben Sie einen solchen?» «Ich pfeife auf Ihre Augenzeugen», rief Favell. «Natürlich hat de Winter es getan. Wer sonst sollte denn ein Interesse daran gehabt haben, Rebecca zu ermorden?» «Kerrith hat eine ziemlich große Einwohnerzahl», entgegnete Oberst Julyan. «Warum nicht von Tür zu Tür gehen und Erkundigungen einziehen? Ich könnte ja auch als Täter in Frage kommen, denn Sie haben offenbar gegen de Winter keine schlüssigeren Beweise als gegen mich.» «Aha, ich verstehe», sagte Favell. «Sie wollen ihm also die Stange halten. Sie wollen ihn schön bei der Hand halten, damit ihm nur ja nichts zustößt. Sie wollen nicht die Wahrheit hören, weil Sie an seinem Tisch gesessen haben und er an Ihrem. Er ist der große Mann hier, er, der Besitzer von Manderley. Sie erbärmlicher, kleiner Snob!» «Hüten Sie Ihre Zunge, Favell!» «Sie glauben, Sie können mit mir machen, was Sie wollen, was? Sie glauben wohl, ein Gericht würde mich abweisen? Ich werde schon genügend Beweise beibringen. Lassen Sie sich's gesagt sein, de Winter hat Rebecca getötet, weil er wußte, daß wir ein Verhältnis hatten und weil er wahnsinnig eifersüchtig war. Er wußte, daß sie in jener Nacht im Bootshaus auf mich wartete, und deshalb ist er hingegangen und hat sie getötet. Und dann hat er die Leiche in die Kajüte gelegt und das Boot zum Sinken gebracht.» «Klingt gar nicht dumm, Ihre Geschichte, Favell, aber ich wiederhole, Sie haben keine Beweise. Bringen Sie einen Augenzeugen herbei, dann werde ich anfangen, Sie ernst zu nehmen. Ich kenne das Bootshaus dort am Strand. Eine Art Sommerhäuschen, nicht wahr? Mrs. de Winter pflegte wohl ihre Bootssachen darin aufzubewahren. Ihre Geschichte würde viel gewinnen, wenn fünfzig gleiche Häuser in einer Reihe dort stünden. Dann gäbe es immerhin die Möglichkeit, daß einer von den Bewohnern gesehen hätte, was Sie uns da erzählen.» «Einen Augenblick», sagte Favell langsam, «einen Augenblick ... vielleicht ist de Winter in jener Nacht tatsächlich von jemandem beobachtet worden. Das müßte man doch feststellen können. Was würden Sie denn dazu sagen, wenn ich Ihnen Ihren Augenzeugen doch noch anbrächte?» Oberst Julyan zuckte die Achseln. Ich sah Frank Maxim einen fragenden Blick zuwerfen. Maxim betrachtete Favell gleichmütig und schwieg. Plötzlich wußte ich, wen Favell meinte, worauf er anspielte. Und ein heißer Schreck durchfuhr mich, als ich mir klarmachte, daß er recht haben konnte. Es hatte in jener Nacht einen Augenzeugen gegeben. Abgerissene Sätze fielen mir wieder ein, Worte, die ich nicht verstanden, die ich für das wirre Gestammel eines unglücklichen Blöden gehalten hatte. «Die ist doch auch da unten, nicht wahr? Die kommt doch nicht wieder? - Ich hab niemand nichts gesagt. - Sie haben sie doch nicht gefunden? - Die Fische haben sie doch gefressen, nicht? - Die kommt nicht wieder.» Ben wußte. Ben hatte alles gesehen. Ben mit seinem kranken, verschrobenen Gehirn war Augenzeuge der Tat gewesen. Er hatte sich in jener Nacht im Wald herumgetrieben und Maxim in dem Boot hinausfahren und allein in der Jolle zurückrudern sehen. Ich fühlte, wie mir das Blut aus den Wangen wich, und ließ mich kraftlos in die Kissen zurücksinken. «Hier gibt es eine Art Dorfidioten», sagte Favell, «der sich meistens am Strand aufhält. Er lungerte immer da herum, wenn ich Rebecca besuchen kam. Ich habe ihn oft gesehen. In warmen Nächten schlief er im Wald oder am Strand. Der Bursche ist nicht ganz richtig im Kopf und würde sich von selbst nie melden, aber ich könnte ihn schon zum Reden bringen, wenn er wirklich was gesehen hat. Und es besteht eine dicke Chance, daß er etwas gesehen hat!» «Wer ist denn das? Wen meint er denn?» fragte Oberst Julyan. «Wahrscheinlich Ben», sagte Frank mit einem neuerlichen Blick zu Maxim. «Er ist der Sohn von einem unserer Pächter. Aber der Bursche ist nicht zurechnungsfähig; er ist von Kind an ein Idiot gewesen.» «Was tut denn das zur Sache?» rief Favell. «Er hat doch Augen; er weiß doch, was er sieht. Er braucht ja nur ja oder nein zu sagen. Sie bekommen wohl schon kalte Füße? Nicht mehr ganz so selbstsicher, wie?» «Können wir diesen Burschen kommen lassen, um ihn auszufragen?» fragte Oberst Julyan. «Aber selbstverständlich», sagte Maxim. «Frank, sage Robert, er soll mal schnell zu Bens Mutter rüberspringen und ihn herholen.» Frank zögerte. Er sah mich wie ratsuchend an. «Los, geh schon», sagte Maxim. «Wir wollen doch diese Sache nicht endlos hinziehen.» Frank verließ das Zimmer. Ich begann wieder den alten, stechenden Schmerz zu fühlen. Nach ein paar Minuten kam Frank zurück. «Ich habe Robert meinen Wagen nehmen lassen», sagte er. «Wenn er Ben zu Hause antrifft, kann er in zehn Minuten mit ihm hier sein.» «Bei dem Regen wird er sich schon schön zu Hause halten», sagte Favell. «Und ich glaube, Sie werden erstaunt sein, was ich alles aus ihm herausholen kann.» Er lachte und sah Maxim an. Sein Gesicht war noch immer hochrot, und er schwitzte vor Aufregung; auf seiner Stirn standen kleine Schweißtropfen. Es fiel mir jetzt auf, wie sein Nak-ken über den Kragenrand quoll und wie tief die Ohren an seinem Kopf saßen. Mit seinem blühenden, guten Aussehen würde es wohl bald vorbei sein. Er war jetzt schon schlaff und dick geworden. Wieder nahm er sich eine Zigarette. «Ihr bildet hier auf Manderley eine richtige kleine Gewerkschaft, wie?» sagte er. «Alle steckt ihr unter einer Decke. Selbst die hohe Beamtenschaft zieht am selben Strang. Die junge Frau ist natürlich entschuldigt; eine Frau darf ja sowieso nicht gegen ihren Mann aussagen. Und bei Crawley ist es ja eigentlich verständlich. Er würde sich wohl ziemlich schnell nach einer neuen Stelle umsehen müssen, wenn er mit der Wahrheit rausrückte. Und ich irre mich wohl kaum in der Annahme, daß da auch ein Quentchen Rachsucht mitspricht. Wie war das eigentlich, Craw-ley? Sehr viel Erfolg hatten Sie wohl nicht bei Rebecca, wie? Mit einem Mondscheinspaziergang war es bei Rebecca nicht getan. Diesmal haben Sie es leichter, was? Die junge Frau wird gewiß mit Vergnügen in Ihre brüderlichen Arme sinken, wenn sie wieder ohnmächtig wird. Zum Beispiel, wenn sie den Richter das Todesurteil über ihren Mann aussprechen hört, dann dürfte Ihr starker Arm sehr gelegen kommen.» Was sich dann ereignete, spielte sich zu rasch ab, als daß ich mit den Augen hätte folgen können. Ich sah Favell stolpern und gegen das Sofa fallen und dann auf den Boden gleiten. Maxim stand neben ihm. Mir war übel. Es lag etwas Erniedrigendes darin, daß Maxim Favell geschlagen hatte. Ich wünschte, ich hätte es ungeschehen machen können. Oder es nicht mit ansehen müssen. Oberst Julyan sagte nichts und sah nur sehr verbissen drein. Er wandte den beiden den Rücken zu und kam zu mir herüber. «Wollen Sie nicht lieber nach oben gehen?» fragte er. Ich schüttelte den Kopf. «Nein», flüsterte ich, «nein.» «Dieser Favell ist in einem Zustand, in dem er zu allem fähig ist», sagte er. «Was Sie eben gesehen haben, war ja nicht gerade ein erfreulicher Anblick. Ihr Mann hatte natürlich völlig recht; aber es tut mir doch leid, daß es in Ihrer Gegenwart geschah.» Ich antwortete nicht. Ich beobachtete Favell, der sich langsam erhob. Er ließ sich schwer auf das Sofa fallen und fuhr sich mit dem Taschentuch übers Gesicht. «Hol mir jemand einen Whisky», sagte er. Maxim gab Frank einen Wink. Frank ging aus dem Zimmer. Keiner von uns sprach. Gleich darauf kam Frank zurück, eine Flasche Whisky und den Siphon auf einem Tablett. Er mischte Favell einen Drink. Favell trank gierig wie ein Tier. Es wirkte irgendwie sinnlich und abstoßend, wie er seinen Mund an das Glas setzte. Seine Lippen schoben sich auf eine merkwürdige Weise über den Glasrand. Auf seiner Wange trat ein dunkelroter Fleck hervor, wo Maxim ihn getroffen hatte. Maxim stand wieder am Fenster. Mein Blick fiel auf Oberst Julyan, und ich sah, daß er Maxim mit einem eigentümlich forschenden Ausdruck betrachtete. Mein Herz begann plötzlich zu rasen. Warum sah der Oberst Maxim so an? Konnte es bedeuten, daß er zu zweifeln begann und mißtrauisch wurde? Maxim merkte es nicht, denn er sah in den Regen hinaus, der mit unverminderter Heftigkeit herunterströmte. Das Rauschen weckte ein Echo im Zimmer. Favell trank seinen Whisky aus und stellte dann das Glas auf den Tisch. Er atmete schwer. Er sah keinen von uns an, sondern starrte vor sich auf den Fußboden. Im Nebenraum läutete das Telephon; der Ton schrillte disharmonisch in die Stille hinein. Frank ging, um zu antworten. Er kam gleich wieder und sah Oberst Julyan an. «Es ist Ihre Tochter», sagte er. «Sie fragt, ob mit dem Essen auf Sie gewartet werden soll.» Oberst Julyan machte eine ungeduldige Handbewegung. «Nein, sagen Sie ihr bitte, sie sollen schon anfangen. Ich wüßte noch nicht genau, wann ich zurückkäme.» Er warf einen Blick auf seine Uhr. «Komisch, hier anzurufen», murmelte er vor sich hin, «ausgerechnet in diesem Augenblick.» Frank ging zum Telephon zurück, um die Bestellung auszurichten. Ich dachte an die Tochter am anderen Ende der Leitung. Der kleine Haushalt war unseretwegen durcheinandergekommen. Ihre abendlichen Gewohnheiten waren aus dem Gleis gebracht worden. All diese kleinen Nichtigkeiten waren nur eine Folge davon, daß Maxim Rebecca getötet hatte. Ich sah Frank an. Sein Gesicht war blaß und ernst. «Ich hörte eben Robert mit dem Wagen zurückkommen», sagte er zu Oberst Julyan. «Das Fenster dort drüben geht auf die Anfahrt hinaus.» Er ging in die Halle hinaus. Favell hatte bei seinen Worten den Kopf gehoben, stand dann auf und blickte gespannt zur Tür. Ein böses Lächeln verzerrte sein Gesicht. Die Tür öffnete sich, und Frank kam herein. Er sprach über seine Schulter zu jemand draußen in der Halle. «Du brauchst keine Angst zu haben, Ben», sagte er, «Mr. de Winter will dir nur ein paar Zigaretten geben. Du brauchst dich nicht zu fürchten.» Ben kam linkisch ins Zimmer geschlurft. Seinen Südwester hielt er in der Hand. Ohne Kopfbedeckung sah er merkwürdig nackt aus. Ich sah jetzt zum erstenmal, daß sein ganzer Schädel rasiert war und er überhaupt kein Haar auf dem Kopf hatte, was ihm ein völlig anderes, abstoßendes Aussehen gab. Das Licht blendete ihn, und er blinzelte blöde mit seinen kleinen Augen ins Zimmer. Ich lächelte ihm unsicher zu, aber ich wußte nicht, ob er mich erkannte. Er blinzelte nur. Dann trat Favell langsam auf ihn zu und pflanzte sich vor ihm auf. «Hallo», sagte er, «wie ist's dir denn ergangen, seit wir uns nicht mehr gesehen haben?» Ben starrte ihn an, ohne zu antworten. Sein Gesicht drückte kein Erkennen aus. «Na?» sagte Favell. «Du weißt doch, wer ich bin, was?» Ben zerknüllte seinen Südwester. «Heh?» sagte er. «Wie ist es denn mit einer Zigarette?» sagte Favell und hielt ihm die Schachtel hin. Ben blickte zögernd zu Maxim hinüber. «Nur zu», sagte Maxim, «nimm, soviel du willst.» Ben nahm vier heraus und steckte sich zwei hinter jedes Ohr. Dann drehte er wieder seinen Südwester in den Händen. «Du weißt doch, wer ich bin?» wiederholte Favell. Ben antwortete wieder nicht. Oberst Julyan gesellte sich jetzt zu den beiden. «Du darfst gleich wieder nach Hause gehen, Ben», sagte er. «Niemand wird dir etwas zuleide tun. Wir möchten dir nur ein paar Fragen stellen. Du kennst doch Mr. Favell, nicht?» Diesmal schüttelte Ben den Kopf. «Nie gesehen», sagte er. «Stell dich doch nicht so dämlich an», sagte Favell grob. «Du weißt ganz genau, daß du mich kennst. Du hast mich oft genug zum Bootshaus am Strand gehen sehen, zu Mrs. de Winters Bootshaus. Dort haben wir uns doch oft gesehen, nicht?» «Nein», sagte Ben. «Ich habe nie jemand dort gesehen.» «Du dreckiger, blöder Lügner», sagte Favell aufgebracht. «Du stehst da und willst mir ins Gesicht behaupten, du hättest mich nie gesehen, voriges Jahr, dort unten im Wald, mit Mrs. de Winter, am Bootshaus? Haben wir dich nicht sogar einmal erwischt, wie du durchs Fenster zu uns hereingucken wolltest?» «Heh?» sagte Ben. «Das ist ja ein wahrer Kronzeuge», bemerkte Oberst Julyan sarkastisch. Favell fuhr herum. «Ihr treibt ein abgekartetes Spiel», rief er. «Einer von euch hat sich diesen Idioten vorgeknöpft und ihn auch bestochen. Ich schwör's Ihnen, Oberst, er hat mich dutzendmal gesehen. Hier, vielleicht hilft das deiner Erinnerung nach?» Er griff wieder nach seiner Brieftasche und zog eine Pfundnote heraus, mit der er vor Bens Nase herumfuchtelte. «Jetzt kannst du dich vielleicht besser erinnern?» Ben schüttelte den Kopf. «Den hab ich nie gesehen», sagte er, und dann packte er Frank am Arm. «Ist er hier, um mich in die Anstalt mitzunehmen?» fragte er ängstlich. «Aber nein», sagte Frank, «ganz bestimmt nicht, Ben.» «Ich will nicht in die Anstalt», sagte Ben. «Die sind da schlechte Menschen. Ich will zu Hause bleiben. Ich hab nichts getan.» «Ja, ja, Ben, keine Sorge, niemand steckt dich in eine Anstalt», sagte der Oberst. «Weißt du ganz genau, daß du ihn noch nie gesehen hast?» «Nein» sagte Ben. «Ich hab ihn nie nicht gesehen.» «Aber an Mrs. de Winter erinnerst du dich doch, nicht wahr?» fragte ihn der Oberst. Ben blickte zögernd zu mir herüber. «Nein», sagte Oberst Julyan sanft. «Nicht diese Dame. Die andere, die immer im Bootshaus war.» «Heh?» «Du mußt dich doch noch an die Dame mit dem Segelboot erinnern!» Ben blinzelte ihn an. «Die ist fort», sagte er. «Ja, das wissen wir», sagte Oberst Julyan. «Sie segelte doch immer in ihrem Boot in die Bucht hinaus, nicht wahr? Warst du damals unten am Strand, als sie zum letztenmal hinaussegelte? An einem Abend vor ungefähr einem Jahr, als sie nicht mehr zurückkehrte?» Ben wand sich vor Verlegenheit. Er sah erst Frank und dann Maxim hilfesuchend an. «Heh?» sagte er. «Du warst doch da, nicht wahr?» sagte Favell und beugte sich zu ihm hinunter. «Du sahst Mrs. de Winter zum Bootshaus gehen, und gleich darauf hast du auch Mr. de Winter gesehen. Er ging hinter ihr ins Bootshaus. Und was geschah dann? Los, was hast du dann noch gesehen?» Ben wich erschrocken zurück. «Ich habe nichts gesehen», sagte er. «Ich will zu Hause bleiben. Ich gehe nicht in die Anstalt. Ich habe Sie nie gesehen, ich hab Sie und niemand nie im Wald gesehen.» Er fing wie ein kleines Kind zu heulen an. «Du dreckiger, kleiner Kretin», sagte Favell heiser vor Wut. «Du verfluchter Kretin!» Ben wischte sich die Augen mit seinem Ärmel. «Ihr Zeuge hat Sie auch nicht weitergebracht», sagte Oberst Julyan. «Ihre kleine Vorstellung ist nur Zeitver-schwendung gewesen. Oder wollen Sie ihm vielleicht noch mehr Fragen stellen?» «Es ist ein abgekartetes Spiel», rief Favell. «Ihr habt euch gegen mich verschworen, alle, wie ihr da seid. Jemand muß diesen Blödian bestochen haben, damit er mir mit diesem Lügengefasel kommt.» «Ich glaube, Ben kann jetzt nach Hause gehen», meinte Oberst Julyan. «Ja, lauf nur, Ben», sagte Maxim. «Robert soll dich nach Hause fahren. Und hab keine Angst, niemand wird dich in eine Anstalt stecken. Sag Robert, er soll ihm in der Küche etwas zu essen geben», fügte er, zu Frank gewandt, hinzu. «Etwas kaltes Fleisch oder worauf er gerade Lust hat.» «Lohn für treue Dienste, wie?» sagte Favell. «Für heute hat er sich dir sehr nützlich erwiesen, nicht wahr, Max?» Frank brachte Ben aus dem Zimmer. Oberst Julyan sagte zu Maxim: «Der arme Kerl schien ja halbtot vor Angst zu sein. Er zitterte wie Espenlaub. Ist er irgendwann mal schlecht behandelt worden?» «Nein», erwiderte Maxim. «Er ist völlig harmlos, deshalb lasse ich ihn auch überall ungehindert herumlaufen.» «Er muß aber doch einmal von irgendwem sehr eingeschüchtert worden sein», sagte Oberst Julyan. «Er verdrehte die Augen genau wie ein Hund, der Prügel erwartet.» «Hätten Sie ihn doch ruhig verprügelt», sagte Favell, «dann hätte er sich schon an mich erinnert; aber nein, Ben wird nicht geprügelt, Ben bekommt ein gutes Abendessen, weil er so brav gewesen ist.» «Ja, Ihnen hat er nicht viel geholfen», bemerkte Oberst Julyan ruhig. «Wir sind nicht einen Schritt weitergekommen. Sie können auch nicht die Spur eines Beweises gegen de Winter vorbringen, und das wissen Sie. Schon der Beweggrund zur Tat, den Sie angeben, ist nicht stichhal-tig. Vor einem ordentlichen Gericht würden Sie sich nur hoffnungslos lächerlich machen, Favell. Sie behaupten, Mrs. de Winter hätte Sie heiraten wollen, Sie hätten heimlich unerlaubte Beziehungen zu ihr unterhalten und seien mit ihr im Bootshaus zusammengetroffen. Aber selbst der arme Teufel eben schwört darauf, Sie nie gesehen zu haben. Sie können ja nicht einmal glaubhaft machen, daß auch nur der Teil Ihrer Geschichte stimmt.» «So, das kann ich nicht?» sagte Favell. Er lächelte wieder, ging zum Kamin hinüber und läutete. «Was wollen Sie jetzt tun?» fragte Oberst Julyan. «Warten Sie nur ab», sagte Favell. Ich ahnte schon, was er vorhatte. Frith kam auf das Klingeln herein. «Bitten Sie Mrs. Danvers, hierher zu kommen», sagte Favell. Frith blickte fragend auf Maxim, der ihm kurz zunickte. «Ist Mrs. Danvers nicht die Haushälterin?» fragte Oberst Julyan, nachdem Frith aus dem Zimmer gegangen war. «Jawohl, aber sie war auch Rebeccas Vertraute», sagte Favell. «Sie ist schon bei ihr gewesen, als Rebecca noch ein Kind war, und hat sie mehr oder weniger aufgezogen. Bei Danny werden Sie es mit einem ganz anderen Zeugen zu tun haben als bei Ben.» Frank trat wieder ins Zimmer. «Den lieben Ben gut ins Bettchen gepackt?» sagte Favell. «Ihm schön zu essen gegeben und ihm den Kopf gestreichelt, weil er ein so artiges Kind war? Diesmal wird euer Gewerkschaftsverein es nicht ganz so leicht haben.» «Mrs. Danvers wird gleich hier sein», sagte Oberst July-an erklärend zu Frank. «Favell glaubt, aus ihr mehr herausholen zu können.» Frank warf einen schnellen Blick auf Maxim. Oberst Julyan bemerkte es, und ich sah, wie er die Lippen zusammenpreßte. Das gefiel mir nicht. Nein, das wollte mir gar nicht gefallen. Ich fing an, wieder an meinen Nägeln zu kauen. Wir blickten alle gespannt zur Tür, als Mrs. Danvers eintrat. Vielleicht lag es daran, daß ich sie fast immer nur allein gesehen hatte: neben mir war sie mir immer so groß und hager vorgekommen, aber jetzt erschien sie mir zusammengeschrumpft und geradezu winzig gegen Maxim und Favell und Frank, zu denen sie aufblicken mußte. Sie blieb an der Tür stehen, ihre Hände vor sich gefaltet, und sah von einem zum anderen. «Guten Abend, Mrs. Danvers», sagte Oberst Julyan. «Guten Abend, Sir.» Es war wieder die alte, tote, mechanische Stimme, die ich so oft gehört hatte. «Zunächst möchte ich eine Frage an Sie richten, Mrs. Danvers», sagte Oberst Julyan, «und zwar folgende: Waren Sie von den Beziehungen zwischen Ihrer verstorbenen Herrin und Mr. Favell unterrichtet?» «Ja, sie waren Vetter und Cousine.» «Ich meinte nicht den Verwandtschaftsgrad, Mrs. Danvers», sagte Oberst Julyan, «ich meinte noch intimere Beziehungen.» «Ich fürchte, ich habe Sie nicht verstanden, Sir», sagte Mrs. Danvers. «Ach, laß das Theater, Danny», fiel Favell ein. «Du weißt ganz genau, worauf der Oberst hinaus will. Ich hab's ihm zwar schon selber gesagt, aber mir will er nicht glauben. Rebecca und ich haben doch jahrelang ein Verhältnis gehabt. Sie hat mich doch geliebt, nicht wahr?» Zu meinem Erstaunen betrachtete Mrs. Danvers ihn einen Augenblick schweigend mit einem verächtlichen Ausdruck im Gesicht. «Das hat sie nicht», sagte sie. «Also hör mal zu, du alte Närrin ...» brauste Favell auf, aber Mrs. Danvers fiel ihm ins Wort. «Rebecca hat weder Sie noch Mr. de Winter geliebt. Sie hat überhaupt niemanden geliebt. Sie verachtete die Männer. Über so etwas war sie erhaben.» Favell errötete vor Zorn. «Also hör mal her, Danny. Ist sie mir etwa nicht Nacht für Nacht durch den Wald entgegengekommen? Bist du nicht bis zum frühen Morgen für sie aufgeblieben? Hat sie nicht in London mit mir zusammengelebt?» «Na und?» brach Mrs. Danvers plötzlich aus. «Hatte sie etwa nicht das Recht, sich zu amüsieren? Die Liebe war für sie nur ein Sport, weiter nichts; das hat sie selbst gesagt. Sie hat es nur getan, weil sie darüber lachen konnte. Jawohl, gelacht hat sie darüber, und über Sie nicht weniger als über alle anderen. Ich habe es oft erlebt, daß sie nach Hause kam und sich aufs Bett warf und sich vor Lachen schüttelte über euch Männer.» Es war etwas Grauenhaftes, dieser plötzlich entfesselte Wortstrom, scheußlich und völlig unerwartet. Obgleich ich es gewußt hatte, widerte es mich an, es aus Mrs. Danvers' Mund zu hören. Maxim war leichenblaß geworden. Favell starrte sie mit offenem Mund an, als könnte er seinen Ohren nicht trauen. Oberst Julyan zupfte nervös an seinem kleinen Schnurrbart. Minutenlang sprach niemand ein Wort. Nur das ewige Rauschen des Regens war zu hören. Und dann fing Mrs. Danvers an zu weinen. Sie weinte genau wie damals oben in Rebeccas Schlafzimmer. Ich konnte es nicht mit ansehen, ich mußte mich abwenden. Niemand rührte sich. Zu dem Rauschen des Regens gesellte sich jetzt noch der Laut ihres trockenen Schluchzens. Ich hätte schreien mögen, aus dem Zimmer laufen und schreien und schreien. Keiner von uns machte Anstalten, auf sie zuzugehen und ihr gut zuzusprechen. Endlich - die Zeit war mir wie eine Ewigkeit erschienen - gewann sie ihre Beherrschung wieder, und das Weinen ebbte allmählich ab. Sie stand ganz still; ihre Lippen zuckten, und ihre Hände verkrampften sich in ihrem schwarzen Kleid. Endlich hatte sie sich wieder beruhigt. Da sagte Oberst Julyan ganz leise: «Mrs. Danvers, können Sie irgendeinen Grund angeben, irgendeinen noch so entfernten Grund, warum Ihre Herrin sich das Leben genommen haben könnte?» Mrs. Danvers schluckte und schüttelte den Kopf. «Nein», sagte sie, «nein». «Sehen Sie?» sagte Favell triumphierend, «es ist völlig ausgeschlossen. Danny weiß das so gut wie ich.» «Seien Sie gefälligst ruhig, ja?» sagte Oberst Julyan. «Lassen Sie Mrs. Danvers Zeit zum Überlegen. Wir wissen alle, daß kein uns bekannter Anlaß vorgelegen hat und daß ihr Selbstmord völlig unverständlich erscheint. Ich bezweifle auch die Echtheit dieses Zettels, den Sie mir zeigten, durchaus nicht. Das ist ja ganz offensichtlich: sie hat Ihnen geschrieben, als sie in London war, weil sie Ihnen etwas mitzuteilen hatte. Es ist durchaus möglich, daß eben dieses Etwas den Schlüssel zu der Tragödie darstellt. Geben Sie Mrs. Danvers einmal den Zettel; vielleicht kann sie Licht auf dieses Problem werfen.» Favell zuckte die Achseln; er kramte in seiner Tasche nach dem Papier und warf es dann Mrs. Danvers vor die Füße. Sie bückte sich und hob es auf. Ihre Lippen bewegten sich beim Lesen; sie las es zweimal durch. Dann schüttelte sie den Kopf. «Nein», sagte sie, «das macht mich auch nicht klüger. Wenn sie Mr. Favell wirklich etwas Wichtiges mitzuteilen gehabt hätte, dann wäre sie bestimmt zuerst damit zu mir gekommen.» «Sie haben sie an jenem Abend nicht mehr gesehen?» «Nein, ich war nachmittags und abends in Kerrith. Ich werde mir das nie verzeihen, mein Lebtag nicht.» «Dann können Sie aber auch nicht wissen, in welchem Zustand sie sich an dem Tag befunden hat. Haben Sie denn gar keine Vermutung? Dies ; ihm wollte sie es also auch sagen.» «Das stimmt», sagte Favell. «Den Zettel haben wir ja ganz vergessen.» Er zog ihn wieder aus der Tasche hervor und las laut: «.» «Ja, das ist ja jetzt ganz klar», sagte Oberst Julyan zu Maxim. «Da könnte ich tausend Pfund drauf wetten, daß sie Favell das Ergebnis ihres Besuches bei Doktor Baker mitteilen wollte.» «Wahrhaftig, ich glaube, Sie haben endlich einmal den Nagel auf den Kopf getroffen», sagte Favell. «Dieser Baker und der Zettel scheinen irgendwie in Zusammenhang zu stehen. Aber wie, das möchte ich gern wissen. Was kann denn nur mit ihr los gewesen sein?» Die Wahrheit schrie ihnen geradezu ins Gesicht, aber sie hörten sie nicht. Sie standen dort und starrten einander ratlos an. Ich wagte nicht, meinen Blick zu heben. Ich wagte nicht, mich zu rühren, aus Angst, meine Bewegungen könnten meine Gefühle verraten. Maxim sagte nichts; er war wieder ans Fenster getreten und sah in den Garten hinaus, der jetzt in dunklem Schweigen lag. Der Regen hatte endlich aufgehört, nur einzelne Tropfen fielen noch von den Blättern und von der Regenrinne über dem Fenster. «Das dürfte ja sehr einfach zu ermitteln sein», sagte Frank. «Wir haben Doktor Bakers Adresse. Ich werde ihm schreiben und ihn fragen, ob er sich noch an Mrs. de Winters Besuch erinnert.» «Ich weiß nicht, ob er darauf antworten würde», meinte Oberst Julyan. «Ärzte unterliegen nämlich der Schweigepflicht; jeder Fall muß vertraulich behandelt werden. Die einzige Möglichkeit, ihn zum Reden zu bringen, wäre, daß Mr. de Winter ihn persönlich aufsucht und ihm die Sachlage auseinandersetzt. Was meinen Sie dazu, de Winter?» Maxim wandte sich um. «Ich bin bereit, alles zu tun, was Sie für richtig halten», sagte er ruhig. «Alles, um Zeit zu gewinnen, wie?» bemerkte Favell. «In vierundzwanzig Stunden läßt sich viel machen - Züge, Schiffe, Flugzeuge, eine reichhaltige Auswahl!» Ich sah den scharfen Blick, den Mrs. Danvers zwischen Favell und Maxim hin und her gehen ließ, und es wurde mir auf einmal klar, daß Mrs. Danvers ja noch nichts von Favells Anschuldigung wußte. Endlich begann ihr ein Licht aufzugehen; ich konnte das an ihrem Gesichtsausdruck erkennen. Erst sprach Zweifel daraus, dann ein Gemisch von Staunen und Haß und schließlich Überzeugung. Wieder verkrampften sich diese Krallenfinger in dem schwarzen Kleid, und sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie fuhr fort, Maxim anzustarren, sie ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Es ist zu spät, dachte ich, sie kann uns nichts mehr anhaben, der Schaden ist schon geschehen. Es macht nichts mehr aus, was sie sagt oder was sie tut. Maxim beachtete sie gar nicht, oder wenigstens ließ er sich nichts anmerken. Er sprach mit Oberst Julyan. «Was schlagen Sie vor?» sagte er. «Soll ich morgen früh nach Barnet fahren? Ich kann ja Doktor Baker telegraphisch von meinem Besuch benachrichtigen.» «Allein wird er nicht fahren», sagte Favell mit einem kurzen Lachen. «Ich habe doch das Recht, darauf zu be-stehen, nicht wahr? Schicken Sie Inspektor Welch mit, und ich habe nichts dagegen.» Wenn Mrs. Danvers doch bloß den Blick von Maxim abwenden wollte. Frank war es jetzt auch aufgefallen. Er beobachtete sie mit ratloser und besorgter Miene. Ich sah, wie er seinen Blick auf den Zettel mit der Adresse warf und dann seine Augen auf Maxim richtete. Ich glaube, in dieser Sekunde begann ihm der wahre Sachverhalt aufzudämmern, denn er wurde plötzlich ganz blaß und legte den Zettel aus der Hand. «Ich finde, es liegt kein Anlaß vor, Inspektor Welch zu bemühen - noch nicht», sagte Oberst Julyan. Seine Stimme klang anders, härter. Ich war beunruhigt über die Art und Weise, wie er das Na, hoffentlich haben Sie das nächstemal mehr Glück!» Er schlenderte durchs Zimmer zur Tür und winkte Maxim zu. «Bis morgen, teuerster Max, angenehme Träume! Laß die Nacht hinter verschlossenen Türen nicht ungenutzt verstreichen!» Er blickte sich über die Schulter lachend nach mir um und ging dann hinaus. Mrs. Danvers folgte ihm. Maxim und ich waren endlich wieder allein. Er blieb am Fenster stehen und kam nicht zu mir. Jasper kam aus der Halle hereingesprungen. Er war den ganzen Abend ausgesperrt gewesen. Er sprang an mir hoch und biß mich spielerisch in den Arm. «Ich werde dich morgen begleiten», sagte ich zu Maxim. «Ich werde die Fahrt nach London mitmachen.» Er antwortete nicht gleich. Er sah weiter aus dem Fenster. «Ja», sagte er dann mit ausdrucksloser Stimme. «Wir müssen wohl jetzt zusammenbleiben.» Frank kam wieder ins Zimmer. Er blieb an der Tür stehen. «Favell und Julyan sind fort», teilte er uns mit. «Ja, gut, Frank», entgegnete Maxim. «Kann ich noch irgend etwas für dich tun?» fragte Frank. «Telegraphieren oder irgendwelche Anordnungen treffen? Ich bleibe gern die ganze Nacht auf, wenn ich dir helfen kann. Das Telegramm an Baker erledigte ich natürlich.» «Mach dir kein unnötiges Kopfzerbrechen», sagte Maxim. «Noch gibt es nichts für dich zu tun, aber übermorgen wirst du vielleicht schon eine ganze Menge Arbeit aufgebürdet bekommen. Darüber können wir uns dann immer noch unterhalten. Du nimmst es uns doch nicht übel, wenn wir heute abend allein sein möchten?» «Aber nein, selbstverständlich nicht.» Er zögerte einen Augenblick. «Gute Nacht!» sagte er dann. «Gute Nacht!» Als er gegangen war, kam Maxim zu mir herüber. Ich streckte ihm die Arme entgegen, und er kam zu mir wie ein Kind. Ich schlang meine Arme um ihn und hielt ihn ganz fest. Lange Zeit sprachen wir kein Wort. Ich hielt ihn und streichelte ihn wie ein Kind, das sich weh getan hat und zu mir geflüchtet war, um sich von mir trösten zu lassen. «Ich will morgen neben dir sitzen», sagte er, «wenn wir nach London fahren.» «Ja», sagte ich. «Julyan wird nichts dagegen haben.» «Nein», sagte ich. «Morgen nacht haben wir auch für uns», sagte er. «Ein Tag verstreicht bestimmt, bevor sie sich völlig sicher sein können.» «Ja», sagte ich. «Heutzutage ist es nicht mehr so streng», sagte er. «Man kann Besuche empfangen, und es wird eine lange Zeit dauern. Ich will versuchen, Hastings zu bekommen. Er ist der Beste. Hastings oder Birkett. Hastings kannte meinen Vater sehr gut.» «Ja», sagte ich. «Ich werde ihm die Wahrheit erzählen müssen», sagte er. «Das erleichtert ihnen die Arbeit. Dann wissen sie, woran sie sind.» «Ja», sagte ich. Die Tür öffnete sich, und Frith trat ins Zimmer. Ich schob Maxim von mir, stand auf und strich mir das Haar zurecht. «Werden Sie sich heute abend noch umziehen, Madam, oder soll ich das Essen gleich anrichten lassen?» «Nein, Frith, wir werden uns heute nicht umziehen.» «Sehr wohl, Madam», sagte er. Er ließ die Tür offen. Robert kam herein und begann aufzuräumen. Er zog die Vorhänge zu, schüttelte die Kissen auf, zog die Sofadecke glatt und ordnete die Bücher und Zeitungen auf dem Tisch. Dann nahm er das Tablett mit dem Whisky und die gefüllten Aschenbecher mit hinaus. Ich hatte ihn diese Handgriffe wie ein Ritual Abend für Abend ausführen sehen, aber jetzt schienen sie mir eine besondere Bedeutsamkeit angenommen zu haben, als sollte sich mir die Erinnerung daran für immer einprägen, damit ich noch viele Jahre später sagen konnte: «Ja, ich erinnere mich genau an diesen Augenblick.» Dann kam Frith wieder und meldete, das Essen sei angerichtet. Ich erinnere mich noch an jede Einzelheit dieses Abends: an die eiskalte Bouillon in Tassen, an die gebratene Scholle und an den zarten Lammrücken. Und ich erinnere mich daran, daß es hinterher Caramelpudding und Roquefort gab. In den silbernen Leuchtern steckten neue Kerzen, schlank und weiß und groß. Auch im Eßzimmer waren die Vorhänge zugezogen worden, um den dunklen Abend auszusperren. Es kam mir merkwürdig vor, hier am Tisch zu sitzen und nicht auf den Rasen hinauszusehen. Es war, als ob damit der Herbst angefangen hätte. Als wir in der Bibliothek beim Kaffee saßen, läutete das Telephon. Diesmal ging ich an den Apparat. Ich hörte Beatrices Stimme: «Bist du das?» sagte sie. «Ich habe euch schon den ganzen Abend zu erreichen versucht. Aber es war immer besetzt.» «Das tut mir leid», sagte ich. «Wir haben gerade die Abendzeitungen gelesen», sagte sie. «Und der Befund hat uns einen mächtigen Schock gegeben. Was sagt denn Maxim dazu?» «Ich glaube, es ist für uns alle ein Schock gewesen.» «Aber, meine Liebe, die ganze Angelegenheit ist ja auch grotesk. Warum sollte ausgerechnet Rebecca Selbstmord be-gangen haben? Sie war bestimmt der letzte Mensch, der das getan hätte. Da scheint mir ein großer Irrtum vorzuliegen.» «Ich weiß nicht», sagte ich. «Was sagt Maxim dazu, wo steckt er denn?» «Wir haben sehr viele Leute hier gehabt, und Maxim ist sehr müde. Morgen früh fahren wir nach London.» «Warum denn das?» «Das kann ich dir am Telephon nicht gut sagen; es hat noch mit der Gerichtsverhandlung zu tun.» «Ihr solltet versuchen, die Presseberichte darüber zu unterdrücken», sagte sie. «Es ist ja einfach lächerlich, wirklich lächerlich. Und es kann Maxim ja doch nur schaden.» «Ja», sagte ich. «Kann Oberst Julyan denn nichts tun? Er ist doch schließlich der Polizeirichter. Wozu ist er denn sonst da? Der alte Horridge ist ja wohl ganz von Gott verlassen gewesen. Was soll denn ihr Beweggrund gewesen sein? Ich hab in meinem Leben noch nie so etwas Idiotisches gehört. Man müßte sich mal diesen Tabb vorknöpfen. Woher will er denn wissen, daß diese Löcher absichtlich gemacht wurden. Giles meint, es wären die Felsen gewesen.» «Das Gericht scheint eben anderer Ansicht zu sein.» «Ich wünschte, ich hätte dabei sein können», sagte sie. «Ich hätte darauf bestanden, gehört zu werden. Ihr scheint euch alle gar keine Mühe gegeben zu haben. Hat es Maxim sehr mitgenommen?» «Er ist vor allem müde, sehr müde.» «Zu schade, daß ich euch nicht morgen nach London begleiten kann, aber es geht einfach nicht. Roger, der arme Kerl, hat hohes Fieber, und die Schwester, die wir haben, ist die reinste Idiotin; er kann sie nicht ausstehen. Ich kann ihn unmöglich allein lassen.» «Natürlich nicht», sagte ich. «Das brauchst du auch wirklich nicht.» «Wo wollt ihr denn hin in London?» «Ich weiß noch nicht recht, es ist alles noch sehr unbestimmt.» «Bestelle nur Maxim von mir, er soll versuchen, den Gerichtsbefund rückgängig zu machen. Er wirft ein so schlechtes Licht auf die Familie. Ich erzähle hier allen Leuten, es sei völliger Blödsinn. Rebecca kann unmöglich Selbstmord begangen haben. Sie war gar nicht der Mensch dazu. Ich hätte große Lust, dem alten Horridge selbst zu schreiben.» «Dazu ist es jetzt doch zu spät», sagte ich. «Laß es lieber sein. Du kannst doch nichts dazu tun.» Maxim rief mich von der Bibliothek: «Kannst du sie nicht loswerden? Was hat sie denn da so ewig zu reden?» «Beatrice», sagte ich verzweifelt, «ich werde versuchen, dich morgen von London aus anzurufen.» «Soll ich mich vielleicht mit Dick Godolphin in Verbindung setzen? Er ist doch euer Parlamentsabgeordneter, und ich kenne ihn sehr gut, viel besser, als Maxim ihn kennt. Er war mit Giles zusammen in Oxford. Frag mal Maxim, ob ich Dick anrufen soll, damit er sich der Sache annimmt.» «Es hat wirklich keinen Sinn», sagte ich. «Bitte, Beatrice, laß die Sache auf sich beruhen. Du würdest es nur schlimmer machen und womöglich Schaden anrichten. Es ist doch möglich, daß Rebecca einen Beweggrund gehabt hat, von dem wir nichts wissen. Bitte, Beatrice, laß lieber die Finger davon.» Gott sei Dank, daß sie heute nicht dabei gewesen war. Das war wenigstens etwas, wofür man Gott danken konn-te! In der Leitung begann es plötzlich zu rauschen und zu surren. Ich hörte Beatrice ganz weit weg: «Hallo, hallo, unterbrechen Sie uns doch nicht!» rufen, und dann knackte es, und die Verbindung war unterbrochen. Völlig erschöpft von dem kurzen Gespräch, ging ich in die Bibliothek zurück. Fast unmittelbar danach läutete es wieder. Ich ließ es klingeln. Ich setzte mich zu Maxims Füßen nieder und rührte mich auch nicht, als das Läuten immer noch nicht aufhören wollte. Plötzlich brach es ab. Die Uhr auf dem Kaminsims schlug zehn. Maxim nahm mich in die Arme, und wir küßten einander fieberhaft, verzweifelt, wie heimlich Liebende, die sich zum erstenmal küssen. 26 Als ich am nächsten Morgen kurz nach sechs aufwachte und ans Fenster trat, sah ich, daß der Tau wie Rauhreif auf dem Rasen lag und daß die Bäume in weißen Nebel gehüllt waren. Es roch nach Frost in der Luft und nach Herbst, und ein kalter Wind blies. Wie ich da am Fenster lehnte und in den Rosengarten hinuntersah, wo die Blumen nach dem heftigen Regen ihre welken braunen Köpfe hängen ließen, kamen mir die Ereignisse des gestrigen Tages auf einmal unwirklich und weit zurückliegend vor. Manderley begann einen neuen Tag, und den Garten berührten unsere Kümmernisse nicht. Eine Amsel lief mit einer hastigen Stakkatobewegung über den Rasen und hackte und zerrte hier und dort mit ihrem gelben Schnabel in der Erde. Auch eine Drossel ging ihrer Morgenbeschäftigung nach, und zwei dicke kleine Bachstelzen jagten einander, und eine Horde Spatzen lärmte in den Bäumen. Eine Möwe ruhte schweigend und einsam auf ausgebreiteten Flügeln hoch oben in der Luft und glitt dann in seitlichem Flug über den Wald in das Glückliche Tal hinab. Das Leben und Treiben draußen nahm seinen Fortgang; unsere Sorgen und Ängste hatten keinen Einfluß darauf. Dieser Frieden auf Manderley! Diese stille Anmut! Wer auch in diesen Mauern lebte, was für Leid und Sorge sie auch beherbergten, was für Schmerzen und Ängste, wieviel Tränen sie auch sehen mochten - nichts konnte diesen Frieden stören, nichts die Anmut trüben. Die Blumen würden immer wieder blühen, die Vögel ihre Nester bauen, die Bäume Knospen treiben. Derselbe Moosgeruch würde der Luft seine Würze verleihen und Bienen und Grillen sie mit ihrem Summen und Singen erfüllen, und die Reiher würden wie immer tief im dunklen Wald horsten. Alljährlich würde der Flieder blühen und der Jasmin, und unter dem Eßzimmerfenster würden die vollen Knospen der weißen Magnolie sich langsam entfalten. Nichts würde Manderley je etwas anhaben können. Eingebettet in seine Rasenflächen, von seinem Wald umgeben, würde es für alle Zeiten hier stehen, ein Märchenschloß, geborgen und unvergänglich, während unten das Meer gegen den Strand brandete und verebbte und wieder heranflutete. Maxim schlief noch, und ich weckte ihn nicht. Der Tag, der vor uns lag, würde lang und anstrengend sein. Die Landstraße und die Telegraphenpfähle, die Eintönigkeit der flachen Landschaft und dann die schwierige Einfahrt nach London. Wir wußten nicht, was uns am Ende der Fahrt erwartete. Die Zukunft lag im Dunkeln. Irgendwo im Norden von London lebte ein Mensch namens Baker, der nie von uns gehört hatte und der doch unser Glück in seiner Hand hielt. Bald würde auch er aufwachen und sich räkelnd und gähnend auf den neuen Tag vorbereiten. Ich ging ins Badezimmer und ließ mir ein Bad ein. Ich hatte wieder bei jedem Schritt und bei jedem Handgriff die gleiche Empfindung von Bedeutsamkeit wie gestern abend, als ich Robert beim Aufräumen zusah. Früher hatte ich dies alles automatisch getan, aber als ich an diesem Morgen den Schwamm ins Wasser warf, das gewärmte Handtuch über den Stuhl hängte und in die Wanne stieg, erlebte ich jede Einzelheit mit vollem Bewußtsein. Jeder Augenblick war etwas Kostbares, weil er das Wesen der Unwiederbringlichkeit in sich barg. Als ich wieder im Schlaf-zimmer war und mich anzuziehen begann, vernahm ich leise Schritte, die vor der Tür anhielten, und dann wurde der Schlüssel sachte umgedreht. Ein paar Sekunden darauf war alles still, und die Schritte entfernten sich wieder. Mrs. Danvers hatte nicht vergessen. Ich hatte dasselbe Geräusch gestern abend gehört, kurz nachdem wir das Schlafzimmer betreten hatten. Sie hatte nicht angeklopft und sich bemerkbar gemacht, nur die leisen Schritte und das Geräusch des Schlüssels waren zu hören gewesen. Es brachte mich in die Wirklichkeit zurück und mahnte mich an meine Pflicht, dem Schicksal mutig die Stirn zu bieten. Als ich mich angekleidet hatte, ließ ich das Bad für Maxim ein. Gleich darauf kam auch Clarice mit dem Tee. Ich weckte Maxim. Er starrte mich zuerst wie ein verschlafenes Kind an, und dann zog er mich an sich. Wir tranken unseren Tee. Und während er badete, fing ich an, meinen kleinen Handkoffer zu packen. Wir mußten ja damit rechnen, längere Zeit in London aufgehalten zu werden. Ich packte die Bürsten, die Maxim mir geschenkt hatte, ein Nachthemd, meinen Morgenrock und die Pantoffeln und auch noch ein zweites Kleid und ein zweites Paar Schuhe ein. Mein kleiner Koffer kam mir ganz fremd vor, als ich ihn aus dem Schrank holte. Es schien mir so lange her zu sein, seit ich ihn zum letztenmal benutzt hatte, und doch waren es nur vier Monate. Das Kreidezeichen der französischen Zollabfertigung war noch deutlich sichtbar. Mein Schlafzimmer fing an, wie alle Zimmer auszusehen, deren Bewohner verreisen wollen. Der Frisiertisch war ohne die Bürsten ganz kahl. Auf dem Boden lag Seidenpapier und ein Kofferschildchen. Die Betten, in denen wir geschlafen hatten, wirkten fremd und verlassen. Im Badezimmer hatten wir die Handtücher achtlos auf den Boden geworfen. Die Wandschränke gähnten mit offenen Türen. Ich setzte mir bereits den Hut auf, um nicht noch einmal nach oben gehen zu müssen, und ergriff Handtasche, Handschuhe und Köfferchen. Ich sah mich noch einmal im Zimmer um, ob ich auch nichts vergessen hätte. Die Sonne brach durch den Nebel und zeichnete Lichtkringel auf den Teppich. Als ich den Korridor entlangging, hatte ich plötzlich ein unerklärliches Gefühl, daß ich noch einmal zurückgehen müsse. Ohne zu überlegen, kehrte ich um und starrte noch einmal auf die leeren Betten, den offenen Schrank und die Teetassen auf dem Nachttisch. Das Bild grub sich mir unauslöschlich für immer ein, und ich fragte mich, warum es mich so bewegte und traurig stimmte, als ob diese leblosen Dinge mich nicht fortgehen lassen wollten. Dann wandte ich mich um und ging zum Frühstück hinunter. Es war kalt im Eßzimmer; die Sonne hatte das Fenster noch nicht erreicht, und ich war dankbar für den heißen, bitteren Kaffee und den würzigen, gebratenen Schinken. Maxim und ich aßen schweigend. Hin und wieder blickte er auf seine Uhr. Ich hörte Robert das Handgepäck hinaustragen und gleich darauf den Wagen vorfahren. Ich trat auf die Terrasse. Der Regen hatte die Luft gereinigt, es roch frisch und süß nach Gras. Sobald die Sonne höher stieg, würden wir einen wunderbaren Tag haben. Ich dachte, daß wir heute vor dem Essen einen Spaziergang ins Glückliche Tal gemacht und nachmittags mit unseren Büchern und Zeitungen unter der Kastanie gesessen hätten. Ich schloß die Augen und fühlte die Sonnenwärme auf Gesicht und Armen. Maxim rief mich von drinnen. Ich ging ins Haus zurück und ließ mir von Frith in den Mantel helfen. Dann hörte ich wieder einen Wagen vorfahren. Es war Frank. «Oberst Julyan wartet schon am Parktor», sagte er. «Er wollte nicht erst hier herunterfahren.» «Schön», sagte Maxim. «Ich werde mich den ganzen Tag im Büro aufhalten, falls ein Anruf von euch kommt», sagte Frank. «Nach dem Besuch bei Baker werdet ihr mich vielleicht in London gebrauchen können.» «Ja», sagte Maxim, «das ist möglich.» «Es ist gerade neun», sagte Frank, «du bist ganz pünktlich. Und gutes Wetter habt ihr auch. Ihr werdet eine glatte Fahrt haben.» «Ja.» «Hoffentlich strengt es Sie nicht so sehr an, Mrs. de Winter», sagte Frank dann zu mir. «Sie haben einen langen Tag vor sich.» «Oh, das macht mir nichts», sagte ich. Ich sah auf Jasper herunter, der mit hängenden Ohren und seinen traurigen Spanielaugen vorwurfsvoll zu mir aufblickte. «Nehmen Sie bitte Jasper mit zu sich ins Büro», bat ich. «Er sieht so traurig aus.» «Ja, das werde ich gern tun.» «So, jetzt wollen wir aber starten», sagte Maxim, «sonst wird Julyan noch ungeduldig. Mach's gut, Frank.» Ich stieg in den Wagen und setzte mich neben Maxim. Frank schlug die Tür zu. «Du wirst mich doch bestimmt anrufen, nicht wahr?» sagte er. «Ja, natürlich», sagte Maxim. Ich blickte zum Haus zurück. Frith stand oben auf der Freitreppe und Robert ein paar Schritte hinter ihm. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich wandte mich ab und machte mir an meinen Schuhen zu schaffen, damit niemand es sähe. Dann startete Maxim den Wagen, wir bogen um die Kurve in die Anfahrt ein, und das Haus war nicht mehr zu sehen. Am Parktor hielten wir an, um Oberst Julyan aufzunehmen. Er stieg hinten ein. Als er mich erblickte, sagte er in bedenklichem Ton: «Wir haben einen langen Tag vor uns, ich weiß nicht, ob Sie sich dem hätten aussetzen sollen. Ich hätte schon auf Ihren Mann achtgegeben.» «Aber ich wollte gern mit», erwiderte ich. Er sagte nichts mehr dazu und machte es sich in seiner Ecke bequem. «Wenigstens haben wir gutes Wetter, das ist immerhin etwas», sagte er. «Ja», sagte Maxim. «Favell will uns an der Kreuzung treffen. Wenn er nicht schon da ist, warten wir aber nicht auf ihn. Wir kommen sehr viel besser ohne ihn aus. Hoffentlich hat sich dieser Kerl verschlafen!» Als wir jedoch die Kreuzung erreichten, sah ich schon von weitem den langen grünen Sportwagen, und mein Herz sank. Ich hatte auch gehofft, er würde nicht pünktlich sein. Favell saß hutlos am Steuer, eine Zigarette im Mund. Er grinste, als er uns kommen sah, und winkte uns, nicht anzuhalten. Ich rutschte tiefer auf meinem Sitz und legte die Hand auf Maxims Knie. Die Stunden verrannen; Meile nach Meile wurde zurückgelegt. Ich starrte wie in einer Art Betäubung auf die Landstraße. Oberst Julyan hinter uns schlief von Zeit zu Zeit ein. Ich drehte mich gelegentlich nach ihm um und sah ihn mit offenem Mund auf dem Polster ruhen. Der grüne Wagen hielt sich dicht in unserer Nähe; manchmal schoß er an uns vorbei, manchmal blieb er zurück, aber er blieb immer in Sicht. Um ein Uhr hielten wir an, um in einem dieser altmodischen Gasthäuser kleiner Provinzstädte zu Mittag zu essen. Oberst Julyan kämpfte sich durch das ganze Menü durch, fing mit Suppe und Fisch an und hörte mit Roastbeef und Yorkshirepud-ding auf. Maxim und ich nahmen nur etwas kalten Braten und eine Tasse Kaffee. Halb und halb hatte ich erwartet, Favell in den Speisesaal kommen und sich an unseren Tisch setzen zu sehen. Aber als wir wieder hinaustraten, erblickte ich seinen Wagen vor einem Cafe auf der anderen Straßenseite. Er mußte uns vom Fenster aus beobachtet haben, denn keine drei Minuten später kam er wieder an uns vorbeigesaust. Gegen drei erreichten wir die Vororte von London. Jetzt erst begann ich müde zu werden; der Lärm des Großstadtverkehrs machte mich schwindlig. Und es war heiß in London. Die Straßen flimmerten und glänzten in der Augusthitze, und die Blätter hingen matt von den Zweigen. Unser Unwetter gestern abend hatte sich offenbar nur örtlich ausgewirkt; hier war bestimmt kein Tropfen gefallen. Die Frauen gingen alle in dünnen Sommerkleidern, und die Männer trugen keine Hüte. Es roch nach Auspuffgasen und heißem Asphalt und Orangenschalen. Die Omnibusse rollten schwerfällig dahin, und die Taxis krochen förmlich. Mein Rock und meine Jacke scheuerten mich an Handgelenk und Knien, und meine Strümpfe klebten auf der Haut. Oberst Julyan setzte sich hoch und sah durchs Fenster. «Hier hat es offenbar nicht geregnet», sagte er. «Nein», sagte Maxim. «Könnten es hier aber auch gut gebrauchen.» «Ja.» «Wir haben Favell leider nicht abschütteln können. Er ist immer noch dicht hinter uns.» Auf den Geschäftsstraßen wimmelte es von Menschen. Müde Frauen mit schreienden Babies im Kinderwagen starrten in die Auslagen; Straßenhändler riefen ihre Waren aus; kleine Jungens hängten sich hinten an Lastwagen an. Der Lärm war unerträglich, und selbst die verbrauchte stickige Luft strömte Reizbarkeit aus. Die Fahrt durch London kam mir endlos vor, und als wir schließlich aus dem dicksten Gewühl heraus waren und Hampstead hinter uns lag, da dröhnte es in meinem Kopf unerträglich, und meine Augen brannten. Auch Maxim mußte müde sein. Er war sehr blaß, und unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. Aber er sagte nichts. Oberst Julyan gähnte ununterbrochen; er riß seinen Mund weit auf und gähnte laut, und hinterher seufzte er zufrieden. Das wiederholte sich alle paar Minuten. Ich spürte eine dumpfe Wut darüber in mir aufsteigen, und ich mußte alle Beherrschung zusammennehmen, um mich nicht umzudrehen und ihn anzuschreien. Hinter Hampstead zog er einen Straßenplan hervor und begann Maxim nach Barnet zu dirigieren. Der Weg war zwar gar nicht zu verfehlen, da an jeder Kreuzung Wegweiser standen, aber er ließ es sich trotzdem nicht nehmen, Maxim auf jede Abzweigung aufmerksam zu machen, und wenn Maxim doch einmal zögerte, dann kurbelte Oberst Julyan die Fensterscheibe herunter und zog bei den Passanten Erkundigungen ein. Und als wir Barnet erreicht hatten, mußte Maxim jeden Augenblick anhalten. «Können Sie mir vielleicht sagen, wo hier eine Villa Roseland ist? Sie gehört einem Doktor Baker, der erst kürzlich hergezogen ist», und der Befragte stand dann mit gerunzelter Stirn da, und daß er keine Ahnung hatte, war ihm deutlich vom Gesicht abzulesen. «Doktor Baker? Ich kenne hier keinen Doktor Baker. In der Nähe der Kirche gibt's ein Haus, das Rosenschlößchen heißt, dort wohnt allerdings eine Mrs. Wilson.» «Nein, wir suchen Roseland, Doktor Bakers Haus», sagte Oberst Julyan, und dann fuhren wir weiter und hielten diesmal vor einem Kindermädchen, das einen Sportwagen schob. «Können Sie uns sagen, wo hier eine Villa Roseland ist?» «Tut mir leid, ich bin hier auch fremd.» «Sie kennen nicht zufällig einen Doktor Baker?» «Doktor Davidson kenne ich.» «Nein, wir suchen einen Doktor Baker.» Ich blickte zu Maxim auf. Er sah sehr müde aus. Sein Mund bildete eine schmale harte Linie. Hinter uns kroch Favells grüner staubbedeckter Wagen. Schließlich zeigte uns ein Postbote den richtigen Weg. Ein quadratisches, efeuumranktes Haus ohne Namensschild, an dem wir schon zweimal vorübergefahren waren. Mechanisch öffnete ich meine Handtasche und puderte mir das Gesicht. Maxim hielt draußen am Rinnstein. Er fuhr nicht in die Garteneinfahrt hinein. Wir saßen eine Weile, ohne zu sprechen. «So, da wären wir also», sagte Oberst Julyan dann. «Und es ist jetzt genau zwölf Minuten nach fünf. Wir werden ihn gerade beim Tee überraschen. Vielleicht warten wir besser noch ein Weilchen.» Maxim zündete sich eine Zigarette an und streckte mir seine Hand hin. Aber er sprach nicht. Ich hörte Oberst Ju-lyan mit dem Straßenplan rascheln. «Wir hätten London gar nicht zu berühren brauchen», sagte er. «Das hätte uns gute vierzig Minuten eingespart. Die ersten zweihundert Meilen haben wir einen guten Durchschnitt gemacht, aber von Chiswick an wurden wir aufgehalten.» Ein Botenjunge radelte pfeifend vorüber. An der Ecke hielt ein Omnibus, und zwei Frauen stiegen aus. Irgendwo schlug eine Kirchenuhr die Viertelstunde. Favell in seinem Wagen hinter uns rauchte ebenfalls. Jede Empfindung war in mir abgestorben. Ich saß da und beobachtete diese unwichtigen kleinen Dinge. Die beiden Frauen gingen die Straße entlang. Der Botenjunge bog um die Ecke. Ein Spatz hüpfte vor dem Auto herum und pickte im Straßenschmutz. «Dieser Baker ist offenbar kein Gärtner», sagte Oberst Julyan. «Sehen Sie doch nur, wie er die Büsche über den Zaun wachsen läßt. Die hätten längst gekappt werden müssen.» Er faltete den Plan zusammen und steckte ihn in die Tasche. «Merkwürdig, sich ausgerechnet hier zur Ruhe zu setzen», fuhr er fort. «Unmittelbar an der Hauptstraße und noch dazu von den Nachbarhäusern eingezwängt. Mich könnte das nicht begeistern. Aber die Villa hat gewiß einmal eine schöne Lage gehabt, bevor die Neubauten sich dazwischendrängten. Zweifellos gibt's aber in der Nähe einen guten Golfplatz.» Er schwieg eine Weile, dann öffnete er die Tür und stieg aus. «So, de Winter, was meinen Sie, wollen wir jetzt hineingehen?» «Von mir aus gern», sagte Maxim. Wir stiegen alle aus. Favell schlenderte auf uns zu. «Worauf habt ihr denn gewartet? Daß das Herzklopfen sich beruhigt?» Niemand antwortete ihm. Wir gingen durch den Garten zur Haustür, eine bunte Gesellschaft. Hinter dem Haus entdeckte ich einen Tennisplatz und hörte den dumpfen Aufprall der Bälle. Eine Jungenstimme rief: «Vierzig fünfzehn, nicht dreißig beide. Erinnerst du alter Esel dich nicht mehr an den Ball, den du ausgeschlagen hast?» «Sie sind offenbar fertig mit Teetrinken», sagte Oberst Julyan. Er zögerte einen Augenblick, dann läutete er. Die Glocke schlug irgendwo in den hinteren Räumen an. Nach längerem Warten öffnete ein sehr junges Hausmädchen die Tür. Der Anblick so vieler Fremder schien sie etwas zu erschrecken. «Doktor Baker zu Hause?» fragte der Oberst. «Ja, Sir, kommen Sie bitte herein.» Sie führte uns durch die Diele in den Salon, der im Sommer anscheinend nicht oft benutzt wurde. Das Porträt einer sehr einfach aussehenden brünetten Frau hing an der Wand. Ich dachte, ob das wohl Mrs. Baker sei. Die Chintzbezüge auf den Sesseln und dem Sofa waren neu und glänzten. Auf dem Kaminsims standen die Photographien von zwei Schuljungen mit runden, lächelnden Gesichtern. In der Ecke am Fenster stand ein großer Radioapparat. Antennendraht und Verbindungsschnüre hingen an ihm herunter. Favell betrachtete das Porträt; Oberst Ju-lyan stellte sich vor den leeren Kamin. Maxim und ich sahen aus dem Fenster. Unter einem Baum entdeckte ich einen Liegestuhl, aus dem ein Frauenkopf emporschaute. Der Tennisplatz mußte auf der anderen Seite liegen. Ich hörte die Jungen einander zurufen. Ein alter Scotchterrier kratzte sich mühsam mitten auf dem Gartenweg. Wir warteten etwa fünf Minuten. Ich hatte mich noch nie so gefühlt, so stumpf und leer. Dann öffnete sich die Tür, und ein Mann trat ins Zimmer. Er war von mittlerer Größe, hatte ein ziemlich langes Gesicht und ein etwas hervorstehendes Kinn. Sein aschblondes Haar fing schon an, grau zu werden. Er trug weiße Tennishosen und eine blaue Sportjacke. «Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie habe warten lassen», sagte er, ebenso erstaunt wie das Hausmädchen beim Anblick der vielen Besucher. «Ich mußte mir nur schnell die Hände waschen, weil ich gerade Tennis spielte, als es klingelte. Bitte nehmen Sie doch Platz», sagte er zu mir. Ich setzte mich auf den nächsten Stuhl und wartete. «Sie werden sich vermutlich fragen, was dieser sonderbare Überfall soll, Doktor Baker», sagte Oberst Julyan. «Und ich bitte Sie herzlich für uns alle um Entschuldigung. Mein Name ist Julyan. Das ist Mr. de Winter, Mrs. de Winter und Mr. Favell. Sie haben vielleicht jüngst in der Zeitung den Namen de Winter gelesen?» «Oh!» sagte Doktor Baker. «Ja ja, ich erinnere mich. Irgendeine Gerichtsverhandlung, nicht wahr? Meine Frau hat den ganzen Fall verfolgt.» «Die Geschworenen nahmen Selbstmord an», sagte Fa-vell, vortretend, «und ich halte das für völlig ausgeschlossen. Die verstorbene Mrs. de Winter war meine Cousine, und ich kannte sie von Kind an. Sie wäre nie auf diesen Gedanken verfallen, und außerdem hatte sie auch gar keinen Beweggrund. Und von Ihnen möchten wir gern wissen, was sie ein paar Stunden bevor sie starb, bei Ihnen gesucht hat.» «Überlaß das bitte Oberst Julyan und mir», sagte Maxim ruhig. «Doktor Baker hat keine Ahnung, wovon du sprichst.» Er wandte sich an den Arzt, der mit gerunzelter Stirn dastand und dessen höfliches Lächeln, mit dem er uns begrüßt hatte, erstarrt war. «Der Vetter meiner verstorbenen Frau ist mit dem Gerichtsbefund nicht einverstanden», erklärte Maxim, «und wir sind deshalb hergefahren, weil wir Ihren Namen und die Adresse Ihrer früheren Praxis in ihrem Terminkalender gefunden haben. Sie hatte sich offenbar bei Ihnen angesagt und muß wohl auch um zwei Uhr bei Ihnen gewesen sein, da sie hinter Ihren Namen ein Kreuz gemacht hatte. Können Sie das wohl noch feststellen?» Doktor Baker hörte mit großem Interesse zu, aber als Maxim geendet hatte, schüttelte er den Kopf. «Es tut mir sehr leid», sagte er. «Aber ich fürchte, hier liegt ein Irrtum vor. Ich hätte bestimmt den Namen de Winter nicht ver-gessen, aber ich habe in meinem ganzen Leben keine Mrs. de Winter behandelt.» Oberst Julyan zog seine Brieftasche heraus und reichte ihm die Seite aus Rebeccas Notizbuch, die er herausgerissen hatte. «Hier steht es», sagte er. «Baker zwei Uhr. Und daneben ein großes Kreuz als Zeichen, daß diese Verabredung auch eingehalten wurde. Und hier steht Ihre Telephonnummer, Museum 0488.» Doktor Baker starrte nachdenklich auf das Blatt Papier. «Sehr eigenartig, wirklich sehr merkwürdig. Ja, die Nummer stimmt, Sie haben recht.» «Könnte sie Ihnen nicht einen falschen Namen angegeben haben?» fragte Oberst Julyan. «Doch ja, das ist natürlich möglich, das könnte sie getan haben. Es wäre allerdings etwas ungewöhnlich, und ich sehe so etwas auch nicht gern. Es schadet nur unserem Berufsstand, wenn so etwas einreißt.» «Sie haben doch bestimmt Ihre Eintragungen vom vorigen Jahr aufgehoben?» sagte Oberst Julyan. «Ich weiß, daß es gegen Ihre Schweigepflicht verstößt, aber es handelt sich hier um ganz besondere Umstände. Wir sind zu der Überzeugung gekommen, daß der Besuch der Verstorbenen bei Ihnen in irgendeinem Zusammenhang mit ihrem - Selbstmord stehen muß.» «Ermordung», sagte Favell. Doktor Baker blickte mit fragend gehobenen Augenbrauen auf Maxim. «Das konnte ich natürlich nicht ahnen, daß es sich um so etwas handeln würde», sagte er leise. «Selbstverständlich werde ich alles tun, was in meiner Macht steht, um Ihnen zu helfen. Wenn Sie mich für ein paar Minuten entschuldigen wollen, werde ich nach oben gehen und meine Bücher heraussuchen. Ich habe jeden Besuch notiert und eine kurze Charakteristik des Krankheits-bildes hinzugefügt. Bitte, bedienen Sie sich mit Zigaretten. Für einen Sherry ist es wohl noch etwas früh, nicht wahr?» Oberst Julyan und Maxim schüttelten den Kopf. Ich glaubte schon, Favell würde etwas sagen, aber Doktor Baker war bereits aus dem Zimmer. «Scheint ein ordentlicher Mann zu sein», bemerkte Oberst Julyan. «Er hätte uns auch einen Whisky Soda anbieten können», meinte Favell. «Den hält er wahrscheinlich hinter Schloß und Riegel. Mir hat er nicht sehr gefallen. Ich glaube nicht, daß er uns weiterhelfen wird.» Maxim sagte nichts. Ich hörte noch immer die Bälle auf dem Tennisplatz aufspringen. Der Terrier bellte, und eine Frauenstimme rief ihm zu, still zu sein. Sommerferien. Baker hat mit seinen Söhnen gespielt, und wir hatten sie gestört. Eine hell tönende goldene Uhr unter einem Glassturz tickte hastig auf dem Kamin. Daneben lehnte eine Ansichtskarte vom Genfer See. Die Bakers hatten also Freunde, die gerade in der Schweiz waren. Doktor Baker trat wieder mit einem großen Buch und einem Karteikasten ins Zimmer. Er stellte beides auf den Tisch. «Ich habe das ganze vorige Jahr mitgebracht», sagte er. «Ich hab's mir nicht wieder angesehen, seit ich umgezogen bin. Ich habe meine Praxis erst vor sechs Monaten aufgegeben, wie Sie ja wissen.» Er schlug das Buch auf und blätterte die Seiten um. Ich sah atemlos auf seine Hände. Natürlich würde er die Eintragung finden; es war nur noch eine Frage von Minuten, Sekunden. «Siebenten, achten, neunten», murmelte er, «nein, nichts, zwölften, sagten Sie? Um zwei Uhr? Aha!» Keiner von uns rührte sich. Wir sahen ihn alle an. «Am zwölften um zwei Uhr war eine Mrs. Danvers bei mir», sagte er. «Danny? Was in aller Welt ...» fing Favell an. Maxim unterbrach ihn. «Sie hat natürlich einen falschen Namen angegeben», sagte er. «Das war uns ja von vornherein klar. Erinnern Sie sich jetzt an den Besuch, Doktor?» Doktor Baker suchte bereits in der Kartei. Seine Finger durchblätterten die Abteilung D, und er fand die gesuchte Karte fast augenblicklich. Er überflog sie rasch. «Ja», sagte er dann, «ja, Mrs. Danvers. Jetzt erinnere ich mich genau.» «Groß, schlank, brünett und sehr schön?» fragte Oberst Julyan ruhig. «Ja», sagte Doktor Baker, «ja, das stimmt.» Er las die Aufzeichnungen auf der Karte durch und ordnete sie dann wieder ein. «Selbstverständlich verstößt es gegen unseren Berufskodex», sagte er zu Maxim. «Wir betrachten unsere Patienten als unsere Beichtkinder. Aber Ihre Frau ist tot, und die Umstände sind, wie Sie sagten, wirklich ganz außergewöhnlich. Sie wollen von mir wissen, ob ich Ihnen einen Grund angeben kann, weswegen Ihre Frau Selbstmord begangen haben könnte? Ich glaube, das kann ich. Die Frau, die sich mir gegenüber als Mrs. Danvers ausgab, war schwer krank.» Er hielt inne und sah uns der Reihe nach an. «Ich erinnere mich sehr gut an sie», sagte er und wandte sich wieder seinen Karteikarten zu. «Das erstemal war sie eine Woche vor dem bewußten Datum bei mir. Sie klagte über Schmerzen, die mich veranlaßten, sie zu röntgen. Zum zweitenmal kam sie, um das Ergebnis der Röntgenaufnahmen zu erfahren. Ich habe die Bilder nicht hier, aber ich habe die Diagnose niedergeschrieben. Ich erinnere mich, wie sie in meinem Sprechzimmer vor mir stand und die Hand nach den Aufnahmen ausstreckte. Wenn man nicht da ist, wird auch nicht über einen gesprochen, so ist die Welt nun einmal beschaffen.» Er zählte noch einmal seine Siebensachen. «Jetzt habe ich, glaube ich, alles: Plan, Brille, Stock und Mantel. Alles beisammen. Also gute Nacht Ihnen beiden! Muten Sie sich nicht mehr zu viel zu. Es ist ein anstrengender Tag gewesen.» Er ging durch die Gartenpforte und die Stufen zum Haus hinauf. Ich sah eine Frau aus dem Fenster gucken und ihm zuwinken und lächeln. Wir fuhren die Straße hinunter und bogen um die Ecke. Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und schloß die Augen. Jetzt, da wir wieder allein waren und die Spannung sich gelegt hatte, empfand ich ein fast unerträgliches Gefühl von Erleichterung. Es war, als ob ein schmerzhafter Abszeß geöffnet worden wäre. Maxim sprach nicht. Er legte nur seine freie Hand auf meine. Wir wanden uns durch den Verkehr hindurch, aber ich sah nichts davon. Ich hörte das Rattern der Omnibusse, das Hupen der Taxis, den ewigen, unermüdlichen Londoner Lärm, aber ich hatte keinen Teil daran. Ich ruhte an einem Ort aus, wo es kühl und still und ruhig war. Nichts konnte uns mehr berühren. Wir hatten unsere Krise überstanden. Als der Wagen hielt, öffnete ich die Augen wieder und setzte mich auf. Wir befanden uns vor einem der unzähligen kleinen Restaurants in den schmalen Straßen von Soho. Verwirrt und benommen sah ich mich um. «Du bist müde», sagte Maxim kurz, «hungrig und müde, völlig erledigt. Du wirst dich gleich besser fühlen, wenn du etwas gegessen hast. Ich auch. Komm, wir wollen hier hineingehen und etwas zu Essen bestellen. Ich kann dann auch gleich Frank anrufen.» Wir stiegen aus dem Wagen. Im Restaurant befanden sich nur der Geschäftsführer, ein Kellner und die Kassiere-rin. Es war kühl und dunkel dort. Wir wählten den Tisch rechts in der Ecke, und Maxim bestellte das Essen. «Favell hat recht gehabt. Ich könnte auch etwas zu trinken vertragen, und du nicht weniger. Du wirst einen Cognac bekommen.» Der Geschäftsführer war dick und lächelte übers ganze Gesicht. Er stellte uns Salzstengel auf den Tisch. Sie waren frisch und knusprig, und ich machte mich gleich mit einem wahren Wolfshunger darüber her. Mein Cognac schmeckte sanft und wärmte und beruhigte mich. «Nach dem Essen wollen wir ganz langsam fahren», sagte Maxim. «Abends wird es dann auch kühler sein. Wir werden schon irgendein Gasthaus finden, in dem wir übernachten können. Dann fahren wir früh morgens weiter nach Manderley.» «Ja», sagte ich. «Du wolltest doch nicht etwa bei Julyans Schwester essen und dann den letzten Zug von Paddington nehmen?» «Nein.» Maxim trank sein Glas aus. Seine Augen waren unnatürlich groß, und tiefe Schatten lagen darunter. «Wie weit, glaubst du, hat Oberst Julyan die Wahrheit erraten?» fragte er. Ich beobachtete ihn, ohne zu antworten, über den Rand meines erhobenen Glases hinweg. «Er wußte alles», sagte Maxim langsam. «Natürlich wußte er alles.» «Wenn er es wirklich weiß», sagte ich, «dann wird er sich nie etwas anmerken lassen, niemals.» «Nein», sagte Maxim, «das wird er nicht.» Er bestellte sich noch einen Whisky, und wir saßen schweigend und zufrieden in unserer dunklen Ecke. «Ich glaube», sagte Maxim, «daß Rebecca mich mit voller Absicht angelogen hat. Ihr letzter, großartiger Bluff. Sie wollte, daß ich sie tötete. Sie hat alles vorausgesehen. Deshalb lachte sie auch, als ich auf sie schoß.» Ich sagte nichts. Ich nippte ruhig an meinem Cognac. Das war alles vorbei und erledigt. Das interessierte mich nicht mehr. Maxim hatte gar keinen Grund, so bleich und besorgt auszusehen. «Es war ihr letzter Streich», fuhr Maxim fort, «und ihr bester. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob sie nicht am Ende doch noch triumphiert.» «Wie meinst du das? Inwiefern könnte sie noch triumphieren?» «Ich weiß nicht», sagte er, «ich weiß es noch nicht.» Er stürzte auch seinen zweiten Whisky hinunter. Dann stand er auf. «Ich werde jetzt Frank anrufen», sagte er. Ich saß dort in meiner Ecke, und bald brachte der Kellner mir das Fischgericht. Hummer. Sehr heiß und gut. Ich bestellte mir ebenfalls einen zweiten Drink. Es war angenehm und gemütlich, dort zu sitzen und zu wissen, daß man keine Sorgen mehr zu haben brauchte. Ich lächelte dem Kellner freundlich zu und bat aus Übermut auf französisch noch um etwas Brot. Wie friedlich und behaglich es doch im Restaurant war. Maxim und ich waren zusammen. Alles war überstanden und geklärt. Rebecca war tot und konnte uns nichts mehr antun. Sie hatte ihren letzten Streich gespielt, wie Maxim gesagt hatte. Jetzt konnte sie keinen Schaden mehr anrichten. Nach etwa zehn Minuten kam Maxim wieder zurück. «Nun», fragte ich, und meine Stimme klang mir selbst ganz fern, «wie sieht's bei Frank aus?» «Bei Frank ist soweit alles in Ordnung», antwortete Maxim. «Er war noch im Büro, wo er seit vier Uhr auf unse-ren Anruf gewartet hat. Ich erzählte ihm, wie unser Besuch verlaufen ist, und er schien sich darüber zu freuen.» «Ja, das glaube ich wohl.» «Aber etwas Merkwürdiges ist passiert», sagte Maxim nachdenklich mit gerunzelter Stirn. «Er sagte, er glaube, Mrs. Danvers habe sich aus dem Staub gemacht. Auf jeden Fall ist sie verschwunden. Sie hat niemandem etwas gesagt, aber sie muß schon den ganzen Tag über ihre Sachen gepackt haben, und die Bahnhofsdroschke holte ihr Gepäck um vier Uhr ab. Frith rief Frank deswegen an, und Frank sagte Frith, er solle ihm Mrs. Danvers ins Büro schicken. Er wartete, aber sie kam einfach nicht. Jetzt eben, kurz bevor ich anrief, telephonierte Frith wieder zu Frank hinüber, um ihm zu sagen, er habe eben ein Ferngespräch für Mrs. Danvers in ihr Zimmer umgelegt, und sie habe geantwortet. Es muß so gegen zehn nach sechs gewesen sein. Um Viertel vor sieben klopfte Frank bei ihr an, aber ihre beiden Zimmer waren leer. Sie suchten nach ihr, konnten sie aber nirgends finden. Sie muß also einfach aus dem Haus und durch den Wald gegangen sein. Am Pförtnerhäuschen ist sie nicht vorbeigekommen.» «Aber das ist doch eigentlich großartig», sagte ich. «Das erspart uns eine Menge Ärger. Wir hätten sie ja doch entlassen müssen. Ich glaube, sie hat auch etwas vermutet. Es lag so etwas in ihrem Gesicht gestern abend. Ich mußte auf der Fahrt nach London immer wieder daran denken.» «Das gefällt mir nicht», sagte Maxim, «das gefällt mir nicht.» «Sie kann ja doch nichts mehr tun», versuchte ich ihn zu beruhigen. «Wenn sie wirklich gegangen ist, um so besser. Der Anruf war natürlich von Favell. Er hat ihr sicher über Baker Bericht erstattet und ihr gesagt, was Oberst Julyan zu ihm gesagt hat. Oberst Julyan sagte doch, wir sollten es ihn gleich wissen lassen, wenn wir noch einmal einem Erpressungsversuch ausgesetzt würden. Sie werden es nicht wagen. Es ist zu gefährlich für sie.» «An Erpressung denke ich jetzt gar nicht», sagte Maxim. «Was könnten sie denn sonst tun? Wir müssen tun, wie Oberst Julyan uns riet. Wir müssen das alles vergessen. Wir dürfen wirklich nicht mehr daran denken. Das ist jetzt alles vorbei, Liebster. Wir müssen Gott auf den Knien dafür danken.» Maxim antwortete nicht. Er starrte vor sich hin ins Leere. «Dein Hummer wird kalt, Liebster», sagte ich. «Iß doch etwas. Es wird dir guttun, du hattest doch Hunger. Du bist müde.» Ich benutzte dieselben Worte, die er zu mir gesagt hatte. Ich fühlte mich bereits kräftiger und wohler. Jetzt war ich es, die für ihn sorgen mußte. Er sah so schrecklich müde und blaß aus. Ich hatte meine Schwäche und Erschöpfung überwunden, aber jetzt setzte die Reaktion bei ihm ein. Das kam nur daher, weil er so hungrig und müde war. Sonst lag doch gar kein Grund vor, sich zu beunruhigen. Mrs. Danvers war also weg. Auch dafür mußten wir Gott danken. Alles war plötzlich so sehr einfach geworden. «Iß doch deinen Hummer», sagte ich. In Zukunft würde alles ganz anders werden. Ich würde mich nicht mehr von den Dienstboten einschüchtern und irritieren lassen. Nachdem Mrs. Danvers jetzt nicht mehr da war, würde ich die Führung des Haushalts selbst übernehmen. Ich würde selbst mit der Köchin in der Küche sprechen. Das Personal würde Respekt vor mir haben und mich auch lieben. Bald würde Mrs. Danvers ganz vergessen sein. Wir würden viel Hausbesuch haben, und mir würde es Spaß machen, die Gästezimmer herzurichten, Blumen und Bücher hinzustellen und für das Essen zu sorgen. Und Kinder würden wir haben, natürlich würden wir Kinder haben ... «Bist du fertig?» unterbrach Maxim plötzlich meinen Gedankengang. «Ich glaube, ich habe genug. Nur noch Kaffee, schwarz bitte und sehr stark. Und dann die Rechnung», fügte er zum Kellner gewandt hinzu. Ich verstand nicht, warum er so schnell aufbrechen wollte. Es saß sich doch hier so gemütlich, und es lag doch gar kein Grund zur Eile vor. Ich fühlte mich auf meinem Sofa sehr wohl, wo ich mich, den Kopf an das Polster gelehnt, ungestört meiner Zukunftsträumerei hingeben konnte. Ich wäre gern noch eine ganze Zeit sitzen geblieben. Gähnend und etwas unsicher auf den Beinen, folgte ich Maxim hinaus. «Hör mal», sagte er auf der Straße, «glaubst du, daß du im Wagen schlafen könntest, wenn ich dich ordentlich in die Decke einwickle und dich auf den hinteren Sitz bette? Ein Kissen haben wir ja auch, und meinen Mantel kannst du ebenfalls haben.» «Ich dachte, wir wollten irgendwo unterwegs übernachten?» erwiderte ich erstaunt. «In einem von diesen netten kleinen Dorfgasthäusern?» «Ja», sagte er, «aber ich habe plötzlich das Gefühl, ich müßte heute nacht noch zurückfahren. Könntest du nicht versuchen, es dir im Wagen bequem zu machen?» «Doch», sagte ich mit zweifelnder Miene, «doch natürlich.» «Jetzt ist es Viertel vor acht. Wenn wir gleich losfahren, müßten wir gegen halb drei ankommen. Zu dieser Zeit ist ja nicht viel Verkehr auf den Straßen.» «Aber du bist doch auch müde», warf ich ein. «Es wird dir bestimmt zuviel werden.» «Nein.» Er schüttelte den Kopf. «Ich bin ganz frisch. Ich will nach Manderley. Ich weiß, daß da irgend etwas nicht in Ordnung ist. Ich will schleunigst zurück.» Sein Gesicht sah merkwürdig besorgt aus. Er öffnete die Wagentür und machte mir auf dem hinteren Sitz ein Lager zurecht. «Aber was soll denn schon sein?» fragte ich, «ich verstehe dich gar nicht, warum machst du dir jetzt noch Sorgen, nachdem alles vorüber ist?» Er antwortete nicht. Ich stieg ein und legte mich auf den Sitz. Er deckte mich mit dem Plaid zu. Es war sehr bequem, viel besser, als ich es mir vorgestellt hatte, und ich schob mir das Kissen unter den Kopf. «Wie geht es?» fragte er. «Macht es dir bestimmt nichts aus?» «Nein, nein», sagte ich lächelnd. «Ich liege hier fein, ich werde gleich einschlafen. Jetzt möchte ich gar nicht mehr irgendwo übernachten. Ich will auch viel lieber nach Hause. Wir werden noch vor Sonnenaufgang in Manderley sein.» Er setzte sich ans Steuer und ließ den Motor an. Ich schloß die Augen. Der Wagen fuhr an, und ich spürte das leichte Wiegen der Federn unter mir. Ich drückte mein Gesicht auf das Kissen. Der Wagen bewegte sich in einem gleichmäßigen Rhythmus vorwärts, und meine Gedanken stimmten allmählich in diesen Rhythmus ein. Hunderte von Bildern zogen an meinen geschlossenen Augen vorüber; alles mögliche, was ich gesehen, erlebt und auch, was ich bereits vergessen hatte, formte sich zu einem wirren bunten Muster. Die Feder an Mrs. Van Hoppers Hut, die harten steiflehnigen Stühle in Franks Eßzimmer, das offene Fenster im Flur des Westflügels, die erdbeerfarbene Dame auf dem Kostümball, das Bauernmädchen auf der Landstraße bei Monte Carlo. Manchmal sah ich Jasper auf dem Rasen hinter Schmetterlingen herjagen, manchmal Doktor Bakers Scotchterrier sich neben dem Liegestuhl das Fell kratzen. Der Postbote, der uns heute den Weg gezeigt hatte, tauchte wieder auf, und Clarices Mutter, die in ihrer guten Stube mit ihrer Schürze einen Stuhl für mich abwischte. Ben reichte mir lächelnd eine Handvoll Muscheln, und die Frau des Bischofs bat mich, doch zum Tee dazubleiben. Ich fühlte die saubere Kühle meines frisch bezogenen Bettes und den knirschenden Kies des Strandes unter meinen Füßen. Ich roch das Farnkraut im Wald, das feuchte Moos und die welken Azaleenblüten. Ich fiel in einen Halbschlaf, aus dem ich dann und wann erwachte, um mich in meiner verkrampften Stellung hinter Maxims Rücken wiederzufinden. Die Dämmerung war der Nacht gewichen. Lichter entgegenkommender Wagen leuchteten auf und verschwanden. Dörfer sausten an uns vorbei, und ich sah das Licht hinter den Vorhängen hervorschimmern. Und dann streckte ich mich und drehte mich auf den Rücken und schlief wieder ein. Ich sah die Treppe von Manderley und Mrs. Danvers in ihrem schwarzen Kleid oben stehen und auf mich warten. Wie ich die Stufen emporstieg, wich sie in die Galerie zurück und verschwand. Und ich suchte sie und konnte sie nicht finden. Plötzlich blickte ihr Gesicht mich aus einer dunklen Türöffnung an, und ich schrie laut auf, und da verschwand sie wieder. «Wie spät ist es?» rief ich Maxim zu. Er drehte mir sein in der Dunkelheit gespenstisch blaß wirkendes Gesicht zu. «Halb zwölf», sagte er. «Wir haben schon über die Hälfte hinter uns. Versuch noch einmal einzuschlafen.» «Ich habe Durst», sagte ich. Im nächsten Dorf hielt er an. Der Garagenbesitzer sagte, seine Frau sei noch nicht zu Bett gegangen und würde uns gern etwas Tee machen. Wir stiegen aus und gingen in die Garage hinein. Ich ging stampfend auf und ab, um mein erstarrtes Blut wieder in Bewegung zu bringen. Maxim rauchte. Es war sehr kalt. Ein eisiger Wind pfiff durch die Tür und zerrte an dem Wellblechdach. Mich fröstelte, und ich knöpfte mir den Mantel zu. «Ja, es ist frisch heute abend», sagte der Mann, während er die Benzinpumpe betätigte. «Das Wetter ist heute nachmittag umgeschlagen. Dieses Jahr werden wir wohl kaum noch eine Hitzewelle erleben. Wir werden bald daran denken müssen zu heizen.» «In London war es noch sehr heiß», sagte ich. «So?» sagte er. «Dort haben sie ja immer die größten Gegensätze. Und das schlechte Wetter kommt immer von unserer Seite. An der Küste wird es schon stürmen.» Seine Frau brachte uns den Tee. Er schmeckte wie bitteres Holz, aber er war heiß. Ich trank ihn in gierigen Schlucken. Maxim sah bereits wieder auf die Uhr. «Wir müssen weiter», sagte er. «Es ist zehn vor zwölf.» Ich verließ die schützende Garage nur sehr ungern. Der kalte Wind blies mir ins Gesicht. Die Wolken jagten einander über den Himmel. Wir stiegen ein, und ich kuschelte mich wieder unter meine Decke. Wir fuhren weiter. Ich schloß die Augen. Da war der Leierkastenmann mit seinem Holzbein, und ich summte «Die letzte Rose» im Takt des federnden Wagens. Frith und Robert deckten den Teetisch in der Bibliothek. Die Pförtnersfrau nickte mir kurz zu und rief ihren Jungen. Ich sah die Schiffsmodelle im Bootshaus und den hauchdünnen Staub. Ich sah die Spinnweben in den kleinen Masten. Ich hörte den Regen auf das Dach trommeln und das Meer rauschen. Ich wollte ins Glückliche Tal gehen, aber es war nicht mehr da. Der Wald stand finster um mich herum, aber das Tal war nicht mehr da. Nur dunkle Bäume und hellgrüner Farn. Die Eulen schrien. Der Mond spiegelte sich in den Fenstern von Manderley, im Garten wucherten die Nesseln, zehn, zwanzig Fuß hoch. «Maxim!» rief ich, «Maxim!» «Ja», sagte er, «schlaf nur, ich bin hier.» «Ich habe geträumt», sagte ich. «Was denn?» fragte er. «Ich weiß nicht mehr.» Und wieder versank ich in die unruhige Tiefe meines Bewußtseins. Ich schrieb im Morgenzimmer, ich schickte Einladungen aus. Ich schrieb sie alle selbst mit einem großen schwarzen Federhalter. Aber als ich das betrachtete, was ich geschrieben hatte, da war es nicht meine kleine eckige Handschrift, es waren lange schräge, merkwürdig geschwungene Schriftzüge. Ich schob die Karten fort und versteckte sie. Ich erhob mich und trat vor den Spiegel, aber das Gesicht, das mir entgegenblickte, war nicht das meine. Es war sehr blaß und sehr schön, und eine Wolke dunklen Haares umgab es. Die Augen zogen sich zu einem Lächeln zusammen, die Lippen öffneten sich. Das Gesicht im Spiegel starrte mich spöttisch an und lachte. Und dann sah ich, daß sie auf dem Stuhl vor ihrem Frisiertisch saß, und Maxim bürstete ihr das Haar. Er hielt die Haare in der Hand, und während er sie bürstete, flocht er sie zu einem langen dicken Seil. Es wand sich wie eine Schlange, und er ergriff es mit beiden Händen, lächelte auf Rebecca hinab und legte es sich um den Hals. «Nein», schrie ich. «Nein! Wir müssen in die Schweiz fahren. Oberst Julyan hat gesagt, wir müssen in die Schweiz fahren.» Ich fühlte Maxims Hand auf meinem Gesicht. «Was ist denn?» sagte er. «Was hast du denn?» Ich setzte mich auf und strich mir das Haar aus der Stirn. «Ich kann nicht schlafen», sagte ich. «Du hast geschlafen», sagte er. «Zwei gute Stunden. Es ist Viertel nach zwei. Wir haben noch vier Meilen bis Lanyon.» Es war noch kälter als vorher. Mich fröstelte. «Ich werde mich wieder nach vorn neben dich setzen», sagte ich. «Um drei sind wir ja schon zu Hause.» Ich kletterte hinüber und setzte mich neben ihn und starrte vor mich durch die Windschutzscheibe. Ich legte meine Hand wieder auf sein Knie. Meine Zähne klapperten vor Kälte. «Du frierst», sagte er. «Ja», sagte ich. Die Hügel ragten vor uns auf, versanken wieder und erhoben sich aufs neue. Es war eine pechschwarze Nacht, die Sterne waren verschwunden. «Wie spät ist es, sagtest du?» «Zwanzig nach zwei», sagte Maxim. «Merkwürdig», sagte ich. «Fast könnte man glauben, daß es dort hinten, jenseits der Hügelkette, schon dämmert. Aber das ist doch nicht möglich, es ist doch noch viel zu früh!» «Du siehst in die falsche Richtung», sagte er, «dort ist Westen.» «Ja, ich weiß», sagte ich. «Komisch, nicht wahr?» Er antwortete nicht, und ich starrte zum Horizont hinüber. Vor meinen Augen schien es dort drüben immer heller zu werden. Wie die ersten rötlichen Strahlen des Sonnenaufgangs breitete sich der Lichtschein allmählich über den Himmel aus. «Nordlicht sieht man doch nur im Winter, nicht wahr?» fragte ich. «Oder im Sommer auch?» «Das ist kein Nordlicht», sagte er. «Das ist Manderley.» Ich sah ihn entsetzt an, sein Gesicht, seine Augen. «Maxim!» rief ich, «Maxim, was ist das?» Er fuhr immer schneller. Wir waren jetzt oben auf dem Hügel und sahen Lanyon unter uns liegen. Dort zur Linken zog sich das Silberband des Flusses hin, das sich nach Kerrith zu verbreiterte. Der Weg nach Manderley lag vor uns. Der Himmel über uns war tiefschwarz wie Tinte. Aber am Horizont war der Himmel gar nicht dunkel. Rote Strahlen zuckten an ihm empor wie Blutspritzer, und der salzige Seewind trieb uns die Asche entgegen.